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Seit den gewalttätigen Ausschreitungen tibetischer Demonstranten gegen chinesische Ladenbesitzer
und andere Zivilisten, die am 14.3. in Lhasa, der Hauptstadt des Autonomen Gebiets Tibet, begannen und sich
anschließend auf tibetische Siedlungsgebiete in Qinghai, Gansu und Sichuan ausweiteten, erleben wir
eine beispiellose antichinesische Pressekampagne.
Zunächst war diese weitgehend von den
Positionen der Exiltibeter und diverser „Tibet-Solidaritätsgruppen” dominiert. Erst in den
letzten zwei Wochen, vor allem seit der fortgesetzten aggressiven Störung des olympischen Fackellaufs,
sind auch in bürgerlichen Medien vereinzelt Stimmen der Vernunft zu hören bzw. zu lesen. Die
Reaktionen der chinesischen Regierung werden allerdings nach wie vor als völlig überzogen
dargestellt, ihre Berichterstattung als verlogene Propaganda klassifiziert und Stimmen aus der chinesischen
Bevölkerung (Blogger) kaum referiert. Die Chinesen, die hier unter uns leben, haben mit der Website
www.ourvoice.de formal und inhaltlich auf einem Niveau Stellung bezogen, das sich wohltuend von den
fanatischen und teilweise hasserfüllten Statements der notorischen Gutmenschen abhebt. Selbst Jean-Luc
Mélenchon, Senatsabgeordneter der Sozialistischen Partei Frankreichs, spricht in diesem Zusammenhang
von einer „widerlichen Variante von Rassismus gegen Chinesen”
In der Linken gibt es ein Spektrum von
Positionen, das von der kritiklosen Unterstützung der chinesischen Regierung bis zum ebenso
kritiklosen Einstimmen in den Chor der Chinahasser reicht. Besonders schön kann man diese
Meinungsvielfalt in der Partei Die Linke beobachten. Während die hessische Landesvorsitzende ein
Statement publiziert, das China heftig verurteilt und sich in allen wichtigen Punkten der verzerrten
Darstellung der aktuellen Kampagne anschließt, hält eine Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete
eine Rede, in der sie China für die Befreiung Tibets lobt.
Wer hat Recht? Um sich darüber ein
Urteil zu bilden, sei hier die Politik der chinesischen Regierung wie auch die des Dalai Lama dargestellt.
Ohne Frage ist China eine regionale Großmacht auf dem Weg zur Weltmacht, und ebenso ohne Frage hat
die chinesische Gesellschaft mit „Sozialismus” wie immer wir ihn definieren wollen
nur wenig zu tun. Tatsächlich sehen wir eine massive nachholende Entwicklung, die auf Kosten
der Bauern und anderer Unterprivilegierter geht, die weitgehend unter kapitalistischen Vorzeichen
stattfindet und zu extremen Formen von Ausbeutung, Umweltzerstörung und Ungerechtigkeiten aller Art
führt.
Ohne Frage ist China auch keine Demokratie,
nicht im westlichen Sinne und auch anders nicht. Elemente eines „Rechtsstaats” wurden zwar in
den letzten knapp zwei Jahrzehnten entwickelt, sind bisher aber noch nicht über das Stadium der
Keimform hinaus gekommen. Tatsächlich gibt es in China massive Verletzungen der Menschenrechte, vor
allem der politischen, begangen von den Vertretern einer Staats- und Parteibürokratie, die jeden Tag
vor Problemen steht, die vom Umfang her jeden europäischen Politiker vermutlich sofort in die totale
Verzweiflung treiben würden. Allein die schnöde Wahrheit, mit 40% aller Bauern der Welt auf 7%
der weltweiten Anbauflächen 22% der Weltbevölkerung ernähren zu müssen, mag andeuten,
welche Fragen chinesische Politiker wirklich bewegen.
Warum konnte Tibet nicht, wie z.B. die
Mongolei, unabhängig werden? Als die Frage sich für die VR China bei ihrer Staatsgründung
1949 hätte stellen können, war der Kalte Krieg bereits in vollem Gange. Tibet war, trotz seiner
faktischen Unabhängigkeit (19131950) von keinem Land der Welt de jure anerkannt worden. Auf
allen Landkarten der Qing-Dynastie und der chinesischen Republik stand es als Teil Chinas. Es in dieser
Situation aufzugeben, wäre einer Kapitulation gleichgekommen, und das in einer historischen Situation,
in der man soeben gesiegt hatte.
