SoZ - Sozialistische Zeitung |
Material zu finden, das die Entwicklungen im heutigen Tibet nicht nur unter
nationalen, sondern auch unter sozialen Aspekten untersucht, ist nicht einfach. Der nachstehende Artikel,
der im Dezember 2005 in der britischen Zeitschrift Red Pepper erschien, leistet dies unvollkommen und zum
Teil in widersprüchlicher Weise. Dennoch enthält er Informationen, die auch dann wertvoll sind,
wenn man die Urteile des Autors nicht in allen Punkten teilt. (d.Red.)
Baukräne, so wird gesagt, seien das neue nationale Symbol Chinas Tibet hat gewiss einen
Anteil daran. Die wirtschaftliche Entwicklung verdeckt, was sich unter der Oberfläche abspielt.
Tibet mag sich in der gängigen
Vorstellung mit abgelegenen Tempeln und fliegenden Lamas verbinden. Glyn Ford, Europaabgeordneter der
britischen Labour Party, zeigte sich während seines Tibetbesuchs im Sommer 2004 von ganz anderen
Merkmalen der Landschaft beeindruckt. „Die Zahl der Baukräne”, schrieb er in einem Artikel
über seine Reise, „zeigt, dass die Wirtschaft boomt.” Er stellte fest, dass Tibets
Bruttoinlandsprodukt seit 1965 um das 15fache zugenommen hat und dass Peking in den letzten zehn Jahren 1
Milliarde Euro für Infrastruktur und Dienstleistungen ausgegeben hat. „Die Klöster und
Tempel”, fügte er hinzu, „sind voll von Gläubigen, ohne sichtbare Behinderungen der
Religionsfreiheit."
Fords Kommentare versinnbildlichen die tiefe
Kluft in der Wahrnehmung der Tibet-Frage vielleicht in linker Politik im Allgemeinen: Liegt die
letzte Wahrheit in der Verwirklichung wirtschaftlichen Fortschritts oder liegt sie in der Verteidigung
idealistischer Vorstellungen wie Freiheit und kulturelle Identität, wie manche Politikern sagen, um
ihre eigene Anti-China-Haltung zu verbergen? Ford zog es vor, lieber die Kräne als die politischen
Gefangenen in China zu zählen und sich auf den Blitzkrieg der Modernisierung zu konzentrieren, statt
auf Chinas autoritäre Regierungsbilanz in dieser Region.
In der Tat hat Tibet in den letzten 15
Jahren gewaltig von der chinesischen Regierungspolitik profitiert. Die Wirtschaft boomt, das Kapital
expandiert im Rhythmus mehrerer neuer Vorstädte im Jahr, Hightechgeschäfte, die Computer und
Solarheizgeräte verkaufen, säumen die Hauptstraßen, und es gibt neue Stadthäuser mit
Zierteichen in umzäunten Stadtvierteln. Wenn ich im Sommer nach Lhasa zur Arbeit gehe, sehe dort mehr
neu erbaute Supermärkte als in ganz Manhattan, wo ich zu Hause bin.
Peking ist stolz auf diese Errungenschaften. Aber es ist nicht zuversichtlich: Es greift immer zu
Drohungen oder Zwang, um ausländische Besucher an der Veröffentlichung von Kritik zu hindern. Im
Oktober 2005 wurde zwei Journalisten, welche die Politik Chinas in Tibet milde kritisiert hatten, die
Einreise verweigert.
Doch es braucht niemand einen
Hochschulabschluss in Ökonomie um festzustellen, dass die neue Wirtschaft Tibets für gewisse Leute
geschaffen ist, hauptsächlich für jene, die sich den Kauf von Luxusgütern und Häusern
leisten können. Das „Tibet”, das nach Auffassung weniger vorsichtiger Autoren von Pekings
Politik profitiert, steht nicht für die gesamte tibetische Region oder all ihre Bewohner es
steht nur für diejenigen, die im neuen Reichtum schwelgen.
Einzelheiten, wie dieser Boom funktioniert,
hat Andrew Fischer, ein Forscher an der London School of Economics, in seinem Buch State Growth and Social
Exclusion in Tibet (2004) untersucht. Die Kluft zwischen urbanen und ländlichen Regionen, so fand er
heraus, erweitert sich dramatisch; die Boomökonomie wird von Subventionen angetrieben,
hauptsächlich im tertiären Sektor und auf gefährliche Weise instabil. Die meisten
Subventionen stärken die Verwaltung und nicht die lokale Bevölkerung. Dies äußert sich
auch im Bau gewaltiger Parteigebäude für die lokalen KP-Funktionäre der tibetischen
Kleinstädte.
