SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 18

Prekarisierung an den Hochschulen

Leistungsdruck und Gratisarbeit

Ungeschützte Beschäftigung ist für Akademiker normal

von GISELA NOTZ

An den Universitäten und in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen finden wir seit langem eine Vielzahl verschiedenartiger Arbeitsplätze: vom gut dotierten C4-Professor bis zur Honorarprofessorin oder Privatdozentin, die umsonst arbeiten muss, um ihre Lehrbefähigung zu erhalten, und den jungen Wissenschaftlern, die als Praktikanten oder Lehrbeauftragte ihre Fahrtkosten selbst bezahlen, um in ihren Bewerbungsunterlagen Berufserfahrung vorweisen zu können.Dass viele erwerbslose Akademiker inzwischen auf dem Niveau der seit dem 1.Januar 2005 nach Hartz IV staatlich geförderten Arbeitsgelegenheiten (1-Euro-Jobs) angelangt sind, wird wenig diskutiert. An den Universitäten selbst begegnen sie uns zwar nur selten, umso häufiger aber in Wohlfahrtsverbänden, Bibliotheken, Forschungseinrichtungen, sozialen Initiativen und in anderen Arbeitsbereichen.
Die Übergänge von prekärer Arbeit zu Gratisarbeit sind gerade im Wissenschaftsbetrieb oft fließend. Zeiten der Unterbrechung, verbunden mit der Übernahme unbezahlter Arbeit in Haus und Familie, Gratisarbeit durch Schreiben von Projektanträgen usw. und Wiedereingliederung in die Arbeit, oft in Form von schlecht bezahlter Teilzeitarbeit, ungeschützter, geringfügiger oder befristeter Beschäftigung bzw. Ausstieg in arbeitnehmerähnliche „neue Selbstständigkeit” oder „Solo- Selbstständigkeit” mit kleinen Forschungsinstituten, die keine eigenständige Existenzsicherung ermöglichen, stellen in der Erwerbsbiografie vieler Wissenschaftler schon lange das „Normalarbeitsverhältnis” dar. Zwar gehört die Ich-AG der Vergangenheit an, es gelten andere Programme. Die Philosophie aber: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott”, ist die gleiche geblieben.
Prekäre Arbeitsverhältnisse sind solche, bei denen zumindest ein zentrales Element vom „typischen” Normalarbeitsverhältnis abweicht. In den meisten Fällen fehlt die Sozialversicherung, aber auch die Vertragsdauer, die Arbeitszeit, die Sicherheit des Arbeitsplatzes oder die Sonderleistungen können fehlen oder abweichen. Das Merkmal „ungeschützt” ist bereits dann erfüllt, wenn eines der Kriterien zutrifft. Je mehr Abweichungen vom „Normalarbeitsverhältnis” vorhanden sind, desto prekärer ist das Beschäftigungsverhältnis.
"Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung, befristete Beschäftigung, ‘freie‘ Mitarbeit, Werkvertragsverhältnisse, Kapovaz, Jobsharing und andere Formen von Teilzeitarbeit, Heimarbeit und Schwarzarbeit.” So bezeichnete die Sozialwissenschaftlerin Carola Möller Anfang der 80er Jahre diese sich damals bereits ausbreitende Arbeitsform, die vor allem viele Frauen betraf. Sie registrierte einen extrem hohen Anteil an prekären Arbeitsverhältnissen ("um die 80% und mehr") im Einzelhandel, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in Dienstleistungsbetrieben, die Hausarbeit vermarkten, in der freien Wohlfahrtspflege, aber auch an den Universitäten. Sie entlarvte sie als „eine der wichtigsten Kapitalstrategien,” die geeignet sei, die Arbeit von der gutbezahlten über die schlechtbezahlte zur unbezahlten Arbeit hin umzuverteilen. Und sie stellte schon damals fest, dass diese Strategie weder neu, noch eine kurzfristige Erscheinung im Rahmen einer ‘Krise‘ sei, „sondern eine konsequente und notwendige Weiterentwicklung der Kapitalverwertungsform” Und weiter: „Auch wenn Männer jetzt mehr und mehr ebenfalls in ungeschützte Arbeitsverhältnisse kommen, so hebt das die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung nicht auf”, sondern — das zeigten ihre Fallstudien — „Frauen erhalten in den schlechten Arbeitsverhältnissen weiterhin die schlechteren Plätze” Das Niveau, auf dem die Beschäftigten ihre Arbeitskraft verkaufen können, sinkt ab, aber die Hierarchie bleibt. Leider sollte sie Recht behalten.