Das 1951 zwischen der tibetischen
Lokalregierung und der chinesischen Zentralregierung geschlossene 17-Punkte-Abkommen wurde vom Dalai Lama
ausdrücklich unterstützt und getragen. Es begründete eine Sonderstellung Tibets innerhalb
Chinas (siehe Kasten) und gab ihr eine verfassungsmäßige Form. Dieser auf der ganzen Welt
einmalige Autonomiestatus wurde durch das politische Abenteurertum tibetischer Eliten im März 1959
verspielt. Leider leistete auch die chinesische Regierung dazu ihren Beitrag.
Die junge chinesische Regierung enteignete
in den frühen 50er Jahren in den tibetischen Siedlungsgebieten (Provinzen), die nicht zu Tibet
gehörten (Qinghai, Gansu und Sichuan) den Grundbesitz der Klöster und des Adels beides an
und für sich positive Ansätze. Entsprechend dem 17-Punkte-Abkommen war Tibet von diesen
Maßnahmen ausgenommen. Die Bodenreform führte jedoch ab 1954 in den tibetischen Provinzen zu
verschiedenen bewaffneten Aufständen und der Flucht eines Teils der feudalen Oberschicht nach Lhasa.
Vermutlich wäre es klüger gewesen, mit diesen Maßnahmen noch zu warten.
Hinzu kamen Gewaltexzesse, die die
Bodenreform in vielen Gebieten Chinas begleiteten. Dadurch wurde die Bereitschaft antichinesischer
Kräfte in der Lokalregierung Tibets, einen Aufstand zu wagen, um Tibet wieder von China zu trennen und
das 17-Punkte-Abkommen zu kündigen, gestärkt. Die in Tibet stationierten Einheiten der
Volksbefreiungsarmee schlugen den Aufstand in Lhasa nieder. Nun fühlte sich auch China nicht mehr an
das 17-Punkte-Abkommen gebunden, der Sonderstatus Tibets war aufgehoben. Die Bodenreform wurde jetzt auch
in Tibet durchgeführt. Dabei gewann die chinesische Regierung durch die Befreiung der Leibeigenen und
die „demokratischen Reformen” zunächst die Unterstützung großer Teile der
tibetischen Bevölkerung sie verspielte diese aber bald wieder, weil alle Kampagnen und
Katastrophen der chinesischen Politik, insbesondere die „Kulturrevolution”, nun ungebremst auf
Tibet durchschlagen konnten.
In der zweiten Hälfte der 60er und in
der ersten Hälfte der 70er Jahre kam es zu gigantischen Zerstörungen tibetischen Kulturerbes und
vor allem zu einer massiven Unterdrückung der Religion. Bis heute unterschätzt die chinesische
Führung die religiöse Bindung weiter Bevölkerungskreise Tibets, auch der ehemals
Unterprivilegierten. Noch schwerer aber wiegt die Tatsache, dass obwohl damals auch viele Tibeter
aktiv an den Zerstörungen der Kulturrevolution beteiligt waren diese in erster Linie als eine
han-chinesische politische Kampagne zur Unterdrückung der tibetischen Kultur wahrgenommen wurde und
damit die ethnischen Widersprüche verschärfte.
1978 begann die KPCh ihre Tibet-Politik zu reformieren. Dies gipfelte im Juli 1981 im 5-Punkte-Plan des
damaligen Generalsekretärs Hu Yaobang, der dem Dalai Lama eine Verständigung anbot (siehe
Kasten). Gleichzeitig begann eine umfassende Förderung tibetischer Sprache und Kultur, der
Wiederaufbau der zerstörten Klöster und eine Phase religiöser Freiheit, die Tibet seit
Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte.
Die Antwort des Dalai Lama und der
„Exilregierung” war alles andere als ermutigend. In den Jahren 1986/87 begannen sie die
internationale „Tibet-Kampagne”, die bis heute anhält. Von 1987 bis 1989 kam es nicht nur
zu zahllosen Demonstrationen, sondern auch zu vier gewalttätigen Unruhen in Tibet. Die Partei
reagierte wie bereits nach 1959: Hus liberale Politik wurde von den Hardlinern als kontraproduktiv
kritisiert auch der Vergleich mit Maos Pro-Dalai-Lama-Politik wurde ausdrücklich gezogen. Ende
1989 kehrte man zu einer modifizierten „harten Linie” zurück, deren äußeres
Kennzeichen die explizite Propaganda gegen den Dalai und seine „Clique” ist.
Doch so erfolglos, wie die Antichinapolitik
des Dalai Lama darin ist, irgendetwas an der Situation zu ändern, so erfolglos ist auch die Politik
der KPCh darin, die Herzen der Tibeter zu gewinnen. Daran können auch die Erfolge der Reformpolitik,
die sich in einer deutlichen Verbesserung des Lebensstandards und der Lebensumstände der Tibeter
bemerkbar machen, nichts ändern. Schuld ist die Unterschätzung des Einflusses der Religion, des
persönlichen Ansehens des Dalai Lama in der Bevölkerung und die von Arroganz, Paternalismus und
Groß-Han-Chauvinismus geprägte Haltung vieler chinesischer Kader exemplarisch dafür
ist der gegenwärtige Parteisekretär Tibets.
