SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2008, Seite 15

Tibet ist ein Vorwand

Warum ich gegen den Boykott der Olympischen Spiele in Peking und die aktuelle antichinesische Propagandakampagne bin

von JEAN-LUC MÉLENCHON

Ich bin kein chinesischer Kommunist, und ich werde nie einer sein. Aber ich bin nicht einverstanden mit den Aktionen für einen Boykott der Olympischen Spiele. Ich lehne es ab, wie bei dieser Operation die Geschichte Chinas umgeschrieben wird. Ich teile nicht die scheinheilige Begeisterung für den Dalai Lama und das Regime, das er verkörpert. Für mich wäre der Boykott der Spiele ein ungerechter und verletzender Affront gegen das chinesische Volk. Wenn man das Regime von Peking generell in Frage stellen wollte, hätte man das in dem Moment tun müssen, als Peking die Olympischen Spiele zugesprochen wurden. Man hätte China als Kandidat ablehnen und dies China sagen müssen. Was jetzt geschieht, ist eine billige, ungerechte Beleidigung der Millionen Chinesen, die sich die Spiele gewünscht haben und sie jetzt aktiv vorbereiten.
Mit einem Dünkel, der einen rassistischen Beigeschmack hat, protestiert man gegen eine Regierung, deren führende Vertreter nicht beim Namen genannt werden und die man behandelt, als existiere sie gar nicht. Das arrogante Abendland bringt es nicht fertig, die Namen derer korrekt zu nennen, die die Schicksale eines Volkes von 1,4 Milliarden Menschen lenken. Letztere hält man für so schwach, dass sie sich nur von der politischen Polizei beherrschen lassen! Wenn ich das alles sehe, dann erinnert mich das irgendwie an die Verachtung, die die Kolonisatoren demonstrierten, als sie seinerzeit die Chinesen mit der Waffe in der Hand zum Opiumhandel zwangen.
Die Vorfälle in Tibet sind ein Vorwand — geschaffen für ein Publikum, das gewohnt ist, die ständige Wiederholung von Bildern als Beweis zu nehmen, statt selber nachzudenken. Dabei ergibt schon ein genaueres Betrachten dieser Bilder, dass die „Vorfälle von Tibet” mit einem Pogrom von „Tibetern” gegen chinesische Händler begonnen haben. In welchem Land der Welt wird gegen solche Ausschreitungen nichts unternommen? Ist das Leben eines chinesischen Händlers weniger wert als das eines „tibetischen” Demonstranten, der ihn mit dem Knüppel auf der Straße erschlägt? Hier Freundschaft für die Tibeter zu bekunden, ist nichts anderes, als eine widerliche Variante von Rassismus gegen Chinesen zu demonstrieren...
Tibet gehört seit dem 14.Jahrhundert zu China. Lhasa stand unter chinesischer Hoheit lange bevor Besançon oder Dôle unter die des französischen Königs kamen. Ein Ereignis der chinesischen Revolution als „Einmarsch” von 1959 zu beschreiben, ist irreführend. Spricht jemand davon, dass Frankreich in die Vendée „einmarschiert” sei, als die Armeen der Republik dort den Aufstand der Royalisten niederwarfen? Der Dalai Lama und andere tibetische Würdenträger haben alles akzeptiert, was das kommunistische China ihnen nach 1951 angeboten hat. So hat z.B. „Seine Heiligkeit” es nicht verschmäht, den Posten des stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalen Volkskongresses (Parlament) zu übernehmen. Das lief so bis 1956, als das kommunistische Regime beschloss, in Tibet und den angrenzenden Gebieten die Leibeigenschaft zu beseitigen. Mit dem Bruch einer Tradition, den ich voll und ganz billige, haben die Kommunisten Vorschriften abgeschafft, die die Bevölkerung in drei Kategorien und neun Klassen einteilten, wo das Menschenleben von sehr verschiedenem Wert war. So hatten die Besitzer der Leibeigenen und Sklaven das Recht der Entscheidung über deren Leben und Tod, und sie konnten Folter anordnen. Heute spricht niemand mehr davon, welchen Status die Frauen im alten Tibet hatten. Aber man kann sich darüber informieren, wenn es einen interessiert. Der kommunistische Staat hat den gewaltsamen Kämpfen zwischen Lokalfürsten des angeblichen Paradieses der Gewaltlosigkeit ein Ende gesetzt, ebenso den blutigen Strafen, die die Mönche an Verletzern der von ihnen gehüteten religiösen Vorschriften vollzogen. Die tibetische Version der Scharia hat erst mit den Kommunisten ein Ende gefunden.
Der Aufstand von 1959 wurde von den USA im Rahmen des Kalten Krieges vorbereitet, bewaffnet, unterstützt und finanziert. Der schreckliche „Einmarsch” setzte der gesegneten Tradition des Regimes des Dalai Lamas ein Ende. Seitdem gehen 81% der Kinder in Tibet zur Schule, während es in der Zeit der Tradition nur 2% waren. Die durchschnittliche Lebenserwartung der ehemaligen Leibeigenen des Tals der Tränen von 35,5 Jahren ist in der heutigen chinesischen Hölle auf 67 Jahre gestiegen. Ebenso wie sich die „Vernichtung” der Tibeter darin zeigt, dass ihre Zahl seit 1959 von einer Million auf 2,5 Millionen angestiegen ist. Aus all diesen Gründen ist mehr Umsicht und mehr Respekt für die Chinesen angesagt als die Verbreitung lächerlicher Klischees durch Leute, die weder für sich selbst noch für ihre Frauen und Kinder ein so jammervolles Regime wünschen, wie das der buddhistischen Mönche von Tibet eines war.
Was für ein Tibet wird hier eigentlich gefordert? „Groß-Tibet”, einschließlich der Provinzen Yunnan und Sichuan, wo im ehemaligen Herrschaftsbereich der Mönche gleichzeitig mit Lhasa Unruhen organisiert wurden? Zweifellos will kaum einer von denen, die sich heute so über Tibet erregen, wirklich wissen, was dies in der Praxis bedeutet. Nichts charakterisiert besser den neokolonialistischen Paternalismus der protibetischen Kampagne als die Gleichgültigkeit gegenüber solchen Fragen, die Millionen von Menschen und Jahrhunderte chinesischer Geschichte und Kultur einfach so in Frage stellen.

Der Autor ist Mitglied des französischen Senats und der Sozialistische Partei (PS). Von der Redaktion gekürzt.



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