SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 03

"Der Hunger brennt uns Löcher in den Magen"

Weltweite Revolten gegen die Teuerung

von ANGELA KLEIN

Frauen und Textilarbeiter standen vielfach an der Spitze der Hungerrevolten, die sich wie ein Lauffeuer Anfang April um den Globus ausbreiteten.
Drei Milliarden Menschen — die Hälfte der Menschheit — leben von weniger als 2 Dollar am Tag. Für sie sind die Preise für Grundnahrungsmittel in den vergangenen Monaten jedoch ebenso gestiegen wie in Europa: Grain wurde 2007 auf dem Weltmarkt um 42% teurer, Milchprodukte um 80%, Weizen um 130% und Reis um 74%. Laut Angaben der UNO hat sich eine Mahlzeit in den armen Ländern um 40% verteuert — das ist ein Durchschnittswert. In über 30 Ländern rund um die Welt brachen daraufhin vor allem im April Streiks, Massenaufstände und Hungerrevolten aus, die sich gegen die drastische Verteuerung und Verknappung von Grundnahrungsmitteln richteten.

Haiti

Sechs Tage dauerten die Aufstände in Haiti Anfang April. Haiti ist das ärmste Land der Welt; hier leben 80% der Bevölkerung von weniger als 2 Dollar pro Tag, ein Erwachsener muss mit 1640 Kalorien auskommen, 640 weniger als der Durchschnitt. Arme Familien essen kleine Kuchen aus Tonschlamm, die ein wenig Salz und Fett enthalten.
Sie nahmen ihren Ausgang in Les Cayes, Hauptstadt der Südprovinz und drittgrößte Stadt des Landes. Tausende zogen auf die Straße gegen die Teuerung, die Menge setzte eine UN-Polizeistation in Brand, während gleichzeitig Reis von Traktoren gestohlen wurde. Die Bewegung breitete sich innerhalb von drei Tagen im ganzen Land aus.
Am 7.April begann in der Hauptstadt Port-au- Prince ein viertägiger Aufstand, der das gesamte Wirtschaftsleben lahm legte: die UN-Polizei (Minustah) ging mit Tränengas und Gummiknüppeln gegen die Menge vor; vier Menschen starben.
Supermärkte und Reisdepots wurden auch hier geplündert. Sie quellen über von Reis, Mehl und anderen Grundnahrungsmitteln aus UN- Hilfsprogrammen, dazu gedacht, an die notleidende Bevölkerung verteilt zu werden. Die Regierung hat sie jedoch gehortet, um die Preise hoch zu halten und sie auf dem Schwarzmarkt teuer verkaufen zu können.
Am 8.April versuchten deshalb Tausende, den Präsidentenpalast zu stürmen, und forderten den Rücktritt von René Préval, Präsident von US-Gnaden. Préval musste zurücktreten um zu verhindern, dass ihn dasselbe Schicksal ereilte wie 1986 Jean-Claude Duvalier.
Haiti wird vollständig von wenigen Familien kontrolliert: Mevs, Brant, Biggio, Boulos u.a. Wenige Großgrundbesitzer kontrollierten schon immer seit der Kolonialzeit die landwirtschaftliche Produktion, die vollständig auf die Belieferung des US-amerikanischen Marktes ausgerichtet war.
Seit der Reagan-Ära aber haben sie die Produktion im Inland aufgegeben und sich darauf verlegt, dieselben Nahrungsmittel zu importieren und diesen Import vollständig zu kontrollieren. Ihre Profite investieren sie nicht in Haiti, sondern anderswo. In Haiti selbst wird deshalb nur noch wenig Reichtum hergestellt; die Mehrzahl der Bevölkerung überlebt dank der Überweisungen von Auswanderern.