Beide Seiten des Konflikts haben sich mit
ihrer Politik in eine Sackgasse manövriert. Die gewalttätigen Unruhen im März dieses Jahres
waren vorprogrammiert. Schon im Januar konnte man bei YouTube das Video eines Tibetan Peoples
Uprising Movement sehen, das die Geschehnisse des März und April ankündigte. Insofern ist
völlig offensichtlich, dass wenn nicht der Dalai Lama persönlich, so doch exiltibetische Kreise
die gut koordinierten Aktionen geplant und mit organisiert haben. Die Hardliner beider Seiten spielen sich
gegenseitig den Ball zu und verhindern jede Lösung des Problems. Schon 1997 hatte Melvyn Goldstein in
seinem lesenswerten Buch The Snow Lion and the Dragon vor einer gewalttätigen tibetischen Intifada
gewarnt. Es steht zu befürchten, dass die Ereignisse der letzten Wochen nur der Auftakt zu einer Welle
von Gewalt und anschließender brutaler Repression in Tibet waren.
Schaffung eines Großtibet unter Abtrennung chinesischer Territorien
Eines kann der westliche Medienkonsument
gar nicht verstehen: Warum wollen „die Chinesen” mit diesem netten, alten Herrn, der
ständig von Gewaltlosigkeit redet und inzwischen auf die Unabhängigkeit Tibets ausdrücklich
verzichtet (!), nicht sprechen? Warum setzen sie sich nicht einfach mal mit ihm zusammen und reden
über alles?
Der XIV.Dalai Lama die
gegenwärtige Reinkarnation des Bodhisattva Avalokitesvara hat eine besondere
Beziehungsgeschichte zu „den Chinesen” Er ist gebürtig nicht aus Tibet, sondern stammt aus
dem kleinen Dorf Daktser nahe der Grenze zwischen den Provinzen Qinghai und Gansu, einer Gegend, die
kulturell eher islamisch geprägt ist. Er trug den chinesischen Familiennamen Qi, spricht angeblich bis
heute recht gut Chinesisch und hat von 1951 bis 1959 bestens mit Mao Zedong und der damaligen chinesischen
Regierung kooperiert. Er hat sich zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses des
Nationalen Volkskongresses wählen lassen (damit ist er stellvertretender Parlamentspräsident
Chinas), er wurde Ehrenvorsitzender der Chinesisch-Sowjetischen Freundschaftsgesellschaft, er schrieb
hymnische Lobgedichte auf und an Mao, und er stand den prochinesischen Kreisen der tibetischen Eliten nahe.
Das gäbe eine Menge Anknüpfungspunkte für beide Seiten.
Tatsache ist aber auch, dass „die
Chinesen” sich vom Dalai Lama betrogen fühlen, und er selbst weiß, dass sie damit,
zumindest subjektiv, nicht ganz Unrecht haben. Im März 1959 stand er bis zuletzt gegen den vom CIA
unterstützten und mitorganisierten Putschversuch der klerikal-feudalen Eliten, der von den
Exiltibetern heute als „Volksaufstand” verkauft wird. Dann, als scharf geschossen wurde,
verschwand er plötzlich und tauchte in Indien wieder auf. Der Verdacht lag nahe, er sei entführt
worden und so stellte es die chinesische Regierung zunächst auch dar. Er selbst bestreitet das
heute mit Nachdruck. Tatsache ist, dass er damals ein sehr junger Mann war 16 bei der
Wiedervereinigung Tibets mit China, 24 bei seiner Flucht und dass er seitdem unter dem Einfluss der
geflohenen tibetischen Ex-Eliten stand.
Dass man in der klerikal-feudalen Elite
Tibets recht übersichtlich zwischen pro- und antichinesischen Kräften unterscheiden konnte (und
kann), ist übrigens keineswegs eine Entwicklung der 50er Jahre, sondern ein jahrhundertealtes
Phänomen. Der junge Dalai Lama war damals so etwas wie ein Joker im Ärmel: Wer ihn
„hatte”, der hatte so gut wie gewonnen. Niemand hat das so gut erkannt wie Mao Zedong. Aus
Leibwächterkreisen wird ein Dialog aus dem Frühjahr 1959 kolportiert, der stattgefunden haben
soll, als Mao die Nachricht überbracht wurde, die chinesische Volksbefreiungsarmee habe
„gesiegt” und den Aufstand niedergeschlagen. Mao soll sofort gefragt haben: „Und der
Dalai Lama?” Die Antwort: „Der ist uns leider nach Indien entkommen!” Darauf soll er
entgegnet haben: „Dann haben wir nicht gesiegt, sondern verloren!"
