SoZ - Sozialistische Zeitung |
Am 3.April hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg
entschieden, dass ein Bundesland bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen keine Tariflöhne
vorschreiben kann. Dieses Urteil ist von elementarer Bedeutung, weil der EGV (Vertrag zur Gründung der
Europäischen Gemeinschaft) den wirtschaftlichen Grundfreiheiten eine höhere Priorität
einräumt als den arbeitsrechtlichen Koalitionsfreiheiten. Es stellt insbesondere die Bestrebungen der
SPD in Frage, einen Mindestlohn über Entsenderichtlinien in einzelnen Branchen durchzusetzen.
Das Oberlandesgericht Celle hatte den EuGH
gebeten zu prüfen, ob das niedersächsische Landesvergabegesetz mit der Dienstleistungsfreiheit
nach Art.49 des EGV vereinbar ist. Nach niedersächsischem Gesetz dürfen Aufträge für
Bauleistungen nur an solche Unternehmen vergeben werden, die sich schriftlich verpflichten, ihren
Beschäftigten mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu
bezahlen. Der Auftragnehmer ist zudem daran gebunden, dass er diese Verpflichtung auch Nachunternehmern
auferlegt und ihre Beachtung überwacht. Bei Nichteinhaltung wird eine Vertragsstrafe fällig. Damit
soll unfairer Wettbewerb zulasten der Löhne verhindert werden.
Der EuGH sah im niedersächsischen
Landesvergabegesetz einen Verstoß gegen geltendes EU-Recht. Seiner Meinung nach können
ausländische Unternehmen, die Staatsaufträge in Deutschland annehmen, nicht dazu verpflichtet
werden, Tariflöhne zahlen. Das Urteil bindet die deutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung, weil das EG-
Recht dem nationalen Recht vorgeht. Dies bildet einen der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts.
Die wirtschaftsliberalen Grundfreiheiten
bilden den Kern der europäischen Verträge. Sie werden im Vertrag von Lissabon fortgeschrieben.
Bislang war die Debatte um diesen Vertrag für viele Bürger eher abstrakt, weil eine Kritik an sog.
Freiheitsrechten immer schwierig ist, solange nicht konkret wird, zu wessen Lasten die Wirtschaftsfreiheiten
gehen und wozu sie führen können.
Im genannten Fall ging es um den Bau des Gefängnisses in Rosdorf bei Göttingen. Aufgrund der
Bestimmungen des niedersächsischen Landesvergabegesetzes verpflichtete sich das beauftragte Unternehmen
Objekt und Bauregie GmbH den beim Bau der Justizvollzugsanstalt eingesetzten Beschäftigten die im
Baugewerbetarifvertrag festgeschriebenen Löhne zu zahlen. Ein polnisches Unternehmen, Subunternehmer
von Objekt und Bauregie, zahlte jedoch seinen auf der Baustelle eingesetzten 53 Arbeitern nur 46,57% des
Tariflohns.
Nachdem der Werkvertrag aufgrund von
Strafverfolgungsmaßnahmen gekündigt worden war, stritten das Land Niedersachsen und der
Insolvenzverwalter über das Vermögen des Unternehmens Objekt und Bauregi, und darüber, ob es
wegen Verletzung der Entgeltverpflichtung zur Zahlung einer Vertragsstrafe in Höhe von 84934,31 Euro
(entsprechend 1% der Auftragssumme) verpflichtet sei.
Das Oberlandesgericht Celle als
Berufungsgericht hatte Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der die Vertragsstrafe vorsehenden
Bestimmungen und legte die Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vor. Die Frage lautete:
Steht der freie Dienstleistungsverkehr der gesetzlichen Verpflichtung eines öffentlichen Auftragnehmers
entgegen, den Arbeitnehmern mindestens das tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu zahlen? Der EuGH bejahte
diese Frage und begründete:
"Der Lohnsatz nach dem Baugewerbe-
Tarifvertrag ist nicht nach einer der in der Richtlinie vorgesehenen Modalitäten festgelegt worden.
Zwar gibt es in Deutschland ein System zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, doch
ist der Baugewerbe-Tarifvertrag nicht für allgemein verbindlich erklärt worden. Außerdem
erstreckt sich die Bindungswirkung dieses Tarifvertrags nur auf einen Teil der Bautätigkeit, da zum
einen die einschlägigen Rechtsvorschriften nur auf die Vergabe öffentlicher Aufträge
anwendbar sind und nicht für die Vergabe privater Aufträge gelten und zum anderen der Tarifvertrag
nicht für allgemein verbindlich erklärt worden ist. Die landesrechtlichen Vorschriften entsprechen
somit nicht den Bestimmungen der Gemeinschaftsrichtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern, nach
denen die Mitgliedstaaten bei einer staatenübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen den in
anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen Mindestlohnsätze
vorschreiben können."
Rosdorf ist nicht der einzige Fall; es gibt zwei weitere Fälle, die in dieselbe Richtung weisen:
Die Viking Line ist eine finnische
Fähre, die zwischen Finnland und Estland verkehrt. Damit sie die estnische Besatzung nach estnischem
Lohnniveau beschäftigen kann, hat das Unternehmen angekündigt, die Fähre in Estland
umzuflaggen. Daraufhin hat die finnische Seeleutegewerkschaft (FSU) angekündigt zu streiken und Viking
Line aufgefordert, auch im Falle einer Umflaggung das finnische Recht weiter zu beachten, die finnische
Besatzung nicht zu entlassen und einen Tarifvertrag abzuschließen. Die Forderungen der finnischen
Gewerkschaft wurden von der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF) unterstützt.
