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Das Verhältnis der Linken zu den staatlichen Institutionen war ein
zentrales Thema der 68er Revolte; es harrt bis heute einer Antwort.
Worum ging es 1968 und vor allem davor? Der
Nationalsozialismus lebte überall, in jeder Familiengeschichte, und zugleich war er vollständig
entwirklicht. Alle waren Opfer, die Deutschen sowieso, als Täter wurden „die Gewalt”, das
„Unrechtsregime” oder ähnliche Abstrakta ausgemacht. Vor allem durfte keine
gesellschaftliche Kontinuität sichtbar werden, deshalb waren die Veröffentlichungen aus der DDR
wie etwa das „Braunbuch” (über Kriegs- und Naziverbrecher in hohen Positionen in der BRD)
so unangenehm.
Die Legitimation der herrschenden Ordnung
konnte durch einen ruhig stellenden Sozialstaat abgesichert werden. Er stützte sich auf einen
korporativen Rahmen, der bis in die Kaiserzeit zurückreichte. Dieser Sozialstaat konnte auf die
Ideologie einer Volksgemeinschaft zurückgreifen, die im Nationalsozialismus terroristisch
durchgesetzt, möglichst sozialverträglich angeboten und vor allem mit der antisemitischen
Feinderklärung aufgerüstet worden war. Darüber wurde geschwiegen, aber die Volksgemeinschaft
blieb allgegenwärtig.
Die Bundesrepublik unternahm einen Wettlauf
nach rechts. Kommunisten und andere Linke gehörten einfach nicht dazu oder „in den Osten”
Die KPD wurde verboten. Der Studentenverband der SPD, der SDS, konnte sehr schnell in eine linksradikale
Ecke gedrängt werden. Da reichten Ende der 50er Jahre schon Kontakte in die DDR, eine „Anti-
Atom"-Bewegung oder eine Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz”
Der SDS wurde aus der Godesberger SPD
ausgeschlossen. Dieser Ausschluss wurde innerhalb des SDS auch als Befreiung empfunden, um
unabhängig von jedem Parlamentarismus und seiner Tendenz, störende Minderheiten auszugrenzen
erst einmal zu bestimmen, was emanzipatorische Politik bedeuten konnte.
Aber dieser SDS blieb ein traditioneller
Studentenverband, der aus sich selbst heraus keine kulturelle Hegemonie entwickeln konnte. Erst recht, wenn
er sich darauf beschränkte, die richtige Ideologie gegenüber der Godesberger SPD zu vertreten.
Die Alltäglichkeit des Verbandslebens vertrug sich, trotz anderer Inhalte, sehr gut mit der Langeweile
des volksgemeinschaftlichen Wohlfahrtsstaats.
Die Analysen der kritischen Theoretiker
etwa über den Zusammenhang zwischen einer „autoritären Persönlichkeit” und der
nationalsozialistischen Volksgemeinschaft blieben ausgeblendet. Der entscheidende Anstoß kam von
unerwarteter Seite.
"Revolution von oben, inszeniert durch Berufsrevolutionäre, ist uns verhasst.” So
schrieben 1964 Mitglieder der „Subversiven Aktion” um Dieter Kunzelmann. Beeinflusst von der
französischen „Situationistischen Internationale”, vor allem von Guy Debord, beanspruchten
sie, die Trennung zwischen privatem und politischem Leben aufzuheben. Es ging nicht um das Warten auf eine
revolutionäre Situation, sondern um die „Konstruktion” von alternativen
„Situationen” hier und jetzt, über die ein befreites Leben möglich werden sollte.
Damit würden auch die bestehenden institutionellen Machtzusammenhänge delegitimiert. Gefordert
wurde eine Revolutionierung des Subjekts, die damit beginnen sollte, die eigenen autoritären
Strukturen in Frage zu stellen. Die Kritische Theorie und ihre Analysen des Nationalsozialismus und seiner
Kontinuitäten wurden dabei aufgenommen.
Die „Subversive Aktion”
erhoffte sich „Risse im Bestehenden” vor allem über eine Revolutionierung der Subjekte.
Linke Traditionalisten, auch im damaligen SDS, konnten hier leicht einwerfen, das alles bleibe eine quasi
künstlerische Spielerei.
Die „Subversiven” entwickelten
sich weiter, in der Konstruktion von „Situationen” griffen sie auch die bestehenden
Machtstrukturen an. Dieter Kunzelmann 1964: „Wir provozieren Musterprozesse, durch die wir unsere
ganzen Ideen publik werden lassen. Wir stürmen zum Beispiel ein Kaufhaus, nehmen alle Güter und
verteilen sie auf der Straße; der folgende Prozess müsste so frech-geschickt geführt werden,
dass die Lüge der freien Wirtschaft ... bewusst wird."
