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In der Vergangenheit hat die türkische Armee schon mehrmals die Grenze
zum Irak überschritten. Diesmal hatte ihre Militäroperation jedoch eine neue Qualität.
Unter Berufung auf das
„Selbstverteidigungsrecht gegenüber Terroristen” ermächtigte das türkische
Parlament am 17.10.2007 die Regierung, militärisch im Nordirak einzugreifen. Die türkische
Regierung erhielt dafür für den Zeitraum eines Jahres völlige Handlungsfreiheit. Ziel der
Militärintervention sollte die Zerschlagung der PKK-Stellungen im Nordirak sein.
Die Intervention wurde von der US-Besatzung
im Irak nicht nur gebilligt, sondern auch direkt unterstützt. Die USA haben eng mit der
türkischen Regierung zusammengearbeitet. Schon beim Besuch des türkischen Premierministers
Erdogan bei US-Präsident Bush im November letzten Jahres wurde die PKK in einer
Abschlusserklärung zum „gemeinsamen Feind” von USA und Türkei erklärt, deren
Bekämpfung als Teil des weltweiten „Antiterrorkampfs” eingestuft. Mit diesem
„Gütesiegel” konnte die Türkei trotz ihres völkerrechtswidrigen Vorgehens davon
ausgehen, dass sie dafür nicht international verurteilt würde. Vom US-Geheimdienst, der
dafür Satellitenfotos auswertete, bekam die türkische Armee in der Folgezeit Informationen
über Stützpunkte der PKK-Guerilla geliefert, um gezielte Luftangriffe zu ermöglichen.
Vor Ort übten die USA massiven Druck
auf ihre kurdischen Bündnispartner, die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und die Patriotische
Union Kurdistans (PUK) aus sie sollten bei der Bekämpfung der PKK kooperieren und deren
Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten innerhalb der kurdischen Autonomiezone einschränken. Nur so
könne eine Militärintervention der Türkei längerfristig verhindert werden.
Die Bevölkerung sah im Angriff der
türkischen Armee vor allem eine gezielte Destabilisierung der kurdischen Autonomiezone. Durch die
Bombenangriffe wurden Hunderte von Menschen vertrieben, Dörfer und die Infrastruktur im Grenzgebiet
auf irakischer Seite zerstört. Mit Menschenketten und Sitzstreiks blockierten Ortsansässige das
Vorwärtskommen der türkischen Panzer. Es gab erste Meldungen, Peshmerga-Gruppen hätten sich
der PKK-Guerilla angeschlossen.
Der Druck der Bevölkerung auf die
Führung von KDP und PUK, endlich gegen den türkischen Vormarsch vorzugehen, wurde zu groß.
Die kurdische Bevölkerung im Nordirak betrachtet die Guerilleros von der PKK nicht als Terroristen,
sondern als Freiheitskämpfer, und ihren Kampf um die Rechte der kurdischen Bevölkerung in der
Türkei als legitim. An der Basis genießt die Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf
immer noch Vorrang vor taktischen Absprachen zwischen US-Besatzern und der eigenen kurdischen
Regionalregierung.
Vor diesem Hintergrund forderten die USA
die Türkei bereits wenige Tage nach Beginn der türkischen Bodenoffensive auf, diese umgehend zu
beenden. Die irakische Regierung und das kurdische Regionalparlament hatten zuvor mit einiger zeitlicher
Verzögerung die Grenzüberschreitung verbal verurteilt und die türkische Armee zum
Rückzug aufgefordert. Demonstranten in mehreren Städten der Autonomiezone hatten die kurdische
Regionalregierung zum Schutz der Bevölkerung im Grenzgebiet aufgefordert.
Fünf Jahre nach der Invasion im Irak ist das Land nach wie vor nicht befriedet im Sinne der US-
Regierung. Die katastrophale Sicherheitslage ist immer noch das größte Hindernis für die
Realisierung der vor allem von US-amerikanischen Unternehmen erhofften Gewinne aus dem
Wiederaufbaugeschäft, der Entstaatlichung der irakischen Wirtschaft, des öffentlichen
Dienstleistungssektors und vor allem des Ölsektors. Steigende Gewinne verzeichnen nur die
Industriezweige, die an der Fortdauer des Krieges verdienen: die Rüstungsindustrie und private
Sicherheitsfirmen. Die finanziellen und personellen Kosten des Krieges werden jedoch immer mehr auch zu
einem Stabilitätsrisiko an der Heimatfront.
