SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2008, Seite 03

Irland sagt Nein zum EU-Vertrag

Eurokraten sind ratlos

Neue Chance für eine Debatte über Alternativen

von Angela Klein

Von den 1,6 Millionen Wahlberechtigten in Irland haben am 13.Juni 53,4% den Lissabon-Vertrag abgelehnt. Diese nach dem französischen und niederländischen Nein im Jahr 2005 dritte klare Ablehnung des EU-Vertrags stürzt das neoliberale EU-Projekt in eine Krise, aus der die Eurokraten keinen Ausweg wissen.
Den einzigen Ausweg, der ihnen offenstünde, können und wollen sie nicht gehen: ein echtes Mitspracherecht der Völker Europas über die Art und Weise, wie sie zusammen leben wollen. Das darf nicht sein, denn es würde die Vorherrschaft der Konzerne, der Rüstungslobbyisten, der politischen Kaste und all derer, die aus Europa eine gegen die Völker Asiens und Afrikas hoch gerüstete Großmacht machen wollen, gefährden.
Weil die europäischen Staats- und Regierungschefs das aber nicht offen sagen können — schließlich wollen sie sich immer noch mit einem demokratischen Mäntelchen schmücken — wird hinsichtlich der Fortschritte, die der EU-Vertrag angeblich bringt, gelogen dass sich die Balken biegen — im Vertrauen darauf, dass die Bürger den Vertrag nicht kennen.
Angeblich hätten wir mit dem EU-Vertrag einen großen Schritt nach vorn in Richtung Demokratie gemacht. Das EU-Parlament würde mit mehr Rechten ausgestattet und die Macht der Brüsseler Zentrale dadurch eingeschränkt — tatsächlich verbleibt das Monopol der Gesetzesinitiative bei der EU-Kommission und das Parlament teilt sich die beschließende Gewalt mit dem Ministerrat, das ist die Versammlung der Regierungsvertreter.

Die Gründe für das Nein

Die Iren haben durchschaut, dass dies eine Lüge war — obwohl die gesamte politische Kaste inkl. der Sozialdemokraten, die Unternehmerverbände, die mächtige katholische Kirche und 90% der Medien sie geschlossen mit einer Kampagne für ein Ja bombardiert haben. Youlton Michael, der Koordinator der Nein-Kampagne, hat beschrieben, wie dies möglich wurde. Das Nein, schreibt er, hat vor allem aus drei Gründen gesiegt:
1. Die Ja-Seite hat gegenüber der Opposition, aber auch gegenüber dem gemeinen Volk äußerste Verachtung gezeigt; sie hat es abgelehnt, den Vertrag an die Haushalte zu verteilen ("Er ist zu kompliziert, die Menschen würden ihn nicht verstehen"), sie hat es abgelehnt, über dessen Inhalte zu diskutieren und sich statt dessen auf Ausflüchte verlegt ("Europa ist gut zu uns gewesen, jetzt müssen wir gut zu Europa sein"). Der Mangel an Demokratie und die Gefahr, das wenige an Mitspracherechten zu verlieren, das die Iren haben, stand im Mittelpunkt ihres Nein.
2. In der Sache selbst gab es drei Hauptargumente für das Nein:
die Gefahr einer beschleunigten Militarisierung, während die Iren neutral bleiben wollen; Irland ist nicht Mitglied der Nato, hat aber erlebt, wie sich US-Soldaten seit Beginn des Jahrhunderts auf der Insel breit gemacht haben und von hier aus Flüge in Interventionsgebiete organisiert haben;
Bildung, Gesundheit und Landwirtschaft wären durch den neuen Vertrag dem Freihandel und dem „unverzerrten Wettbewerb” ausgesetzt worden; bislang war den Iren ein Vetorecht gegen die Unterwerfung dieser Wirtschaftssektoren unter die Regeln der WTO garantiert;
die abhängig Beschäftigten hätten Rechte aus ihren nationalen Gesetzen verloren, wie das Urteil des EuGH über die Tariflöhne in Europa kurz zuvor gezeigt hatte (siehe SoZ 5/08).
3. Weitere Argumente spielten eine große Rolle: das Demokratiedefizit, der Verlust eines EU-Kommissars, der Einflussverlust Irlands durch eine andere Stimmengewichtung und durch die Einführung von Mehrheitsabstimmungen bei der überwiegenden Zahl der Gesetzesverfahren.