Fischers Analyse wurde nicht gut
aufgenommen: in London nicht, wo ihn einige Tibet-Unterstützer beschuldigten, die Kommunisten nicht
angeprangert zu haben, und auch in Peking nicht, wo mir ein führender Funktionär sagte, Fischer
würde als Konterrevolutionär betrachtet. Niemand hat jedoch die von Fischer und anderen
beschriebene offensichtliche radikale Ungleichheit bei der Entwicklung Tibets geleugnet die es auch
in anderen Teilen Chinas gibt, besonders im Westen. Sie bildet den Hintergrund für die Vorschläge
junger tibetischer Entwicklungspolitiker in China, Einkommen zu schaffen (statt Infrastruktur und
Dienstleistungsindustrien), die menschlichen Kapazitäten entwickeln (statt Arbeitskräfte zu
importieren) und die ländlichen Gebiete fördern (statt die Städte, die weitgehend eine
chinesische Bevölkerung aufweisen).
Diese neuen Vorschläge kann man ein auf
Tibet konzentriertes Entwicklungsmodell nennen, anstelle eines, das um jeden Preis mit dem Shanghaier
Modell, wie es heute en vogue ist, mithalten will. Dennoch können wir diese neuen Vorschläge nicht
wirklich einen Fortschritt nennen, weil die meisten von ihnen schon 1980 eingeführt wurden, als der
damalige Sekretär der KP Chinas, Hu Yaobang, befahl, die Verwaltung Tibets wieder an die Tibeter zu
übergeben. Hardliner legten seine Initiativen vor 15 Jahren zu den Akten, gerade als sie anfingen zu
wirken; seitdem haben sie sich heftig bemüht, sie unter den Tisch zu kehren so sehr, dass ihre
bloße Erwähnung seit 1992 aus den Medien verbannt wurde. Selbst wenn man die Jahrzehnte
ultralinker Zerstörung von Kultur und Wirtschaft vor den 80er Jahren beiseite lässt, ist das Lob
für Pekings jüngste ökonomische Kehrtwende, höflich gesprochen, zutiefst ahistorisch,
wenn nicht gar ein völlige Verkehrung der Wirklichkeit.
Jeder begrüßt den wachsenden Wohlstand und den Zugang zu Ressourcen. Aber ihre Nebeneffekte
müssen gebändigt werden. In Tibet ist der weitestgehende und der am wenigsten diskutierte
Nebeneffekt die zunehmende Einwanderung aus dem chinesischen Binnenland. Die Migranten, zumeist arme
Arbeiter und kleine Gewerbetreibende, haben gegenüber der lokalen Bevölkerung in Bezug auf
Fertigkeiten, Kapital, Sprache, Verbindungen und Zugang zum Markt größere Vorteile. Die neue
tibetische Eisenbahn, die im Oktober 2005 fertig gestellt wurde, mag ein technologische Leistung sein, aber
die meisten Tibeter fürchten die Aussicht einer Besiedlungswelle, die in der Geschichte Chinas
Eisenbahnlinien stets begleitet hat genauso wie vor hundert Jahren die in Nordamerika.
Nicht viele werden von der Meinung
chinesischer Führer in Tibet überzeugt sein, die Eisenbahn bringe keine Migranten nach Tibet, weil
„das Wetter ungünstig ist” Phuntsog Wanggyal, ein bekannter Tibeter, der jetzt 84 ist und
zu alt, um wieder ins Gefängnis geschickt zu werden, meint, bald werde „nur der Potalapalast in
Lhasa als tibetisch übrig bleiben"; es bestehe „die Gefahr, dass nationale
Minderheiten in die han-chinesische Gesellschaft assimiliert werden, sodass nur ihre Namen übrig
bleiben, aber keine kulturellen Identitäten” Da er jahrelang der höchstrangige Tibeter in
der KP Chinas war und ihm in den frühen 80er Jahren die Stellung des Gouverneurs von Tibet angeboten
wurde, verdient seine Meinung Aufmerksamkeit. Bislang hat kein anderer Tibeter in Tibet oder in China es
gewagt, die Einwanderungsfrage aufzuwerfen, aus Furcht vor Ächtung oder Gefängnis ob zu
Recht oder zu Unrecht.