Die US-Besatzer sind mehr denn je darauf
angewiesen, dass es im Nordirak vergleichsweise ruhig bleibt, keine zusätzliche militärische
Front entsteht und die von ihnen unterstützte Ordnungsmacht, bestehend aus KDP und PUK, die eng
gesetzten Grenzen des Autonomiestatus beachtet und gleichzeitig die notwendige Disziplinierungskraft
gegenüber der eigenen Bevölkerung beibehält.
Die US-Armee kann bei der Bekämpfung
des Widerstands auch nicht auf die militärische Unterstützung der kurdischen Peshmerga-Einheiten
verzichten, die zwischenzeitlich in die Uniform der irakischen Armee geschlüpft sind. Ein Abzug der
kurdischen Einheiten würde die Lage im Zentralirak für die US-Besatzer entscheidend
verschlechtern.
Derzeit herrscht im Nordirak eine explosive
Stimmung, die den Interessen der USA sehr zuwiderläuft. Die Bevölkerung in Irakisch-Kurdistan hat
sich von der „Autonomen Region Kurdistan” tatsächliche Unabhängigkeit und soziale
Gerechtigkeit versprochen und sieht sich nun um ihre Ziele betrogen.
Die Spaltung der Gesellschaft in der Nach-
Saddam-Ära in Gewinner und Verlierer wird immer greifbarer. In den kurdischen Gebieten des Irak ist
die Euphorie nach dem Fall des Baath-Regimes längst verflogen.
KDP und PUK haben anfänglich versucht,
den auch für die Autonomieregion geltenden Besatzungsstatus zu verschleiern. Dies gelingt jedoch immer
weniger. Wenn die US-Besatzer ohne Absprache mit der irakischen Regierung und der kurdischen
Regionalregierung in Erbil den irakischen Luftraum für türkische Kampfflugzeuge öffnen,
zeigt dies deutlich, wer tatsächlich Herr im Land ist. Zusammenstöße von Söldnern und
US-Soldaten mit Einheimischen fachen die Wut der Bevölkerung an. Denn auch in den kurdischen Gebieten
treten die Besatzungstruppen und ihre Helfer wie Herrscher auf, die sich jeder Kontrolle und jeglicher
Verantwortung für ihr Handeln entziehen. Heute auf die Realität der US-Besatzung angesprochen,
ist die überwiegende Mehrheit der kurdischen Bevölkerung im Nordirak der Auffassung, es sei gut
dass die US-Truppen Saddam gestürzt hätten, aber dann hätten sie wieder abziehen sollen.
KDP und PUK haben als Gegenleistung für ihre Unterstützung der US-Invasion im Irak und ihre
Beteiligung an der Aufstandsbekämpfung an der Seite der Besatzungstruppen im Zentralirak den
derzeitigen Autonomiestatus zugestanden bekommen. Diese „Autonomie” ist jedoch völlig
abhängig von den Besatzungstruppen.
Für KDP und PUK ist sie auch noch
nicht der Endpunkt ihrer politischen Vorstellungen. Im Bewusstsein, dass die USA derzeit keinen Bruch mit
ihren kurdischen Verbündeten riskieren können, treten sie immer offensiver für eine
gebietsmäßige Erweiterung der Autonomieregion ein. Auf einer von der kurdischen Regionalregierung
verbreiteten Landkarte reicht Irakisch-Kurdistan fast bis Bagdad. Besonders brisant ist die
Auseinandersetzung um die Ölregion Kirkuk, die von kurdischer Seite als „kurdisches
Gebiet” beansprucht wird.
Eine Volksabstimmung soll über die
Zugehörigkeit der Region entscheiden. Im Hinblick darauf versuchen KDP und PUK zielgerichtet, die
Bevölkerungszusammensetzung in der Region zu ändern. Dabei geht es nicht nur um die freiwillige
Rückkehrmöglichkeit der von Saddam vormals vertrieben kurdischen Bevölkerung, sondern auch
um Zwangsrücksiedlung und Vertreibung der arabischen Bevölkerung in großem Stil.
Auf Druck der US-Besatzer denen es
letztlich egal ist, wem die Ölregion Kirkuk zugeordnet wird, Hauptsache es klappt mit dem Abschluss
von lukrativen Erschließungs- und Förderverträgen für US-amerikanische Firmen
wurde die Volksabstimmung bereits mehrfach verschoben. Die Besatzer haben Angst, dass der Konflikt sowohl
im Irak als auch mit dem NATO-Partner Türkei eskaliert.