Daraufhin hat Viking Line gegen die beiden Gewerkschaften eine Unterlassungsverfügung beantragt. Die
Sache kam vor den EuGH, der in seinem Urteil vom 11.Dezember 2007 feststellte:
"Kollektive Maßnahmen, die darauf
abzielen, ein ausländisches Unternehmen zum Abschluss eines Tarifvertrags mit einer Gewerkschaft zu
veranlassen, der geeignet ist, das Unternehmen davon abzubringen, von seiner Niederlassungsfreiheit Gebrauch
zu machen, beschränken diese Freiheit."
Die lettische Gesellschaft Laval hat Arbeiter aus Lettland nach Schweden entsandt, um eine Schule in der
schwedischen Stadt Vaxholm zu renovieren. In Schweden wird der Mindestlohn, der auch für entsandte
Beschäftigte gelten soll, durch Tarifverträge festgelegt. Obwohl die schwedische
Bauarbeitergewerkschaft und Laval verhandelt haben, unterzeichnete Laval einen Tarifvertrag mit der
lettischen Bauarbeitergewerkschaft, was die schwedische Gewerkschaft dazu veranlasste, sämtliche
Baustellen von Laval in Schweden zu blockieren. Dem Arbeitskampf schloss sich auch die schwedische
Elektrikergewerkschaft an. Die Gewerkschaften wurden von Laval auf Schadenersatz verklagt.
Der EuGH stellte in seinem Urteil vom
18.Dezember 2007 fest: „...dass das Streikrecht zwar anzuerkennen ist und Bestandteil des
Gemeinschaftsrechts darstellt. Dieses Recht könne sich jedoch nicht dem Anwendungsbereich des
Gemeinschaftsrechts und insbesondere dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten entziehen. Das
Mindestmaß an Schutz für entsandte Arbeitnehmer/innen sei von der Entsende-Richtlinie festgelegt
und jeder Versuch, durch Kollektivmaßnahmen ein Unternehmen zum Abschluss eines Tarifvertrags zu
zwingen, der über den Mindestschutz der Entsende-Richtlinie hinausgeht, stelle eine Einschränkung
der Dienstleistungsfreiheit dar."
Die Rechtsprechung des EuGH zeigt, dass die Wirtschaftsfreiheiten über den in Sonntagsreden viel
beschworenen Zielen eines sozialen Europas stehen. Die in den nationalen Gesetzen und Verfassungen
festgeschriebenen sozialen Rechte sollen die EU-weite wirtschaftliche Betätigungsfreiheit nicht mehr
binden. Art.9 Abs.3 Grundgesetz gilt nur noch eingeschränkt.
Arbeitnehmer sind den Bedingungen des
Wettbewerbs weitgehend schutzlos ausgeliefert. Und inländische Firmen werden diskriminiert, weil sie
die nationalen Regeln einhalten müssen. Ausländische Firmen hingegen können die Regeln
über die öffentliche Auftragsvergabe umgehen, nur weil sie ihren Sitz in einem anderen
Mitgliedstaat haben.
Bestimmungen, die die sozialen Rechte etwa
bei der Mitbestimmung oder bei anderen Arbeitnehmerrechten besonders schützen, sucht man im
europäischen Vertragswerk vergeblich. Im Gegensatz zum Grundgesetz, das wirtschaftspolitisch neutral
ist, werden in den EG-Verträgen offene Märkte, freier und unverfälschter Wettbewerb,
Privatisierung, unternehmerische Freiheit, kurz: eine marktliberale Wirtschaftsauffassung festgeschrieben.
Nach dem EGV ist das Streikrecht aus dem
Kompetenzbereich der EU explizit ausgeschlossen (Art.137 Abs.5 EGV). Das Gleiche gilt für das
Koalitionsrecht und die daraus folgenden Tarifverträge. Das hat den EuGH aber nicht daran gehindert,
das in Finnland bestehende Arbeitskampfrecht mit dem Verweis auf die Höherrangigkeit des EU-Rechts zu
beschränken. Die Missachtung der demokratischen und repräsentativen Funktion der autonomen
Tarifverhandlungen durch den EuGH führt nach kritischen Einschätzungen in der arbeitsrechtlichen
Literatur zu einer Tarifzensur.
Im Unterschied zu Schweden ist in
Deutschland der Mindestlohn nur in einigen wenigen Branchen für entsandte Arbeitnehmer über das
Entsendegesetz geregelt. Die Laval-Entscheidung ist dennoch für das deutsche Recht von Bedeutung, denn
sie eröffnet die Möglichkeit zur Tarifkonkurrenz mit ausländischen Tarifverträgen: Wenn
ein Gesetz, das nach ausländischem Recht abgeschlossene Tarifverträge nicht anerkennt (was beim
schwedischen Gesetz der Fall war) vom EuGH für nicht vereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht erklärt
wird, stellt sich künftig die Frage, unter welchen Voraussetzungen das deutsche Recht einen nach
ausländischem Recht abgeschlossenen Tarifvertrag anerkennen muss.
Stark gekürzt und bearbeitet. Quelle:
MdB-Büro Ulla Lötzer, Fraktion DIE LINKE.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |