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Das ESF, ursprünglich stark westeuropäisch geprägt,
erfährt eine erhebliche Erweiterung. Mit dem kommenden Austragungsort Malmö in Südschweden
zieht es in eine Region, die einem europäischen Ansatz ausgesprochen skeptisch gegenübersteht.
"Im Norden sind wir sehr neugierig auf
die vielen Menschen aus den verschiedenen Teilen Europas und möchten mit ihnen Beziehungen aufbauen,
auch wenn wir von Europa sonst nicht viel halten, weil wir es mit der EU gleichsetzen”, erklärt
Tord Bjørk vom Nordischen Organisationskomitee, das sich kurz NOC nennt, auf dem europäischen
Vorbereitungstreffen, das Anfang März in Berlin stattfand. Er ist nicht der einzige, der über
Europamüdigkeit klagt. Auch Peter Damo vom Rumänischen Sozialforum findet „gerade mal einen
einzigen unter 56 angeschriebenen Adressen, der sich für Alternativen zur EU und für die Charta
der Grundsätze für ein anderes Europa interessiert”, klagt er auf dem vorgeschalteten
Netzwerktreffen, das die Charta formuliert hat und sich bemüht, sie in die Debatte zu bringen.
Trotzdem, und obwohl die
außerparlamentarischen Bewegungen die Herrschenden derzeit nicht gerade das Fürchten lehren,
kündigt sich jetzt schon an, dass Malmö ein Riesenerfolg und ein Sprung nach vorn sein wird. Das
NOC rechnet mit 20000 Teilnehmenden, davon 6000 aus Schweden, weitere 5000 aus den anderen skandinavischen
Ländern, mehrere tausend aus Deutschland, mehrere hundert aus Russland. Zum Schlafen wird man auf
Kopenhagen ausweichen müssen, denn die IG-Metall-Jugend hat bereits alle Jugendherbergsplätze vor
Ort gekapert. Sie will nämlich just vor dem ESF in Malmö einen Kongress der Europäischen
Gewerkschaftsjugend durchführen und die Jugendlichen dann zum ESF da behalten, indem sie ihnen ein
breit gefächertes Programm anbietet. Allein aus Deutschland wird mit 1000 Gewerkschaftsjugendlichen
gerechnet; ihr Programm ist inhaltlich wie technisch vollständig selbst organisiert.
Tord Bjørk ist das nicht genug. Der
engagierte Naturfreund, übrigens ein Norweger, kein Schwede, klappert die Organisationen und
Verbände wie auch die Länder systematisch ab. „Die Jugend vor allem, aus allen erdenklichen
Bereichen”, will er in Malmö sehen. Und Migranten und Flüchtlinge aus den verschiedensten
Ländern. „Skandinavien gehört zu dem Teil der Welt, der am offensten gegenüber dem
Süden ist, am stärksten an internationaler Politik interessiert und am meisten Flüchtlinge
aus dem Irak aufgenommen hat, mehr als die USA”, stellt er stolz sein Land vor. Seinen besonderen
Ehrgeiz hat er darein gesetzt, die Roma zu gewinnen. Und die Kirchen, natürlich nur solche, die die
antiliberale Orientierung auch teilen. Und er ist auf Tournee gegangen: Estland, Litauen, Polen,
Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien überall hat er für das ESF geworben, Kontakte
geknüpft, Interesse geweckt.
Migration wird ein Schwerpunkt des ESF in
Malmö werden. Denn die Situation vor den Toren Europas wird immer unerträglicher. Dabei will man
sich nicht darauf beschränken, die Zusammenarbeit mit den in Europa ansässigen Organisationen der
Migranten auszubauen, man will auch aus den Fluchtländer selbst Vertreter der dortigen Sozialforen
einladen, um praktische Zusammenarbeit zu verabreden. Das sind gewaltige Vorhaben für eine Bewegung
ohne Büro und ohne feste Organisationsstruktur.
Auf die Dauer wird sich der nordische Weg
der Erweiterung auszahlen, mehr jedenfalls, als wenn man nur auf eine neue Welle von Bewegungen wartet, von
der man nicht weiß, wann sie kommt und wie lange sie hält. Tord und die Seinen schaffen es, das
ESF auch in ruhigeren Zeiten zu einer Erfolgsstory zu machen.