Weder die schiitische irakische
Regierungsmehrheit noch die Türkei werden einen Anschluss der Region Kirkuk an das kurdische
Autonomiegebiet hinnehmen. Die Pläne von KDP und PUK können damit zu einem Risikofaktor für
die US-Interessen im Irak werden. Obwohl sie KDP und PUK als wichtige Bündnispartner nicht verprellen
wollen, ist den US-Besatzern daran gelegen, deren weitere Autonomiepläne zu stoppen und ihren
Handlungsspielraum zu begrenzen.
Für die USA ist die Zusammenarbeit mit dem NATO-Partner Türkei strategisch genauso wichtig wie
das Bündnis mit KDP und PUK. Ein großer Teil des Nachschubs an Ausrüstung und Logistik der
Besatzer wird über den türkischen Hafen Incerlik abgewickelt. Im Gegenzug versichern die USA der
Türkei, dass niemals ein kurdischer Staat im Nordirak entstehen wird. Auch hinsichtlich der PKK kamen
sie der türkischen Regierung entgegen: gemeinsam hat man sie ganz nach den türkischen
Vorstellungen als gemeinsamer Feind eingestuft, dem mit allen Mitteln der Terrorismusbekämpfung
zu begegnen sei.
Hintergrund für dieses
Zugeständnis ist nicht in erster Linie die Interessenlage der USA im Irak, sondern es sind ihre
Kriegspläne gegenüber dem Iran. Türkei und Iran haben im letzten Jahr eine enge
Zusammenarbeit vereinbart unter dem Vorwand, die USA nutzten ihre Besatzungsrolle nicht ausreichend
zur „Terrorismusbekämpfung” im Nordirak. Dies Entwicklung kommt der US-Außenpolitik
ungelegen, weil sie ihrem Wunsch zuwiderläuft, den Iran zu isolieren, und diesen sogar zu einem
wichtigen Verbündeten des NATO-Partners Türkei macht.
Vor diesem Hintergrund erfüllte die
Zustimmung zur Militäraktion der Türkei auf irakisch-kurdischem Gebiet für die US-Strategen
gleich mehrere Funktionen: Die Türkei wurde als Bündnispartner zunächst einmal zufrieden
gestellt. Die türkische Regierung hatte zuvor gedroht, sie werde die Kriegsunterstützung für
die US-Truppen im Irak einstellen, wenn sich die USA im Kampf gegen die PKK im Irak nicht an ihre Seite
stellten. Der kurdischen Regionalregierung, die im Angriff der türkischen Armee vor allem einen
Angriff auf die kurdische Regionalverwaltung vermutete, wurde sowohl ihre Abhängigkeit vom „good
will” der US-Besatzer verdeutlicht, als auch die Grenzen ihrer „Autonomie” aufgezeigt.
Im Nachkriegs-Nordirak verschärfen sich die sozialen Unterschiede, die Infrastruktur welkt vor sich
hin, die Türkei kauft Land und gründet Schulen und Universitäten, die ohne die kurdische
Sprache auskommen.
Die Stadt Erbil, Sitz des kurdischen
Regionalparlaments, sieht aus wie eine große Baustelle. Überall werden große Hotelneubauten
hochgezogen und moderne Einkaufzentren gebaut. Am Stadtrand entstehen bewachte Wohnsiedlungen in US-
amerikanischem Stil, überall sind protzige Villenbauten zu sehen.
Hinter den Bauprojekten stehen private
Geldgeber. Dabei handelt es sich in der Regel um einflussreiche Persönlichkeiten aus KDP und PUK, die
sozusagen über Nacht reich geworden sind. Wo das Geld für die Bauprojekte herkommt, bleibt im
Dunkeln, selbst Parlamentsabgeordnete können darauf keine Antwort geben. Man spricht von der
Selbstbedienungsmentalität des Barsani- und Talabani-Clans, von Bodenspekulationen durch
Landverteilungsaktionen der großen Parteien KDP und PUK, von Korruption und Vetternwirtschaft.
Gleichzeitig wird die Wirtschaft
entsprechend der US-Pläne für den gesamten Irak nach neoliberalen Vorbildern umgebaut. Ein
Transformationsprozess wurde in Gang gesetzt. Obwohl er noch am Anfang steht, zeitigt er bereits
gravierende gesellschaftliche Auswirkungen und wirft Fragen der Verteilungsgerechtigkeit auf.