Von den ausschließlich geringfügig Beschäftigten sind noch immer zwei Drittel Frauen. 21% aller abhängig beschäftigten Frauen betreiben die Tätigkeit als Haupttätigkeit, bei den Männern sind es 8%. So wie die ungeschützten Arbeitsverhältnisse zunehmen, nimmt auch die Armut der Frauen zu. Und Einkommensarmut ist die Einbahnstraße in die Altersarmut. Und das betrifft ausgerechnet die best ausgebildete Frauengeneration, die wir in Deutschland je hatten.
Die Phase der Um- und Neugestaltung und des Abbaus von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Strukturen und sozialen Sicherungssystemen verstärkt sich gegenwärtig. Das betrifft nicht nur Deutschland, sondern viele europäische Länder. Und sie macht auch vor dem öffentlichen Dienst, den Universitäten und den übrigen Wissenschaftsbetrieben nicht Halt.
Organisatorische Unruhe, ständiger Wettkampf, zunehmende Konkurrenz und knappe Ressourcen charakterisieren die Situation (nicht nur) an den Hochschulen. Auch für viele akademisch ausgebildete Menschen führt die Arbeit nicht mehr zur (längerfristigen) Einkommenssicherung und damit verbundenen sozialen Absicherung. Prekäre Arbeitsverträge durch Zeit- und Altersbegrenzungen, Mobilitätszwang und Nichtberücksichtigung von Lebenslagen durch Gleichzeitigkeit von Beruf und Familie treffen Frauen oft anders als Männer. Viele trösten sich selbst und andere damit, dass es sich lediglich um eine temporärere Lebenslage handelt, die durch eine Weiterqualifizierung, einen akademischen Titel, das Schreiben von Veröffentlichungen und von Bewerbungen auf „feste Stellen” aktiv bewältigt werden kann. Oft erweist sich eine solche Hoffnung als Illusion.
Der Anpassungsdruck, dem die Beschäftigten ausgesetzt sind oder zu sein scheinen, hat Auswirkungen auf wissenschaftliche Denk- und Verhaltensweisen. Zukunftsängste, Konkurrenzdruck, Entpolitisierung und Zerfall solidarischer Strukturen sind die Folge.
Auch wenn wir wissen, dass Männer und Frauen in der Realität keine klar gegeneinander abgegrenzten, in sich homogenen Bevölkerungsgruppen sind, ist es nach wie vor die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, die die alltägliche Praxis der Arbeitsverteilung bestimmt. Inwieweit die „Empfehlungen zur Gleichstellung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern” greifen, die der Wissenschaftsrat 2007 vorgestellt hat, um den Frauenanteil im Wissenschaftsapparat zu erhöhen und Gleichstellung zur Chefaufgabe zu machen, muss offen bleiben, solange Ergebnisse über die Operationalisierung noch ausstehen.
Prekäre Arbeitsverhältnisse werden in den Empfehlungen ohnehin nicht problematisiert. Lediglich den Leitungen der Hochschulen und Forschungseinrichtungen wird empfohlen, verstärkt zu beobachten, wie sich diese auf die Geschlechter verteilen. Das heißt nicht mehr als die Verteilung des verschimmelten Kuchens im Auge zu behalten.
Ohne bewusste Frauenförderung und Quotierung werden Frauen auch weiter die schlechteren Karten ziehen. Ohne Allianzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften wie Politik, Wissenschaft, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Frauenzusammenschlüssen und ohne Kooperation zwischen verschiedenen AkteurInnen wird es schwer gelingen, soziale und geschlechterspezifische Ungleichheit zu überwinden — auch im Wissenschaftsbetrieb.


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