SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 17

Börsenspekulation

treibt die Preise für Lebensmittel und Energie

von INGO SCHMIDT

Die Preise unserer Lebensmittel steigen, weil Chinesen und Inder mehr essen? Das Märchen wird uns aufgetischt, seit die Milchpreise im vergangenen Jahr explodiert sind. Die wahren Ursachen sind woanders zu suchen.
Seit Monaten verfolgen Europäische Zentral- und Deutsche Bundesbanker die Preisentwicklung mit Argusaugen. Auf Jahresbasis sind die Verbraucherpreise im März dieses Jahres um 3,1% gestiegen. Das Ziel der EZB, die Inflation unter 2% zu halten, wird schon seit März 2007 Monat für Monat verfehlt. Verantwortlich hierfür sind die Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Energie. Erstere verteuerten sich im März 2008 um 8,6%, letztere um 9,8%.
Dabei gilt noch immer, was der preußische Statistiker Ernst Engel Mitte des 19.Jahrhunderts feststellte und was in Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre seither als Engel‘sches Gesetz bezeichnet wird: Je höher das Einkommen, desto geringer ist der Anteil, der für Lebensmittel ausgegeben wird.
Für Energie gilt das Engel‘sche Gesetz nur in abgeschwächter Form, weil sich die Bezieher hoher Einkommen gern den Luxus dicker und benzinfressender Autos, häufiger Flugreisen und großer Häuser mit entsprechendem Aufwand an Heizkosten leisten. Höhere Lebensmittel- und Energiepreise sind für sie kein großes Problem. Schlimmstenfalls stecken sie einen etwas geringeren Anteil ihres Gesamteinkommens in Spekulationsgeschäfte als in der Vergangenheit.
Angesichts dessen, dass Spekulation die Preise treibt, können auch schon mit geringen Einsätzen in der Rohstoff- und Lebensmittelspekulation enorme Gewinne gemacht werden. Für die Kaufkraft und den Lebensstandard privater Haushalte bedeuten steigende Preise für Energie und Lebensmittel jedoch, dass arme Haushalte stärker von der Inflation betroffen sind als reiche Haushalte.
Allerdings stehen nicht die Nöte der kleinen Leute hinter den Inflationssorgen der Geldpolitiker in Frankfurt. Letztere streben nach höheren Werten: dem Erhalt des Geldwerts sowie der Investitionsneigung von Unternehmen und reichen Haushalten. Um dies zu erreichen, ziehen sie Zinssteigerungen in Betracht, die kurzfristig zu Nachfrageausfällen, sinkenden Inflationsraten und steigender Arbeitslosigkeit führen.
Auf diese Weise werden ärmere Haushalte zwar ihre Inflationsprobleme los, verlieren aber auch Einkommen und Arbeitsplätze. Dass Geldpolitiker im Namen der Geldwertstabilität bereit sind, eine kränkelnde Wirtschaft in die Rezession zu stürzen, hat die US-Zentralbank unter ihrem damaligen Präsidenten Paul Volcker 1979 bewiesen.
Ob das EZB-Direktorium, das von der Deutschen Bundesbank einen gemäßigten, dafür aber stetig verfolgten Monetarismus übernommen hat, solch drastische Maßnahmen ergreifen würde, sei dahingestellt. Vorläufig verbirgt man in Frankfurt die eigene Unsicherheit über die Tiefe der Finanzkrise und die künftig zu verfolgende geldpolitische Strategie hinter der von Ex-Kanzler Schröder geprägten Losung einer „Wirtschaftspolitik der ruhigen Hand”
Seit Juni 2007, die Finanzkrise steckte zu der Zeit noch in den Kinderschuhen, müssen Banken einen Zinssatz von 3% zahlen, wenn sie sich bei der Zentralbank mit Geld eindecken. Da die US-Zentralbank, die dem Monetarismus schon lange den Rücken gekehrt hat, seit Ausbruch der Finanzkrise die Zinsen schrittweise auf derzeit 2% gesenkt hat, was angesichts einer Inflationsrate von 4% in den USA einem negativen Realzins entspricht, besteht eine Zinsdifferenz, die zu einer Umschichtung von Dollar- in Euroanlagen führt.
Während die gegenwärtige Rohstoff- und Lebensmittelinflation in den kapitalistischen Zentren kleinen Leuten das Leben schwer macht und Zentralbanker in Frankfurt und Washington zu sehr unterschiedlichen geldpolitischen Reaktionen geführt hat, haben die Armen dieser Welt mit sehr viel grundlegenderen Problemen zu kämpfen. Von März 2007 bis März 2008 sind die Weltmarktpreise für Getreide um 88% gestiegen, Speiseöle und Fette verteuerten sich um 106%, Molkereiprodukte um 49%.