Das kurdische Autonomiegebiet soll für
ausländische Firmen unter Berücksichtigung der Vorgaben von IWF und Weltbank geöffnet
werden. Dies bedeutet Privatisierung des öffentlichen Dienstleistungssektors und der wenigen
Produktionsbetriebe im Land. Diese Entwicklung findet in einer Situation statt, in der noch nicht einmal
ansatzweise eine Grundversorgung z.B. im Gesundheits- und Ausbildungssektor gesichert ist. Gebaut werden
nun Privatuniversitäten, Privatkrankenhäuser, Stromkraftwerke usw. Ausländische Investoren
werden mit Steuerfreiheit und „billigen inländischen Arbeitskräften” angelockt. Auf
Mindeststandards für Arbeitsbedingungen wird verzichtet. Es findet keinerlei Wirtschaftskontrolle oder
gar Wirtschaftsentwicklungsplanung statt. Alles wird dem freien Spiel der Kräfte überlassen.
Kritiker dieser Entwicklung sprechen bereits vom Ausverkauf des Landes zum Schnäppchenpreis.
In wenigen Jahren hat sich die Schere zwischen Arm und Reich dramatisch erweitert. Vom
vordergründigen Wirtschaftsaufschwung profitieren nur wenige, die Mehrheit der Bevölkerung
kämpft angesichts hoher Arbeitslosigkeit (bis zu 50%) und geringem Einkommen ums tägliche
Überleben. Die Preise für Lebensmittel und Wohnraum gleichen sich dem EU-Niveau an, die
Löhne liegen unterhalb des Existenzminimums.
Ein Grundschullehrer verdient etwa 150
Dollar im Monat, ein Wachmann 400 bis 500 Dollar. Arbeitsplätze gibt es fast nur bei der Polizei, im
Sicherheitsgewerbe oder beim Militär. Wer sich meldet, steht letztlich auf der Gehaltsliste von KDP
oder PUK und ist somit direkt von den im Autonomiegebiet bestimmenden Parteien abhängig. Die
wirtschaftliche Not führt damit zu politischer Abhängigkeit. Jeder weiß, dass er mit
öffentlich geäußerter Kritik an den herrschenden Regierungsparteien auch seinen Job
riskiert.
Die völlig unzureichende soziale
Infrastruktur, der ständige Mangel an Strom und sauberem Wasser führt immer öfter zu
Protestaktionen wie Streiks, Besetzungen und Demonstrationen. Die Sicherheitskräfte von KDP und PUK
reagieren mit Repression: Verhaftungen, Knüppel- und Schusswaffeneinsatz.
Im letzten Jahr ist in mehreren
Landesteilen der kurdischen Autonomieregion die Cholera ausgebrochen. Die Untätigkeit der Regierung
und ihre beschwichtigenden Erklärungen haben den Unmut über die Regionalregierung und die Debatte
über die Verwendung der Haushaltsgelder verschärft. 30% der Wasserleitungen in Kurdistan
müssen dringend erneuert werden. Ebenso die Wasserspeicher, die oft oben offen sind. Die Kanalisation
ist veraltet, die Müllbeseitigung schlicht eine Katastrophe. Der Müll wird teilweise einfach in
die Flüsse gekippt.
Mit der Entschuldigung der Behörden,
es fehlten ihnen die finanziellen Mittel zur Sanierung von Wasserleitungen und Stromnetzen geben sich die
Menschen nicht mehr zufrieden. Die kurdische Regionalverwaltung erhält von der irakischen Regierung
jedes Jahr etwa 8 Milliarden Dollar an Ausgleichszahlungen aus den staatlichen Erdöl- und
Steuereinnahmen. Bis heute gibt es keinen kontrollierbaren Haushaltsplan des kurdischen Regionalparlaments
für die Verwendung der Gelder.
Wirtschaftlich ist die kurdische
Autonomieregion vollständig von Auslandslieferungen abhängig. Fast der gesamte Warenverkehr
läuft über die Türkei und den Iran. Wenn die Grenzen geschlossen werden, spürt man dies
rasch an den fehlenden Lebensmitteln und der Einschränkung des Warenangebots auf dem Basar.
Linksoppositionelle Kräften fordern deshalb ein sofortiges Entwicklungsprogramm für die
Landwirtschaft und den Aufbau eigener Produktionsstätten nach Genossenschaftsmodellen.