Dies blieb ein Vorschlag, aber er zeigt die
Nichtanerkennung institutioneller Gewalt und auch die Nichtanerkennung institutioneller Opposition. Dies
musste in einem nach-nationalsozialistischen Deutschland ungeheuerlich wirken und folgte zugleich aus den
historischen Erfahrungen. Schließlich war der Staatsapparat im NS nicht zerstört worden. Der
Beamtenapparat hatte sich nach 1933 größtenteils eingeordnet und behielt auch nach 1945 seine
Rolle, gerade durch die spezifische Persilschein-Entnazifizierung eine alltägliche Erfahrung,
von der Schule über die Universitäten bis in die Polizei. Die personelle Kontinuität blieb
ungebrochen. Und die Proteste gegen diese Kontinuität blieben 1968, von der Verjährungsdebatte
bis zur „Störung” belasteter Professoren, ein durchgängiges Thema.
In Hamburg trafen sich 1964
„Subversive”, zu denen inzwischen auch Rudi Dutschke gehörte. Die Kritik politischer und
wirtschaftlicher Machtfragen wurde im Protokoll des Treffens schärfer formuliert, wichtig
außerdem der Blick über die deutschen Grenzen hinaus. Revolution sei nur möglich durch die
„revolutionäre Tätigkeit organisierter Gruppen im Weltmaßstab”
Ein revolutionäres Subjekt
„Proletariat” wurde angesprochen, aber in seiner aktuellen Wirklichkeit angezweifelt: Das
„Leistungsprinzip” habe sich in den hochindustrialisierten Ländern im Interesse
wirtschaftlicher Macht verselbstständigt. Deshalb könne die bloße „Abschaffung des
Privateigentums an Produktionsmitteln” keinen entscheidenden Umbruch bringen, wie die Länder
Osteuropas zeigten.
Die „Subversiven” vereinbarten,
dem SDS beizutreten. Ein Studentenverband bot noch am ehesten die Möglichkeit für eine solche vor
allem ideologische Arbeit.
Die Nichtanerkennung institutioneller
Gewalt wurde im genannten Protokoll auch auf die Lohnarbeit ausgeweitet. In der bürgerlichen
Gesellschaft gebe es keine neutralen Zonen, die nicht von den Kapitalverhältnissen bestimmt sind. Die
alltägliche Disziplin der Lohnarbeit werde bis in die individuelle Leistungsbereitschaft hinein vom
Verwertungszwang bestimmt. Die Normalität des Alltagslebens wurde als wichtigster Agent gesehen, der
auch überleben würde, wenn zwar die Eigentümer enteignet, die einzelnen Menschen aber in
sich selbst diese Normalität nicht überwinden würden.
Rudi Dutschke schrieb 1965 von der „Eigenunterdrückung auf Grund der verinnerlichten falschen
Normen” „Standardisierte Effektivität und Produktivität” würden „vom
noch notwendig falschen Bewusstsein als Individualität und freie Entscheidung missverstanden”
Im Dezember 1964 rief der Berliner SDS
erfolgreich dazu auf, die Demonstration gegen den Besuch Tshombes, eines neokolonialen Statthalters im
Kongo, in Westberlin bewusst von einer legalen in eine illegale Demonstration zu verwandeln und die
Polizeiketten zu durchbrechen. Dies wurde auch als eine Bewusstwerdung der Akteure selbst verstanden.
Gehofft wurde auf die geradezu ansteckende
und befreiende Wirkung solcher Aktionen. Die verinnerlichte abstrakte Gewalt des Staates, der sich die
Menschen als Normalität unterwarfen, sollte als Gewalt offensichtlich werden. Diese Gewalt reichte bis
in uns selbst. Unsere Erziehung und unsere Gewohnheiten hinderten uns daran zu rebellieren. Die Polizei
steckte in uns selbst.
Aus solchen Anfängen erklärten
sich auch die Kampagnen der folgenden Jahre für eine andere Erziehung
„Kinderläden”, „antiautoritäre Erziehung” , die Entstehung von
„Kommunen”, schließlich die Kritik des Staates und seiner Gewalt als einer wesentlichen
Form des Patriarchats, als einer „Kopfgeburt": Eine Opposition bleibt nur radikal, wenn sie auch
sinnlich ist.
Mit der Demonstration gegen Tshombe begann
eine Reihe von antiimperialistischen Demonstrationen bis hin zum Vietnam-Kongress 1968, die aufzeigten,
dass die Bundesrepublik direkt mit den imperialistischen Interessen verbunden war.
Erstaunlich war schon in diesen
Anfängen die breite Solidarität im Milieu der Studenten und Intellektuellen. Dabei war es wohl
falsch, von hier aus auf eine grundsätzliche Kritik an der institutionalisierten Politik zu
schließen. Viele liberale bürgerliche Studenten schlossen sich den Protesten nur an, weil sie
einen Widerspruch sahen zwischen den offiziellen Lobpreisungen des demokratischen Rechtsstaats und der von
ihnen geradezu hautnah erfahrenen Brutalität der Polizei auf den Straßen und den verlogenen
Reaktionen der Presse.
