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Am 16.März starb Peter von Oertzen.
Er hatte den ihm eigenen Biss nicht
verloren, als ihn der Stern-Redakteur Mitte 2005 im Pflegeheim in Hannover besuchte, um der Frage
nachzugehen: „Was macht eigentlich Peter von Oertzen?” Das damals aufgenommene und
veröffentlichte Foto zeigt ihn als einen abgemagerten 80-Jährigen mit Achtung erheischendem
Mecki-Haarschnitt und einem aufrecht trotzigen Blick, der einen nicht loslässt vor allem nicht,
wenn man weiß, wie er in den letzten Jahren darunter gelitten hat, dass der Körper einfach nicht
mehr so wollte, wie der Kopf noch konnte.
Was der seit 2003 ans Bett gefesselte
Oertzen Freunden nur noch in Form von Telefonaten und bei den noch selteneren Besuchen zu sagen hatte,
davon ist ein kleiner Teil auch in das kurze Gespräch mit dem Stern-Journalisten eingeflossen, der ihn
fragte, warum er denn nach fast 60 Jahren aus der SPD ausgetreten und in die gerade neu entstandene WASG
eingetreten sei: „Das musste einfach sein. Ich ging ohne Groll. Ich weiß ja, was für eine
Partei die SPD ist ... Ich kenne meine Ex-Genossen."
In der Tat kann ihm diese Kenntnis nicht
abgesprochen werden, und es ist keine kritische Geschichte der Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg
denkbar, die nicht auch auf sein Wirken eingehen würde. Am 2.September 1924 in Berlin in ein altes
mecklenburgisches Adelsgeschlecht geboren, gehörte von Oertzen zu jenen Kindern aus sozial-
konservativem Elternhaus, die durch die Kriegserfahrung in faschistischer Zeit gründlich
desillusioniert und so in ihrer geistigen Neuorientierung nach ganz links getrieben wurden.
Der sich origineller Weise an Max Adler,
Georg Lukács und Erich Gerlach schulende junge Geist suchte zwischen den aufziehenden Fronten des
Kalten Krieges zu Beginn der 50er Jahre auch praktisch-politisch einen dritten Weg jenseits von
realsozialistischem Politbürokratismus und realkapitalistischem Antisozialismus. Wohl wissend, dass
einzig die klassenpolitische Selbsttätigkeit der lohnarbeitenden Klasse die Wege nach Utopia zu
öffnen vermag, dieser Weg jedoch andererseits kein automatisch sich durchsetzender, kein
zwangsläufig vorherbestimmter ist, setzte er auf politische Lernprozesse dort, wo sich die real
existierende Arbeiterklasse in Westdeutschland politisch wieder fand, in der Sozialdemokratie.
Seitdem war sein Lebensweg mit dieser
Partei verbunden ob als linkssozialistischer „Entrist” und
südniedersächsischer Landtagsabgeordneter in den 50er Jahren, oder als einer der wenigen aktiven
Gegner der sozialdemokratischen Wende von Bad Godesberg 1959; ob als Herausgeber der sog. Arbeitshefte in
den 60ern, mit denen er die letzten Reste der nicht ausgeschlossenen linken Sozialdemokratie und die linke
Gewerkschaftsszene um Otto Brenner zusammenbrachte, oder als erneuter niedersächsischer
Landtagsabgeordneter und nun auch Kultusminister in den 70ern; ob als Mitglied des SPD-Bundesvorstandes und
Führungsfigur der sozialdemokratischen Grundsatzkommission in den 70ern und 80ern oder
schließlich als vehementer Kritiker der Entsozialdemokratisierung unter Gerhard Schröder in den
90er Jahren.
Auch wenn er letzteren schon rein habituell
nicht leiden konnte „Schröder tickt ganz einfach, er will von den feinen, den reichen,
den mächtigen Leuten anerkannt werden. Er ist ein aufstiegssüchtiger Plebejer voll schrecklicher
Minderwertigkeitskomplexe”, so von Oertzen im Stern , so war die Kritik an der neuesten
Entwicklung der Sozialdemokratie alles andere als persönlicher Natur: „Das Projekt
Sozialdemokratie ist nun beendet. Man kann nicht gleichzeitig Gott dienen und dem Mammon."
Wer es ausführlicher und politisch-
theoretischer mag, konnte von Oertzens Kritik seit Ende der 90er Jahre in Zeitschriften wie Sozialismus
oder der SoZ lesen.