Die Gesellschaft, in der in der
Vergangenheit gegenseitige Hilfsbereitschaft der Normalfall war, beklagt heute einen
Entsolidarisierungsprozess. Jeder ist sich selbst der Nächste und versucht, im Verteilungskampf ein
Stück vom Kuchen zu erhalten. Es gibt immer mehr Stimmen, die eine radikale Änderung des
wirtschaftlichen und politischen Kurses fordern und dies mit der Forderung nach tatsächlicher
Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte verbinden.
Nur der äußere Druck und die
Angst der Bevölkerung, selbst der erreichte Autonomiestatus könnte erneut in Frage gestellt
werden, hat bisher eine soziale Explosion verhindert. Man befürchtet, innerkurdische
Auseinandersetzungen könnten der kurdisch-nationalen Sache schaden.
Wenn die soziale Frage und nicht mehr die nationale Frage in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen rückt, wird dies unmittelbar Einfluss auf die Integrationsfähigkeit von KDP
und PUK haben. Dann müssen diese um ihren Einfluss in der kurdischen Bevölkerung fürchten
und werden auch gegenüber dem US-Besatzer an Gewicht als Bündnispartner verlieren. Erst vor
kurzem wurde eine unabhängige Organisation mit Namen Hatakay gegründet: Ihr Ziel ist, eine
Million Unterschriften zur Durchsetzung von Neuwahlen zum kurdischen Regionalparlament zu sammeln. Auch das
ist ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Politik der dominierenden Parteien KDP und PUK.
Der kurdische Ableger der KP Iraks
die größte linke Kraft in den kurdischen Gebieten, die über eine gewisse gesellschaftliche
Verankerung verfügt ist bis jetzt nicht in der Lage, die Unzufriedenheit aufzugreifen, in ihrem
Sinne zu bündeln und auf ökonomischer wie politischer Ebene eine Alternative zu entwickeln. Sie
hat die undemokratischen Manöver und Absprachen bei der Bildung des kurdischen Regionalparlaments
mitgetragen und sich in die Regierungsverantwortung einbinden lassen, ohne wirklich etwas bewirken zu
können. Ein Parlamentsmitglied der KP formulierte dies folgendermaßen: Wir sind in der Regierung,
aber wir regieren nicht.
Die soziale Unzufriedenheit versuchen vor
allem islamistische Kräfte zu nutzen, die Verbindungen zur türkischen Regierungspartei AKP
unterhalten. Türkische Unternehmen mit Verbindungen zur AKP sind derzeit die größten Anleger
und Landaufkäufer im Nordirak. Türkische Trägervereine bauen Schulen und Universitäten,
an denen Türkisch und Englisch, aber nicht Kurdisch unterrichtet wird. Die Vergabe von Stipendien
ermöglicht auch Nichtvermögenden ein Studium. Mit „islamischem Geld” wurde
außerdem eine Vielzahl neuer Moscheen in der kurdischen Autonomieregion gebaut. Islamische
Hilfsorganisationen mit Verbindung zur Türkei kümmern sich um die Unterstützung der Armen.
Mit Sach- und Geldspenden erreichen sie eine Anbindung an die religiösen Kräfte. Die
Islamisierung ist in den kurdischen Städten im Nordirak nicht mehr zu übersehen. Auf politischer
Ebene wird diese Entwicklung durch die Gründung eines Ablegers der türkischen AKP vorangetrieben.
Die nichtreligiöse Opposition spricht
bereits vom „türkischen Imperialismus” in den kurdischen Gebieten des Irak und sieht in
dieser Entwicklung die größte Gefahr für die Zukunft. Insbesondere deshalb, weil sich mit
einer „gemäßigt islamischen Partei”, die über eine Basis im kurdischen
Autonomiegebiet verfügt, für die Besatzungsmacht USA neue Bündnisperspektiven ergeben, die
mit den Entwicklungsvorstellungen der USA für den Gesamtirak kompatibel sind und dem NATO-Partner
Türkei ganz neue Einflussmöglichkeiten auf die kurdische Autonomiezone eröffnen würden.
Allmählich wird sichtbar, dass es auch in der Türkei eine Antikriegsstimmung und -bewegung
gibt.
Die Kriegskoalition aus AKP, MHP und CHP
hat vor der Militäroperation im Nordirak die Stimmung in der Türkei ordentlich angeheizt.Die
Medien übernahmen kritiklos die offizielle Sprachregelung vom „Kampf gegen den
Terrorismus” und einer PKK, die angeblich völlig isoliert sei. Es sollte so aussehen, als ob die
gesamte Türkei geschlossen hinter dem Kriegskurs der Regierung steht.