Mao hatte acht Jahre lang auf den Dalai
Lama als Schlüssel zur Tibetfrage gesetzt und die Kräfte in seiner Partei, die den Einfluss des
Dalai Lama verringern wollten, bekämpft. Die heutige politische Führung der VR China steht fast
ausschließlich in der Tradition der Parteikreise, die damals gegen Mao und gegen den Dalai Lama
standen. Diese fühlten sich bestätigt, und „ihr Mann”, der Bainqen Erdeni
("Panchen Lama"), nahm schon Anfang der 60er Jahre alle politischen und repräsentativen Posten
ein, die vordem der Dalai innegehabt hatte.
Im indischen Exil wurde aus dem jungen Mann, der mit Mao kooperierte, der erfolgreiche „geistliche
und weltliche Führer” von heute. Er macht seit über einem Vierteljahrhundert mit dem
„Exilparlament” und der „Exilregierung”, mit seiner sich weltweit verbreitenden
Wellness-Religion, seinen Quasi-Staatsbesuchen und Reden vor Parlamenten und Ausschüssen nicht nur
immer einen guten Eindruck, sondern auch hammerharte Politik. Immer wieder nimmt er eine Position ein, die
konziliant zu sein scheint, sich bei genauerem Hinsehen aber für die chinesische Seite als völlig
unannehmbar erweist und von ihr auch als bewusste Provokation verstanden werden muss. Sein jüngstes
Statement seiner Heiligkeit des Dalai Lama an alle Tibeter vom 6.April ist ein weiteres Beispiel
dafür.
Nicht nur erwähnt er mit keinem Wort
die Ermordung chinesischer Ladenbesitzer und anderer Zivilisten durch tibetische Gewalttäter am 14.3.
(wenigstens betet er auch für die han-chinesischen Todesopfer), er wiederholt auch den Anspruch, ein
zukünftiges Tibet, das „sinnvolle Autonomie” innerhalb Chinas haben sollte, müsse aus
allen tibetischen Siedlungsgebieten bestehen, also auch Qinghai sowie Teile von Gansu, Sichuan und Yunnan
umfassen. Er weiß natürlich genau, dass keines dieser Gebiete seinerzeit Teil des von 1913 bis
1950 faktisch unabhängigen Tibets war und dass er auch keines davon in der Zeit seiner Zusammenarbeit
mit der chinesischen Führung (19511959) regierte. Er weiß genau, dass die meisten dieser
Gebiete seit Jahrhunderten nicht mehr von Lhasa aus regiert wurden und zusammen mit Tibet rund ein Viertel
des chinesischen Territoriums ausmachen würden (Tibet allein knapp 13%). Von der chinesischen
Regierung zu erwarten, sie würde als „Kompromiss” den Exiltibetern ihr erträumtes
Großtibet quasi frei Haus liefern, ist bestenfalls politisch naiv, in Wirklichkeit aber vermutlich
dazu gedacht, ernsthafte Verhandlungen von vornherein zu verunmöglichen.
In vollendeter Scheinheiligkeit fordert der
Dalai Lama darüber hinaus, China möge Polizei und Armee aus all diesen Gebieten abziehen.
Für den Fall, dass das geschähe, würde er dazu aufrufen, alle laufenden Proteste zu beenden.
Im Sinne eines auch nur kleinen Fortschritts in der Tibetfrage hat der Dalai Lama damit seine völlige
Politikunfähigkeit dokumentiert. Gerade deshalb bin ich der Meinung, Hu Jintao und/oder Wen Jiabao,
jeweils Staats- bzw. Regierungschef von China, sollten sich unbedingt bald mit ihm treffen. Sie sollten
dazu so viele internationale Medienvertreter einladen wie möglich. Dann könnte aller Welt gezeigt
werden, wer die enormen Fortschritte der letzten 30 Jahre, die eine harmonische Integration der tibetischen
Kultur und einen Interessenausgleich zwischen tibetisch-autochthoner Entwicklung und multiethnisch-
zentralstaatlicher Basis hätten möglich machen können, fortwährend torpediert und
letztlich doch für Spaltung und nicht für Einheit kämpft.
Eine praktikable Lösung könnte
allenfalls eine gemeinsame Kultur- und Religionspolitik für alle tibetischen Siedlungsgebiete
beinhalten, aber ganz sicher keine Abtrennung von Territorien chinesischer Provinzen. Dagegen würden
sich auch die vielen Millionen dort lebenden Muslime, Mongolen und Han-Chinesen massiv zur Wehr setzen.
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