Wer chinesische Politik von außen
kommentiert, hat keine Entschuldigung dafür, diese Frage zu umgehen. Tatsächlich hat China in
seiner Vergangenheit (außer während sechs Monaten im Jahr 1910) Tibet nie den gleichen Status
verliehen wie die in ethnischer Hinsicht chinesischen Gebiete. Tibet war nie eine chinesische Provinz,
weshalb die KP Chinas Tibet und andere Gebiete außerhalb der traditionellen inneren Grenzen Chinas als
„autonom” deklarierte. Selbst jetzt besteht die Partei darauf, dass sie will, dass Tibeter das
Land verwalten. Aber die zutiefst widersprüchliche Praxis der Parteiherrschaft in Tibet bedeutet, dass
umso mehr von Autonomie die Rede ist, je weniger sie in der Praxis gewährt wird.
Das sind keine akademischen Nörgeleien.
Sie sind Anzeichen tiefer, aber unausgesprochener Quellen politischer Unzufriedenheit in Tibet. Wenige
Tibeter wagen es Fragen aufzuwerfen, die in westlichen Ländern als explizit politisch betrachtet
werden. Die Klöster und Tempel bspw. mögen dem ahnungslosen Touristen als voll erscheinen, aber
die einzigen, die sich dort legal versammeln, sind Menschen vom Lande oder aus den privaten Sektoren der
Wirtschaft. Kein tibetischer Regierungsangestellter darf seit etwa 1995 religiöse Praktiken
ausüben. Diese Regel, die nach chinesischem Gesetz illegal und somit auch nirgendwo schriftlich
niedergelegt ist, wird ständig durchgesetzt, aber sie wird auch auf Schulkinder und Studierende
angewandt, obwohl diese keine Angestellten der Regierung sind.
Wie zahlreiche ähnliche Restriktionen ist dies vielleicht mehr als bloß eine archaische Marotte
eines rücksichtslosen Autoritarismus. Sie beruht auf derselben Ideologie, die eine von der
Infrastruktur beherrschte und eine Elite schaffende Entwicklung fördert: auf der Annahme nämlich,
dass Säkularität und materielles Eigeninteresse Kernbestandteile von Modernität und eines
modernen Staatsaufbaus sind. Somit sind jene, denen unter zugeflüsterten Drohungen religiöse
Praktiken verboten werden, dieselben Tibeter, deren Gehälter in den letzten Jahren erhöht wurden
und die nun in der Lage sind, die Videospielhallen, Plüschhotels und abgezäunten Bezirke von Neu-
Lhasa zu frequentieren.
Vermutlich ist es eine kalkulierte
Entscheidung, das was kulturell und politisch fehlt, durch das was ökonomisch vorhanden ist zu
ersetzen. Wenn das so ist, so hat es Vorteile gebracht. Die rasend schnelle Entwicklung des Konsums in Tibet
hat eine neue tibetische Mittelklasse geschaffen, und es kann wohl sein, dass dieser plötzliche
Wohlstand ihren Geschmack an politischem Ungehorsam und jede Erinnerung an eine frühere
Unabhängigkeit betäuben wird.
Tatsächlich ist aber nicht klar, ob das
jahrzehntelange Bemühen, eine politische Amnesie herbeizuführen, notwendig war: Noch vor 20 Jahren
haben wahrscheinlich nicht viele tibetische Stadtbewohner an eine reelle Chance geglaubt, eine separate
Identität als Nation wiederzuerlangen. Wie Hu Yaobang zweifellos geahnt hat, hätten sie
wahrscheinlich ein Abkommen geschlossen, wenn Peking ihnen die Verwaltung übertragen, die Rückkehr
ihres eigenen Führers gewährt und ihnen erlaubt hätte, ihre eigene Kultur zu entwickeln und
die Migration zu kontrollieren.
In der neuen tibetischen Mittelschicht
werden viele es vorziehen, vor ihren TV-Geräten zu sitzen, ihre Erinnerungen in Nostalgie
aufzulösen und vergessen, ihren Kindern die tibetische Sprache beizubringen. Wie aber die
Annehmlichkeiten des raschen und ungleichen ökonomischen Wachstums im Europa des 19.Jahrhunderts nicht
alle neuen Eliten ruhig stellen konnten, gibt es auch hier keine Garantie dafür, dass langfristig zu
den akuten Widersprüchen in Tibet in Bezug auf Demografie, Entwicklung und Kultur geschwiegen wird.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |