SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 04

Bundestag sagt Ja zum EU-Reformvertrag

Staatsstreich von oben

von WILHELM NEUROHR

Der historische Tag, den Bundeskanzlerin Merkel euphorisch zum „Freudentag für Europa” erklärte, war in Wirklichkeit ein „schwarzer Tag” für die Bürger Europas: Sie wurden nämlich nicht gefragt, ob sie dem sog. Lissabonner „EU-Reformvertrag” als gültigen Verfassungsersatz für Europa mehrheitlich zustimmten. Der Bundestag hat am 24.April jedoch seine eigene Unmündigkeit beschlossen und durch eine Art „Putsch von oben” wesentliche Teile seiner demokratischen Kompetenzen und des Grundgesetzes verfassungswidrig außer Kraft gesetzt, ohne die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit.
Die EU-Ersatzverfassung bleibt weit hinter unserem Grundgesetz und der UN-Menschenrechtserklärung zurück und setzt die demokratische Gewaltenteilung und den Föderalismus mitsamt Subsidiaritätsprinzip außer Kraft — laut Bundestagspräsident Norbert Lammert ist diese Machtverschiebung politisch so gewollt. Mit einem juristischen Taschenspielertrick hat man zu diesem Zweck hinter verschlossenen Türen unter Mithilfe von Lobbyisten die gescheiterte EU-Verfassung in einen fast inhaltsgleichen „Reformvertrag” umgetauft. Diesen will man eiligst noch vor der Europawahl 2009 in Kraft setzen, um Diskussionen mit kritischen Bürgern zu umgehen, obwohl eine öffentliche Diskussion versprochen worden war. Was hat man vor den Menschen in einem angeblich „demokratischen Europa” zu verbergen, die man nur als Stimmvieh an den Wahlurnen benötigt?
Will man verschleiern, dass es wohl das letzte Mal war, dass die 27 Nationalparlamente der EU-Mitgliedstaaten in Europa-Angelegenheiten oder in wichtigen nationalen Angelegenheiten, geschweige bei Militäreinsätzen, überhaupt etwas mitzubestimmen hatten? Denn fortan gilt das höherrangige EU-Recht aus der Brüsseler Regierungszentrale, die nun für 90% aller Rechtsnormen allein für die Mitgliedstaaten zuständig ist, nicht zuletzt für die gesamte Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die Handelspolitik.
Wie in totalitären Staatssystemen obliegt in der EU die gesetzgebende Gewalt und die Kontrolle der Regierung nicht dem demokratisch legitimierten EU-Parlament, sondern alle Macht liegt in einer Hand, sprich: bei der allmächtigen EU- Kommission und dem Ministerrat. Elementare demokratische Grundsätze der Gewaltenteilung werden verletzt! Dagegen ist Putins Staatssystem eine geradezu „lupenreine Demokratie”
60 Jahre nach Inkrafttreten des deutschen Grundgesetzes bedeutet das einen demokratischen Rückschritt und zudem einen Systemwechsel im politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bereich. Fortan haben die neoliberalen Wirtschaftsinteressen Verfassungsrang und Vorrang vor den sozialen und bürgerlichen Freiheitsrechten (siehe auch Seite 10). Diese werden zugunsten von Lohndumping durch unternehmerische Freiheiten ersetzt — Handelsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, freier Waren- und Dienstleistungsverkehr. Alle EU-Staaten werden zudem per Verfassung zu alljährlichem Aufrüsten statt zu Abrüstung gezwungen, über sein Einhaltung wacht eine eigene Rüstungsagentur. Künftig sind Wirtschaftskriege für Rohstoff- und Handelsinteressen zulässig. In Kriegszeiten wird zudem die Todesstrafe wieder eingeführt und bei „aufrührerischen” Demonstrationen kritischer EU-Bürger der Todesschuss zugelassen.
Roman Herzog (CDU), Ex-Bundespräsident und Verfassungsrichter sowie Vorsitzender des Konvents für die EU-Grundrechtecharta, hat Zweifel geäußert, ob man „unsere Bundesrepublik noch uneingeschränkt als parlamentarische Demokratie” bezeichnen kann. Sein Unionskollege Gauweiler hat Verfassungsbeschwerde gegen den EU- Reformvertrag eingereicht. Auch das tschechische Parlament lässt den EU-Vertrag erst vom Verfassungsgericht kritisch überprüfen. Der Rechtswissenschaftler und Parteienkritiker Herbert von Arnim spricht von „Pseudodemokratie” und von „Erosion des Rechtsstaats” Europaweit sammeln kritische Bürger Unterschriften, um eine Volksabstimmung über den umstrittenen EU- Reformvertrag zeitgleich mit der Europawahl 2009 zu erwirken. Das verdient die Unterstützung aller Demokraten.

Wilhelm Neurohr ist Ver.di-Gewerkschafter, Personalratsvorsitzender und Agenda-Beauftragter einer Kreisverwaltung und Autor des Buches Ist Europa noch zu retten?, Dornach: Pforte Verlag, 2008.




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