Zentralbanker, die dank ihrer hohen Einkommen und dem Engel‘schen Gesetz nur einen geringen Teil ihrer Gesamtausgaben für derartig banale Dinge ausgeben, sehen in diesen Zahlen erst dann ein Problem, wenn sie gesamtwirtschaftliche Inflationsprozesse und damit eine reale Entwertung von Geldvermögen auslösen. Für die Armen dieser Welt bedeuten diese Zahlen Hunger, weil die täglich notwendigen Kalorien unbezahlbar werden.
Dieser Hunger ist aufs engste mit dem bereits erwähnten Volcker-Schock verbunden. Der von Volcker erstmals praktisch angewandte Monetarismus war ja nur ein Teil des neoliberalen Projekts, das seit den späten 70er Jahren von den herrschenden Klassen der Zentren und einigen ihnen verbündeten Kompradorenbourgeoisien verfolgt wurde.
Ein anderer Bestandteil dieses Projekts war eine gigantische Welle ursprünglicher Akkumulation. In deren Verlauf wurde eine kleine Zahl von Bauern, die sich zuvor selbst versorgen und ihre Überschüsse auf nationalen Märkten verkaufen konnten, zu bezahlten Landarbeitern auf ihrem ehemaligen Boden. Die große Mehrheit zog in die Städte, wo wiederum ein kleiner Teil Beschäftigung in den entstehenden Weltmarktfabriken fand, die Mehrheit aber sich im schnell wachsenden informellen Sektor durchschlug.
Landlose Bauern und Angehörige des informellen Sektors stellen die große Masse der Armen, deren Lebensmittelversorgung sich in Folge der gegenwärtigen Preiserhöhungen weiter verschlechtert.
Wegen dem ihnen aufgezwungenen exportorientierten Agrarkapitalismus müssen viele Länder, die bis in die 70er Jahre Selbstversorger mit Lebensmitteln waren, einen steigenden Anteil ihres Lebensmittelbedarfs durch Importe decken. Auf diese Weise werden sie einen guten Teil der Devisen, die sie durch den Anbau und Export von Cash Crops sauer verdient haben, gleich wieder los.
Die Ausweitung und Vertiefung des Weltmarkts für Agrarprodukte erlaubt die gemeinschaftliche Bereicherung von Agrarkapitalisten in den Zentren und Peripherien und erhöht die Devisenabhängigkeit der Arbeiter — zu denen auch die im informellen Sektor Tätigen zu zählen sind — und Bauern in den Peripherien.
Darüber hinaus bietet der Agrarsektor seit dem Ende des Immobilenbooms in den USA ein willkommenes Auffangbecken für Spekulationskapital — gleiches gilt für Energie und andere Rohstoffe.
Das neoliberale Herrschaftsprojekt hat zwar die Einkommens- und Machtansprüche der subalternen Klassen auf der ganzen Welt erfolgreich zurückdrängen können und ungeahnte Profitmassen in die Taschen der Bourgeoisien gespült, konnte aber zu keiner Zeit ausreichend profitable Anlagemöglichkeiten im produktiven Kapitalkreislauf schaffen. Diese „Überschussprofite” sind in den 90er Jahren in den IT-Sektor, und in den vergangenen Jahren in den Immobiliensektor der USA und einiger anderer Länder geflossen. Beide Male kam es zu einer Spekulationsblase mit anschließender Finanzkrise.
Obwohl die Finanzkrisen zur Vernichtung erheblicher Mengen fiktiven Kapitals geführt haben, spülen die Fortsetzung der ursprünglichen Akkumulation und die Umverteilung des Reichtums von den Lohnarbeitern zu den Kapitalisten weiterhin Profite auf die internationalen Kapitalmärkte, für die es keine profitablen Anlagemöglichkeiten gibt. Von dort fließen sie nun in die Lebensmittel-, Energie- und sonstige Rohstoffspekulationen.
Der ökologische Raubbau, den die kapitalistisch entwickelten Produktivkräfte betreiben, kann langfristig zu Versorgungsengpässen und zur völligen Erschöpfung bestimmter Rohstoffe führen. Die damit eintretende Verknappung des Angebots dieser Güter wird auch zu steigenden Preisen führen. Die gegenwärtigen Preissteigerungen sind allerdings nicht durch ein unzureichendes Angebot, sondern durch die Spekulation auf Preiserhöhungen begründet.


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