SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2008, Seite 21

Ohne Demokratie keine soziale Emanzipation

Christoph Jünke: Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute, Frankfurt: Neuer ISP-Verlag, 2007

Die politische Wende der Jahre 1989—91 war ein historischer Einschnitt. Sie besiegelte das Ende eines Gesellschaftssystems, das sich selbst „Realsozialismus” nannte, eine Etikettierung, die vor allem dazu da war, alternative Vorstellungen von sozialistischer Vergesellschaftung ins Reich irrealer Ideen zu verbannen. Ergebnis war die Reintegration der RGW-Staaten in den kapitalistischen Weltmarkt und die dazu passenden bürgerlichen Herrschaftsformen.
Durch die Brille sozialemanzipatorischer Zielsetzungen lässt sich diese Entwicklung kaum als nur positiv oder negativ beurteilen. Sie ist z.B. negativ, weil das System des „Realsozialismus” den Handlungsspielraum des kapitalistischen Weltsystems begrenzt hat und Anteil daran hatte, dass die Eliten des Kapitalismus bereit waren, für die Integration der Arbeiterklasse in das politische System des Westens einen politischen Preis zu zahlen. Doch ist damit nur die berühmte eine Seite der Medaille benannt. Die andere verweist auf die Tatsache, dass der „Realsozialismus” nicht auf gewaltsame Weise und gegen massiven Widerstand zu Grabe getragen wurde, sondern durch Implosion, durch die völlige Erschöpfung seiner emanzipatorischen Reserven — am Ende war nicht einmal mehr das Herrschaftspersonal bereit, für seine Verteidigung etwas zu riskieren. Vollzogen wurde eine friedliche Übergabe, die man auch Kapitulation nennen kann.
Vorgeschichte und Ende bewirkten, dass die Verbindung von Kommunismus und Emanzipation in den Köpfen der meisten Menschen heute als etwas Unvereinbares gilt. Mit den Gründen für diese Entwicklung befasst sich das neue Buch von Christoph Jünke, dessen besondere Aktualität er zu recht darin sieht, dass sich auf der Linken neostalinistische Denkmodelle verstärkt breit machen. Das Buch ist eine politische Intervention gegen diese Ansätze und umfasst neu überarbeitete Texte, die der Autor in Vorträgen und in Form von Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen in der Zeit von 2000 bis 2007 verfasst hat, ergänzt um einen Artikel des im letzten Jahr verstorbenen Manfred Behrend. Im ersten Teil des Bandes werden antistalinistische Lernprozesse der Vergangenheit dokumentiert. Im zweiten geht es um den aktuellen Neostalinismus. Im dritten Kapitel werden die Vorstellungen des russischen Intellektuellen Boris Kagarlitzki vorgestellt. Am Ende des Buches skizziert der Autor Grundzüge für eine Erneuerung der sozialistischen Linken.
Der historische erste Teil beginnt mit einer positiven Würdigung der Stalinismusanalyse Isaac Deutschers, dem als negatives Beispiel die Sichtweise Werner Hofmanns gegenübergestellt wird, dessen 1967 verfasster Aufsatz mit dem Titel „Was ist Stalinismus?” noch heute viel zitiert wird. Jünke argumentiert überzeugend, dass Hofmann nicht in der Lage war, die Klassennatur des Stalinismus zu begreifen. Hofmann sah den Stalinismus lediglich als Machtexzess auf Basis eines sozialistischen Systems und reduzierte — so Jünke — letztlich „die emanzipative Logik des Sozialismus auf die Logik bürgerlicher (Macht-)Politik” Ausgesprochen interessant sind die Kapitel über Georg Lukács und Leo Kofler. Sie veranschaulichen, wie stark theoretische Positionen durch erfolgreiche oder ausbleibende soziale Emanzipationsprozesse geprägt und auch wieder infrage gestellt werden.
Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht das in der Linken stark begrüßte Buch Eine kurze Geschichte der Demokratie von Luciano Canfora sowie Texte seines italienischen Kollegen Domenico Losurdo. Jünke gelingt der überzeugende Nachweis, dass diese Positionen nicht erklären können, warum der Realsozialismus an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gegangen ist. Sie scheitern u.a. daran, dass sie die emanzipatorische Dialektik von Demokratie und Sozialismus nicht erfassen. Für die Darstellung dieses Zusammenhangs bezieht sich Jünke auf Lenin, Trotzki und Luxemburg, die gleiche und unterschiedliche Akzente setzen. Jünke zeigt ein erfreuliches Verständnis für die kritische Position Luxemburgs an der Politik der Bolschewiki. Eine zentrale These des Buches ist: „Stalinismus war und ist nicht zuletzt eine Art politisch zu denken und zu handeln, eine politische Theorie und Praxis, die weit über dessen historische Verkörperung hinausweist und sich von diesem auch ganz lösen kann."
Dem kann ich nur uneingeschränkt zustimmen. Weiteren Diskussionsbedarf sehe ich an einem anderen Punkt: Trotzki, Lenin und Luxemburg stehen zweifellos für den Antistalinismus. Aber ob sie auch gemeinsam für eine zukunftsweisende Verbindung von Demokratie und Sozialismus stehen, darf bezweifelt werden. Die Deformation des sozialrevolutionären Prozesses in Russland begann nicht erst mit der Entfernung und Ermordung der trotzkistischen Opposition sondern bereits mit der Niederschlagung des Aufstands der Kronstädter Matrosen, die Trotzki einmal „die Schönheit und den Stolz der Oktoberrevolution” nannte. Die gewaltsame Zerstörung dieser demokratischen Arbeiterrevolte durch die Bolschewiki Lenins und Trotzkis zeigte bereits sehr früh, wie instrumentell und wenig wertschätzend die bolschewistische Partei Demokratie begriff. In diesem Sinne besteht die Aktualität Lenins auch vor allem darin zu erinnern, dass ein Begriff von Demokratie, der hinter Rosa Luxemburgs Kritik der russischen Revolution zurückfällt, für die Emanzipation der Arbeiterklasse nur ein Hindernis sein kann.

Jochen Gester


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang