SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 08

Mindestlohn

Kirchen nutzen Sonderstatus und verweigern Mindestlohn

von JÜRGEN KLUTE

Mit Kirche verbindet man gewöhnlich ein Gebäude und die dazugehörige Gemeinde — und natürlich eine gehörige Portion Weltanschauung. Dass nach dem dramatischen Rückgang industrieller Arbeitsplätze die Kirchen und vor allem ihre Wohlfahrtsverbände, Diakonie und Caritas, zu den größten Arbeitgebern in der Republik gehören, fällt erst bei genauerem Hinschauen auf.
Etwa 1,3 Millionen Menschen arbeiten hier, davon etwa 70% Frauen. Die Diakonie zählt rund 450000 Beschäftigte, die Caritas gut 500000. Beide Wohlfahrtsverbände zusammen kommen auf knapp 1 Million Beschäftigte und dominieren damit den Sozial- und Gesundheitssektor. Bundesweit stellen beide Verbände etwa 60% dieser Dienste bereit (bei starken regionalen Unterschieden).
Ökonomisch betrachtet repräsentieren sie einen relevanten Teil der sog. Dienstleistungsgesellschaft. Einen Teil, der aber noch nicht restlos der Profitmaximierungslogik unterworfen ist.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass die Kirchen in den letzten Wochen im Kontext der Debatte um Mindestlöhne für den Pflegesektor öffentlich in die Kritik geraten sind. Weil die Kirchen keine Tarifverträge haben, sondern auf der Basis von Art.140 GG auf einem arbeitsrechtlichen Sonderweg bestehen, kann für die Pflegebranche nicht die sog. Halbdeckung erreicht werden, es sei denn, die Beschäftigten der Kirchen werden bei der Ermittlung der Halbdeckung nicht berücksichtigt.
Halbdeckung bedeutet, dass mindestens 50% der Beschäftigten einer Branche unter einen Tarifvertrag fallen müssen, sonst kann nach geltendem Recht der entsprechende Branchentarif nicht in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufgenommen werden.
Teile der Diakonie wehren sich gegen einen Mindestlohn, insbesondere der radikal-neoliberale, 1998 gegründete, Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland (V3D), der seit 1999 auch Mitglied des BDA ist. Aber auch Dachverbände von Caritas und Diakonie stehen einem Mindestlohn zurückhaltend bis ablehnend gegenüber.
Der Grund ist nicht ganz unverständlich. Im Zuge der Agenda 2010 hat die rot-grüne Bundesregierung einen gnadenlosen Wettbewerb im Sozial- und Gesundheitssektor durchgesetzt (der durchaus der neoliberalen EU- Dienstleistungspolitik entspricht), um die sog. Lohnnebenkosten zu senken. Seitdem sind die Sozialkassen nicht mehr verpflichtet, bei der Aushandlung von Pflegesätzen die Tariflöhne zu berücksichtigen.
In einer Branche, in der die Personalkosten den höchsten Ausgabenanteil ausmachen, hat das einen enormen Druck auf die Löhne zur Folge. Das trifft natürlich nicht nur die kirchlichen, sondern alle Wohlfahrtsverbände. Den kirchlichen Verbänden kommt hier aber aufgrund ihrer Größe eine Schlüsselrolle zu.
Bisher haben sie auf diesen politisch erzeugten Wettbewerbsdruck (der oft fälschlicherweise als Sozialmarkt bezeichnet wird, obgleich hier von Markt nicht die Rede sein kann) nur betriebswirtschaftlich reagiert, eben in Form von Lohnsenkungen und Arbeitsverdichtung. Die Kirchen haben ihren eigenen arbeitsrechtlichen Weg dabei als Wettbewerbsvorteil zu nutzen gelernt.
Die Kirchen stehen damit im Widerspruch zu ihrem 1997 herausgegebenen Sozialwort, in dem sie fordern, dass der Markt nicht oberster Maßstab sein darf, in dem sie gerechte und auskömmliche Löhne und die Bekämpfung der politischen Ursachen sozialer Ungerechtigkeit einfordern. Im Sinne einer Selbstverpflichtung heißt es sogar, Lohnkürzungen dürften in der Kirche nur im mittleren und oberen Einkommensbereich in Frage kommen, denn „gute Arbeit verdient ihren gerechten Lohn”
Den Kirchen ist deshalb heute eine klare Aussage zugunsten von gesetzlichen Mindestlöhnen abzufordern, aber auch, dass sie sich mit dem politisch erzeugten Ökonomisierungsdruck auf soziale und Gesundheitsdienstleistungen politisch auseinandersetzen und — im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Gruppen — eine ausreichende Finanzierung dieses Sektors einfordern.
Wichtig ist dies auch deshalb, weil es eine dringend nötige Verteidigung dieser Dienste gegen eine drohende Privatisierungswelle in diesem Sektor darstellt. Kirchen und Wohlfahrtsverbände sind zwar keine öffentlich-kommunalen, sondern zivilgesellschaftliche Dienstleister.
Entscheidend ist aber, dass sie noch nach dem Non-Profit-Prinzip arbeiten, also nach Bedarfsgesichtspunkten und nicht nach Profitmaximierungsgesichtspunkten. Dies gilt es zu verteidigen und im zweiten Schritt zu einem Sektor auszubauen, der nicht privatwirtschaftlich, sondern gesellschaftlich im Sinne einer Wirtschaftsdemokratie organisiert ist.

Jürgen Klute ist evangelischer Pfarrer und Sozialethiker und Mitglied der Partei DIE LINKE.


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