Nicht von ungefähr: Denn zugleich mit
der Europamüdigkeit wurde in Berlin auch festgestellt, dass gerade Gewerkschaften, die sich bislang
eher zurückhielten, mehr und mehr die Notwendigkeit erkennen, auf die Kämpfe, die sie vor Ort zu
führen haben, eine europäische Antwort zu geben. Nokia und das jämmerliche Scheitern der
Europäischen Betriebsräte beim Finden solidarischer Antworten gegen Produktionsverlagerungen sind
ein besonders deutliches Beispiel dafür. In der Grundsatzabteilung der IG Metall werden seit einiger
Zeit Papiere ausgearbeitet, die die europäische Dimension der künftigen gewerkschaftlichen
Kämpfe betonen eine deutliche Abkehr von der Standortpolitik alten Stils, die Betriebsräte
gern noch pflegen.
Auch die GEW hat das Sozialforum entdeckt.
Mit großer Beharrlichkeit und Konsequenz stürzt sie sich zusammen mit ihren
europäischen Partnergewerkschaften, auf den Bologna-Prozess, der eine Kampfansage an den Grundsatz
gleicher Bildungschancen darstellt. Sie bildet inzwischen eine der tragenden Säulen des
Sozialforumsprozesses.
Während also von „unten”
wie von „oben” an der Erweiterung des Sozialforums gearbeitet wird, tut sich das ESF mit
anderen Bereichen, um die es aber doch wirbt, schwerer. Das gilt in erster Linie für Osteuropa. Hier
findet inzwischen eine hauchdünne Schicht von engagierten Intellektuellen regelmäßig den Weg
zum ESF. Die Hoffnung, von hier Rückendeckung für die Auseinandersetzungen im eigenen Land zu
erhalten, ist groß. Eine Position die sagt: Europa ja, aber ein Europa, das mit dem Gesetz des
privaten Profits Schluss macht und sich zugleich scharf von dem Modell abgrenzt, das bislang unter
„Sozialismus” firmierte, ist in Westeuropa immer noch sehr randständig, in Osteuropa ist
sie geradezu exotisch. Und die Westeuropäer verstehen die Klagen der Osteuropäer auch nicht
immer: Von außen sieht es so aus, als sei dort alles wie bei uns, nur viel schlimmer. Dass es eine
Herrschaftsbeziehung zwischen West- und Osteuropa gibt, die koloniale Züge trägt, ist den
wenigsten bewusst, und auch nicht, dass sich daraus besondere Forderungen und Befindlichkeiten ergeben.
Hier muss das ESF noch viel Bewusstseinsarbeit leisten.
Das Forum kann sich jedoch nur erweitern,
indem es weiterzieht in Randbereiche, unsichere Regionen, abgeschottete Gegenden. Die Organisation
eines ESF ist immer noch ein Wert an sich, in sich selbst ein Politikum. Auf dringenden Wunsch der
türkischen und kurdischen Gewerkschafter, Initiativen und Linken soll es im Jahr 2010 in Istanbul
stattfinden ungeachtet dessen, dass man heute noch gar nicht sagen kann, ob es dann dort auch
stattfinden kann. Das Risiko war den Teilnehmern des Vorbereitungstreffens in Berlin bewusst, aber sie
wollen es eingehen. Sie wollen ein Zeichen setzen gegen eine EU-Ausrichtung, die mit aller Macht und mit
hanebüchenen Argumenten versucht, die Türkei aus der EU herauszuhalten, weil dies ihre Versuche
torpediert, die sozialen Folgen der Umverteilungspolitik auf Menschen muslimischer Herkunft abzuschieben.
Deutlicher kann man kaum sagen, dass Europa für die im Sozialforum Aktiven etwas anderes ist als die
liberal-konservative EU. Die Entscheidung fiel einmütig, ebenso wie die Entscheidung, das nächste
europäische Vorbereitungstreffen (EPA) für Malmö in Kiew durchzuführen. Es gibt keinen
anderen Weg, in Osteuropa Wurzeln zu schlagen, als dorthin zu gehen.
Das einzige, was noch hinterherhinkt, sind
die organisatorischen Strukturen des ESF selbst: die Organisation einer Willensbildung, die auf große
Gewerkschaften und NGOs ebenso hört wie auf kleine Initiativen; die Finanzierung der Anfahrten und
Übernachtungen für die Teilnehmenden aus den ärmeren Regionen des Kontinents. Bei dem
Erweiterungsweg, den das Nordische Komitee eingeschlagen hat, bedarf es verlässlich arbeitender
Strukturen, die zugleich kompetent sind und offen arbeiten. In Skandinavien gibt es dafür offenkundig
eine Tradition, die in anderen Teilen Europas fehlt. Auf europäischer Ebene muss eine solche Struktur
zugleich praktisch erfunden und theoretisch verarbeitet werden.
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