Dies kulminierte nach dem Mord an Benno
Ohnesorg 1967 und nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke. Dieselben liberalen Studenten waren aber auch
allzu bereit, staatlichen Beteuerungen zu glauben, jetzt folge er endlich den liberalen Grundsätzen.
Deshalb konnte die Integrations- und Ausgrenzungsoffensive der SPD Ende der 60er Jahre Erfolg haben.
Auch deshalb wurde der Vietnam-Kongress
nicht verboten. Und die Kampagne gegen die Notstandsgesetze verlief bereits in einem streng legalistischen
Rahmen und nährte die Illusion eines liberalen Rechtsstaats, der unabhängig von den
wirtschaftlichen Interessen existiere. Damit war der grundsätzliche Glaube an die Institutionen
wiederhergestellt.
Die demonstrierenden Studenten begriffen auch den Widerspruch zwischen dem vorhandenen
gesellschaftlichen Reichtum und einem aufgezwungenen autoritären Leben. Auch hier gab und gibt es bis
heute Modernisierungsbedarf. Und die Überwindung des Fordismus fand nicht nur in der Produktion statt,
sondern auch in der Pädagogik. Die schwarze Pädagogik erwies sich al unproduktiv, der strafende
Lehrer wurde ersetzt durch eine Verinnerlichung des Zwangs, die als Teamfähigkeit ausgegeben wurde.
Das Organisationsreferat, das Rudi Dutschke
und Hans-Jürgen Krahl auf der Delegiertenkonferenz des SDS im September 1967 hielten, fasste
präzise die bisherigen Intentionen zusammen. Es zeigte die Notwendigkeit auf, das System der
repressiven Institutionen anzugreifen und zwar in einer Weise, dass die „sinnliche Erfahrung”
der Akteure mobilisierend wirkt. Die Menschen „erfassen die soziale Wirklichkeit nur noch durch die
von ihnen verinnerlichten Schemata des Herrschaftssystems selbst”
Daraus folgte im Referat keine
Avantgardetheorie. Denn die Menschen, die trotzdem beginnen, sich zu wehren, ermöglichen einen
selbstaufklärerischen Bewusstseinsprozess. Sie werden nicht von einer alles wissenden Avantgarde
„gebildet”, sondern ihre Bildung wird angestoßen durch das Beispiel von Menschen, die
aufzeigen, dass es möglich ist, sich zu wehren, die also eine Erfahrung vermitteln, die sich quer zur
anerzogenen Normalität stellt. Wir alle sind Teil dieser Institutionen, der „lange Marsch”
durch die Institutionen bedeutet ihre Nichtanerkennung. Die Inhalte und Formen dieses politischen Kampfes
werden bestimmt durch die sich selbst emanzipierenden Menschen, nicht durch die vorgegebenen politischen
Formen.
Deshalb lehnten Dutschke und Krahl einen
„abstrakten Sozialismus” ab, „der nichts mit der eigenen Lebenstätigkeit zu tun hat
... Demgegenüber stellt sich heute das Problem der Organisation als Problem revolutionärer
Existenz”
Der Angriff gegen diesen
antiautoritären Anspruch in den folgenden Jahren kam nicht nur von der staatlichen Seite mit seinen
Integrationsangeboten, er kam auch von den linken „Traditionalisten”, die auf die Eroberung der
Institutionen setzten und sie als quasi neutrale Instrumente sahen. Sie durchtrennten die
Zusammenhänge zwischen politischem Handeln und persönlicher Existenz. Das Subjekt der
revolutionären Klasse wurde zum abstrakten Postulat, das zum Symbol erstarrte und in den
proletarischen Verkleidungen der K-Gruppen heraufbeschworen wurde. Damit folgten sie dem bürgerlichen
Staatsverständnis und seinen symbolischen Beschwörungen einer demokratischen Selbstbestimmung,
die auf Wahlen und Parteienmitgliedschaft reduziert ist.
Einer der wichtigsten Theoretiker von 1968,
Johannes Agnoli, hat 1979 noch einmal die antiinstitutionelle Strategie zusammengefasst. Er betonte, dass
eine rein parlamentarische Opposition „den Mechanismen des bürgerlichen Staats in die
Hände” spielt. Am Beispiel der italienischen Sozialisten zeigte er auf, warum sie von den
Christdemokraten als Koalitionspartner akzeptiert wurden, trotz ihrer roten Fahnen mit dem Emblem von
Hammer und Sichel: „Selbst das revolutionäre Programm behielten sie bei. Sie mussten sich
lediglich bereit erklären, die Spielregeln des parlamentarischen Verfassungsstaates als einzige
Regelung politischer Machtprozesse und Konflikte anzuerkennen und allem außerinstitutionellen Kampf
eine Absage zu erteilen. Erst dadurch wurden die Sozialisten regierungswürdig..."
1968 bleibt höchst aktuell und
zugleich weit entfernt. Wenn die „Linke” heute vor allem in Wahlergebnissen und
Überlegungen existiert, wer mit wem koaliert, dann ist sie bereits Teil des institutionellen Systems
geworden.
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