Ägypten

Im Mittelpunkt der Aufstände in Ägypten standen die Beschäftigten der Textilbetriebe in Mahalla al-Kubra, einer Stadt im Nildelta. Sie führen seit Dezember 2006 Arbeitskämpfe für höhere Löhne. Fast die Hälfte der Einwohner des Landes lebt von weniger als 2 Dollar am Tag. Die Menschen stehen vor den Bäckereien Schlange, die subventioniertes Brot verkaufen. Hier hat es in jüngster Zeit 15 Tote durch Schlägereien gegeben. Die unabhängige Textilarbeitergewerkschaft fordert die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns von derzeit 6,40 US-Dollar auf 222 US-Dollar.
Am 8.April sollten Kommunalwahlen stattfinden. Die Opposition — arabische Nationalisten, moderate Islamisten und Sozialisten — hatte ein gemeinsames Bündnis namens Kifaya (Genug) geschlossen — die ägyptische Bewegung für einen Wandel. Das Bündnis rief dazu auf, an dem Tag in einen landesweiten Streik zu treten und jede wirtschaftliche Aktivität zu boykottieren. Um die Ausnahmegesetze zu umgehen, mobilisierten die Organisatoren über SMS und das Internetportal Facebook.
Der Staatsapparat aber bekam Wind davon und wies die Polizei an, in jeder Stadt des Landes die wichtigsten Plätze mit Einheiten zur Aufstandsbekämpfung zu besetzen. Dennoch blieben Hunderttausende zu Hause.
In Mahalla brach der Aufstand schon zwei Tage vorher los. Weil sich die regierungsfreundliche Gewerkschaft gegen den Streik stellte und zu befürchten war, dass die Fabriken von der Polizei besetzt würden, verabredeten sich die Arbeiter, dem schon am 6.April mit einer eigenen Besetzung zuvorzukommen. Sie kamen jedoch zu spät, die Polizei war schon da. 25000 Menschen zogen daraufhin durch die Innenstadt. Die Polizei griff brutal ein und provozierte stundenlange Straßenschlachten.
"An dem Tag sah es in den Straßen von Mahalla aus wie in Gaza”, berichten mehrere Augenzeugen und bezeichnen das als eine „kleine Intifada” Im Verlauf der Kämpfe hat die Polizei einen 15-jährigen Jungen erschossen, der aus seinem Fenster zuschaute. In den darauffolgenden Tagen wurden vier weitere Menschen von der Polizei erschossen; Hunderte wurden verhaftet.

Elfenbeinküste

Ende Mai gab es in mehreren Stadtvierteln von Abidjan, der Hauptstadt des Landes, Demonstrationen gegen den Hunger. Wie auch in Haiti, wurden sie vor allem von Frauen angeführt, die mit Kochtöpfen und anderem Küchengerät auf die Straße gingen. Die Polizei ging sehr gewalttätig gegen sie vor, es ist von mindestens zwei Erschossenen und mehreren, die von Kugeln getroffen wurden, die Rede.
Ähnliche Demonstrationen gab es in Dakar (Senegal) und in anderen afrikanischen Ländern. In Kamerun soll es bei Zusammenstößen mit der Polizei 40 Tote gegeben haben.

Bangladesh

Über 20000 Textilarbeiterinnen aus Dutzenden Textilfabriken protestierten am 12.April trotz Ausnahmezustand gegen die Explosion der Lebensmittelpreise. Über 85% der über 2 Millionen Beschäftigten in der Textilindustrie, die für internationale Monopole wie Levis oder H&M arbeiten, sind Frauen. Sie verdienen im Schnitt 23 US-Dollar, 70% davon gehen für Reis drauf. Der Preis für Reis, das Hauptnahrungsmittel in diesem Land, hat sich jedoch verdreifacht. Hungernde Arbeiter plünderten Geschäfte, in denen Reis und andere Nahrungsmittel in ausreichender Menge, aber zu unbezahlbaren Preisen gehortet wurden, und verteilten die Lebensmittel. Als die Polizei anrückte, errichteten sie Straßenblockaden.
In Thailand hat das Militärregime entlang der Reisfelder bewaffnete Soldaten aufgestellt, damit die Hungernden sich dort nicht bedienen.

Rumänien

In der letzten Märzwoche traten rund 10000 Arbeiter des Dacia-Werks in Pitesti, 120 km von Bukarest entfernt, in den Streik, ein Tochterunternehmens des französischen Autobauers Renault. Sie protestierten gegen ihre Hungerlöhne und forderten eine Gehaltssteigerung von 42%, mehr Weihnachtsgeld und eine Beteiligung am Unternehmensgewinn. Die gesamte Produktion wurde lahmgelegt. Die Streikenden orientierten sich erstmalig nicht an den landesüblichen Löhnen, sondern verglichen sich mit Arbeitern von Renault in der Türkei oder Frankreich, die für die gleiche Arbeit 900 bzw. 2000 Euro erhalten, für die in Rumänien höchstens 300 Euro gezahlt werden.
Der Streik wurde erst am 10.April beigelegt; er endete mit einer Lohnerhöhung von knapp 90 Euro, ab September kommen dazu noch einmal 20 Euro. Als Gewinnbeteiligung gibt es eine Jahresprämie in Höhe eines Bruttolohns.


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