Der Verweis auf den angeblichen
Separatismus und Terrorismus der PKK greift aber nicht mehr. Auch die türkische Linke, die
traditionell die Einheit der türkischen Arbeiterklasse betont und der kurdischen Befreiungsbewegung
distanziert gegenübersteht, solidarisierte sich mit der kurdischen Antikriegsbewegung und brandmarkte
die Großmachtpläne der Türkei im Nahen Osten.
In den Kurdengebieten gab es
Demonstrationen unter dem Motto „Edi bese Es reicht! Schluss mit dem Krieg in
Kurdistan!”, unterstützt von Millionen kurdischer Binnenflüchtlinge im Westen der
Türkei und von der Partei DTP. Sie forderten den sofortigen Rückzug der türkischen Armee aus
dem Irak, das Ende der Unterdrückung der Kurden und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage.
Auch Schriftsteller und Intellektuelle forderten die Regierung zum Kurswechsel auf. Wenn nun die alten
Spaltungslinien zwischen der kurdischen Bewegung und der Linken dauerhaft aufbrechen, wird das die
Opposition zweifellos stärken.
Fatal für die Kriegstreiber in der
Türkei ist jedoch der Stimmungswandel im bürgerlichen Lager. Kennzeichnend dafür ist das
mutige Auftreten der bekannten Schlagersängerin Bülent Ersoy. Zur besten Sendezeit in einer der
beliebtesten Fernsehshows sprach sie sich gegen die Militäroperation aus und kritisierte falsches
Heldentum und Kriegsverherrlichung: „Immer dieselben Klischees, immer dasselbe Geschwätz, Kinder
sterben, es gibt Blut, Tränen, Tote ... und dann diese hohlen Worte von Ehre und Vaterland. Für
diesen Krieg würde ich mein Kind nicht unter die Erde schicken!” Das löste eine heftige
Debatte aus. Die Sängerin wurde prompt wegen „Entfremdung des Volkes vom
Militärdienst” angeklagt, wofür es drei Jahre Haft gibt. Viele bekannte Frauen in der
Türkei Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen, Sängerinnen, Journalistinnen
schlossen sich Bülent Ersoys Aufruf nach einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage an.
Die Armee trug selbst zur wachsenden
Antikriegsstimmung bei. Bei Kämpfen zwischen der türkischen Armee und der Guerilla der PKK im
türkisch-irakischen Grenzgebiet nahm die Guerilla acht Soldaten gefangen, zwölf starben. Als die
Gefangenen freigelassen wurden, freuten sich die Militärführung und die türkische Regierung
keineswegs mit den Familien der Soldaten darüber, dass sie noch am Leben sind; sie warfen ihnen im
Gegenteil „Befehlsverweigerung und Zusammenarbeit mit dem Feind” vor. Sie hätten sich
lieber selbst töten sollen, als in Gefangenschaft zu geraten. Nun sind sie in Haft und es droht ihnen
einen mehrjährige Gefängnisstrafe.
Kritik gibt es auch an den Kosten der
Kriegsoperation, die Sinnhaftigkeit der gesamten Aktion wird in Frage gestellt. Der plötzliche
Rückzug der türkischen Armee ist nicht vermittelbar. Warum wurde die Operation abgebrochen, wo
doch die Armee angeblich so erfolgreich war? Was ist tatsächlich passiert? Die Militärs werden
zunehmend unglaubwürdig. Selbst wenn nur ein Teil der kurdischen Medienberichte zutrifft, war diese
Winteroffensive für die türkische Armee ein Desaster. Wegen des schlechten Wetters und meterhohem
Schnee kam sie nur mühsam vorwärts, viele Soldaten sind erfroren.
Die PKK-Guerilla leistete offensichtlich
unerwartet starken und erfolgreichen Widerstand. Deshalb erhält die Forderung nach einer friedlichen
Lösung der kurdischen Frage auch in bisher staatstreuen Gesellschaftsschichten Unterstützung.
Militärs und Regierung halten unbeirrt
an einer militärischen Lösung fest. Eine Entspannung der Situation in den Kurdengebieten ist
nicht in Sicht. Ob eine Kursänderung möglich wird, hängt u.a. davon ab, ob es den
Kriegskritikern in der Türkei gelingt, die Bewegung für eine friedliche Lösung zu
stärken und ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass die kurdische Frage nicht nur eine
Angelegenheit der kurdischen Bevölkerung ist, sondern eine politische Kernfrage für jede
fortschrittliche und linke Bewegung in der Türkei.
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