Politisch bewegte sich der seit Anfang der
80er Jahre erneut als Professor für Politische Wissenschaften in Hannover Lehrende nun wieder in jenen
linken Kleinzirkeln, die auch er selbst immer für etwas „sektiererisch” gehalten hatte.
Aber er wusste eben auch, dass in manchen historischen Konjunkturen einer aufrechten Linken nicht viel
anderes übrig bleibt.
Sein langjähriges Engagement für
die Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftler ist hier ebenso zu nennen wie seine Unterstützung
der kurzlebigen Freunde der Europäischen Antikapitalistischen Linken oder, zum Schluss, seine
Unterstützung des WASG-Bildungsvereins SALZ (Soziales, Arbeit, Leben, Zukunft) und der Internationalen
Sozialistischen Linken (ISL).
Wer darin einen Widerspruch zu erkennen
meint, irrt, denn was den sozialdemokratischen Parteipolitiker und renommierten Wissenschaftler mit dem
wohlwollenden Unterstützer kleiner revolutionärer Sekten verband, war sein in Deutschland
seltenes Selbstverständnis eines revolutionären Reformisten. Peter von Oertzen sah im
demokratischen Rechtsstaat den Möglichkeitsrahmen für einen sozialistischen Reformismus in
radikal-demokratischer Tradition. Erfolg konnte ihm ein solcher radikaler Reformismus jedoch nur haben,
wenn er auch strukturell offen ist für einen radikal-linken Flügel, d.h. für Anarchisten,
Syndikalisten, Trotzkisten und andere extreme Linke.
Einzig die moskautreuen Stalinisten nahm er
aus diesem breiten Spektrum einer pluralen antagonistischen Linken aus radikalen Demokraten,
unabhängigen Sozialisten und kritischen Kommunisten explizit aus. „Es waren Todfeinde”, so
von Oertzen in einem seiner letzten biografischen Gespräche über die Stalinisten als Vertreter
einer politisch und sozial abgehobenen, repressiven und fortschrittsfeindlichen Kaste, „es waren
Leute, die uns einsperren würden, wenn sie uns kriegten”
Dass er aus dieser Haltung heraus auch
falsch gehandelt hat, dessen war er sich freimütig bewusst: Seine anfängliche Unterstützung
der Berufsverbotspraxis gegen die Mitglieder der DKP zu Beginn der 70er Jahre nannte er später
explizit „eine Phase, derer ich mich heute noch schäme” nicht zuletzt, weil
„nur tatsächliches Verhalten einen Menschen aus der Gemeinschaft des Demokratischen, des Demos
ausschließen darf. Nicht der Gedanke”
Es war diese leidenschaftliche Betonung des
demokratischen Moments im Sozialistischen, die von Oertzen nicht nur zum versierten und unbarmherzigen
Kritiker jeder Form linker erziehungsdiktatorischer Konzepte werden ließ, sondern ihn auch als
politischen Wissenschaftler auszeichnete die 2004 im Hannoveraner Offizin-Verlag unter dem
programmatischen Titel Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft aufgelegte Auswahl
seiner Schriften legt hiervon beredtes Zeugnis ab.
"Der Sozialismus”, ist dort zu
lesen, „muss mehr persönliche Freiheit und mehr demokratische Teilhabe (aber auch mehr Wohlstand
und mehr Lebensqualität) schaffen als der Kapitalismus nicht weniger. Sonst ist er das Papier
nicht wert, auf das seine Proklamationen geschrieben sind."
Gegen die linken Wendehälse, die sich
in seinen Augen an Marx dafür rächten, dass sie ihn nie verstanden haben, hielt er fest an der
sozialistischen Zielvision einer solidarischen, von Ausbeutung, Unterdrückung und Unmündigkeit
befreiten Gesellschaft, zu deren Erreichung es selbstverständlich „nötig (ist), die
bürgerlich-kapitalistischen Eigentums- und Herrschaftsformen zu sprengen” Über die Wege
dorthin mag und muss man streiten auch mit ihm selbst übrigens, der alles andere als
überheblich oder arrogant gewesen ist. Der Weg war ihm das Ziel, ein Weg allerdings, der das Ziel
unauflöslich in sich selbst aufzunehmen hat.
In den frühen Stunden des 16.März
2008 ist Peter von Oertzen gestorben aufrecht, wie sonst?
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