SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2008, Seite 11

"Zug der Erinnerung"

Nachhaltiger Eindruck

von ANGELA HUEMER und ANJA KÖHLER

Selbst mit der Ankündigungen, die Einnahmen von rund 100000 Euro durch den sog. „Zug der Erinnerung” zu spenden, schafft die Deutsche Bahn AG (DB) es nicht, sich aus dem PR-Desaster zu befreien, das sie sich eingebrockt hat.
Am 9.November startete der „Zug der Erinnerung” in Frankfurt am Main. Er machte an etwa 60 Bahnhöfen halt, am 8.Mai erreicht er Auschwitz. Die Idee für diese besondere Ausstellungsform wurde in Frankreich geboren. Dort organisierten Serge und Beate Klarsfeld mit Hilfe der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF eine Wanderausstellung, die sich auf die vielen deportierten Kinder konzentrierte. Eine Bürgerinitiative nahm die Idee für Deutschland auf. Leider gab es hierzulande keine Unterstützung vom Nachfolgeunternehmen der Reichsbahn, der DB. An jedem Bahnhof, in dem Halt gemacht wird, muss die Ausstellung Gleisgebühren entrichten, die in selber Höhe auch Güterzüge zahlen.

Riesiger Andrang

Egal wo der Zug hält, stets ähnelt sich das Bild — Hunderte Menschen stehen bisweilen mehrere Stunden lang Schlange, bevor sie die Ausstellung sehen können. Es lohnt sich. Den Machern ist eine schwierige Gratwanderung gelungen. Die Konzentration auf Einzelschicksale bindet die emotionale Aufmerksamkeit des Besuchers — bewusst zeigt man die deportierten Kinder „unversehrt”, verankert in einem deutschen (polnischen, französischen, italienischen, niederländischen...) Alltag. Eine Landkarte zeigt gleich zu Beginn das ungeheure Ausmaß der Deportationen. Nach den Einzelschicksalen konfrontiert man den Besucher mit der unheimlichen logistischen Leistung der Deutschen Reichsbahn.
Die personelle Kontinuität dokumentieren zweier Täterbiografien — die des Reichsbahnchefs und des Verkehrsministers. Beiden litten nach ihrer Entnazifizierung 1945 an „Gedächtnisschwund” und konnten ihre Karrieren fortsetzen. Ein besonderes Anliegen der Macher ist es, die Menschen vor Ort einzubeziehen, insbesondere Schulklassen. Diese werden dazu ermuntert, Einzelschicksale von Kindern in ihren Heimatorten zu recherchieren. Die Ergebnisse werden ausschnittweise präsentiert. Eine der Grundlagen der Recherche ist das sog. Gedenkbuch, das auf einer Idee Serge Klarsfelds beruht (www.bundesarchiv.de/gedenkbuch). Bislang hat der Verein „Zug der Erinnerung” mit Hilfe dieser tatkräftigen Unterstützung 12089 deportierten Kindern einen Namen und ein Gesicht verleihen und sie dem Vergessen entreißen können.
In Berlin hielt der „Zug der Erinnerung” am Ostbahnhof, die Kontroverse um die verweigerte Einfahrt auf den schicken neuen Hauptbahnhof drohte nahezu das eigentliche Anliegen zu überdecken. Die Zeitung Die Welt warf den Initiatoren sogar einen „Egotrip mit der Bahn” vor, da die unrühmliche Geschichte ja bereits im Nürnberger Bahnmuseum, im Deutschen Technikmuseum in Berlin und in anderen Gedenkstätten aufgearbeitet sei. Der Begriff „Egotrip” charakterisiert wohl eher Mehdorns DB. Das Angebot, die mit der Ausstellung eingenommenen 100000 Euro an jüdische Organisationen zu spenden, lehnten diese dankend ab und wiesen auf den Ablasscharakter und antisemitischen Touch einer solchen Geste hin. Das Eigentor, das die DB sich damit schoss, wird mit jedem der bislang mehr als 160000 Besucher größer.
Die Bedeutung der Ausstellung wird besonders klar, nachdem man die gut zwei Wartestunden hinter sich gebracht hat und einerseits die vielen immer noch bestehenden Wissenslücken mitbekommt, andererseits aber auch die tiefe Betroffenheit und Bereitschaft der Menschen, sich auf das Thema einzulassen — und das sind Menschen, die oft nur zufällig auf den „Zug der Erinnerung” stoßen (in Köln war das einfach, hier stand der Zug auf Gleis 1, der Dampf der Lok drang fast bis zum Dom).
In Berlin konnte man den Eindruck gewinnen, dass viele Besucher ein Signal gegen Neonazis und Rassismus setzen wollten, aber auch gegen die sture Haltung der Bahn. Auch Neonazis fühlten sich durch den Zug gestört, bei Kundgebungen gegen die Blockadehaltung der DB kam es mit ihnen zu kleineren Zwischenfällen.
Anders als große und hehre Monumente sind Initiativen dieser Art dazu angetan, das Gedenken zu fördern und anzuregen. Das zeigt das anhaltende Interesse. Das nachhaltigste Beispiel für solche Initiativen sind wohl die Stolpersteine des Kölner Künstlers Günter Demnig.


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