Schwache Gegenargumente

Das Nein der Iren speist sich damit aus denselben Sorgen und Nöte wie auf dem Kontinent auch. Die Eurokraten sind außerstande, ihre Argumente zu entkräften. Sie bringen vor allem zwei Gegenargumente vor:
1. Das nationale Vetorecht sei ein Hindernis auf dem Weg der Übertragung des Demokratieprinzips auf die europäische Ebene. So argumentiert z.B. der EU-Kommissar für Erweiterung, Günther Verheugen, in der Süddeutschen Zeitung vom 21.6. Dabei widerspricht er sich aber. „Die EU ist so konstruiert, dass nicht ein paar große den kleineren Staaten ihren Willen aufzwingen können. Die Europäische Union ist kein Staat, und sie wird in vorhersehbarer Zukunft auch keiner werden."
Mit diesem Argument werden bestimmte Schritte einer weiteren europäischen Integration immer wieder verhindert: die Angleichung der Lebensverhältnisse, die Harmonisierung der Steuern und Sozialleistungen, ein europäischer Mindestlohn, die Umwandlung des Europaparlaments in ein echtes Parlament mit Initiativrecht und Gesetzgebungsbefugnis sowie die Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber dem EP, um nur einige zu nennen. Wenn es aber so ist, dass es nur soviel Europa geben kann, wie seine Mitgliedstaaten bereit sind zuzulassen, dann muss deren Vetorecht erhalten bleiben. Sonst ist die EU nichts anderes als die sukzessive Entmachtung der Mitgliedstaaten zugunsten einer Eurokratie, die selbstherrlich über die Geschicke von rund einer halben Milliarde Menschen bestimmt und nur noch sich selbst verantwortlich ist. Das Europa, das der EU-Verfassungsvertrag, und fast wortgleich mit ihm der Vertrag von Lissabon, versuchen zu installieren, zementiert mit der Einführung des Mehrheitsvotums in fast allen Fragen die Dominanz der großen Staaten, das Fehlen demokratisch legitimierter Mechanismen der Legislative und der Kontrolle auf europäischer Ebene, und gleichzeitig die Unmöglichkeit für die Bürger eines Staates, ein Veto einzulegen. Dieser Vertrag ist ein kalter Staatsstreich!
2. Die Eurokraten maßen sich das Recht dazu an, indem sie behaupten: Europa ist zu kompliziert, um es den Bürgern zu überlassen. Hätte es bei jedem der wichtigen EU-Verträge, angefangen von den Römischen Verträgen zum Vertrag von Maastricht bis hin zur Einführung des Euro eine Volksabstimmung gegeben, hätte es (dieses) Europa nie gegeben. Deutsche Politiker gehen soweit, die Tatsache, dass der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit — 1949 ebenso wie 1989 — stets das Recht auf Mitwirkung an den Grundlagen der staatlichen Ordnung verweigert wurde, als eine Demokratie höherer Ordnung zu preisen.
Wahrscheinlich haben sie Recht: Wahrscheinlich hätte es Maastricht und den Euro dann nicht gegeben — aber hätten wir damit etwas eingebüßt? Hätten wir nicht von Anfang an andere, sozial verträglichere und wirtschaftlich sicher nicht weniger erfolgreiche Wege der Integration gehen können, wenn sich die europäische Ordnung nach den Bedürfnissen der Menschen und nicht ausschließlich nach denen der Wirtschaft gerichtet hätte? Ist es nicht so, dass der Lebensstandard für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in der EU seit dem Beginn der 90er Jahre dramatisch gesunken ist? In allen EU- Ländern Existenzangst und Armut umgehen? Und gehört es nicht zur Grundlage eines jeden demokratischen Staatswesens, dass die Bevölkerung souverän über seine Ordnung entscheidet?

Irland darf nicht allein bleiben

Die Eurokraten versuchen, die Iren zu isolieren, um zu verhindern, dass politisch wirkungsmächtig wird, was mit dem irischen Nein offenkundig geworden ist: In fast allen Ländern wäre der EU- Vertrag heute abgelehnt worden, hätten die Bevölkerungen darüber entscheiden dürfen. Das Ja der Parlamente ist kein Nachweis demokratischer Legitimation. Die politische Kaste vertritt die Bevölkerung in grundlegenden Fragen nicht mehr.
Man kann den Iren nur dankbar sein, dass sie die Notbremse gezogen haben. Zunächst einmal kann der Vertrag von Lissabon nicht in Kraft treten. Somit auch nicht die Einführung des Mehrheitsprinzips, die Einrichtung eines EU-diplomatischen Dienstes, die Verpflichtung auf Aufrüstung u.v.m. Das Nein der Iren macht jetzt den Weg frei für eine neue breite Diskussion über eine Alternative zur bestehenden EU. Sie muss den Eurokraten aufgezwungen werden, denn von deren Seite wird nichts kommen als Winkelzüge, um den abgelehnten Vertrag durch die Hintertür doch noch aufzuherrschen. Man kann eine gewisse Hoffnung hegen, dass die Bewegungen, Gewerkschaften, NGOs und linke Parteien die Dringlichkeit eines alternativen Projekts diesmal stärker spüren als nach dem französischen und niederländischen Nein, als drei wertvolle Jahre verschenkt wurden.
Ein paar Entwürfe für eine Alternative liegen vor: Attac hat 10 Punkte aufgeschrieben, das Europäische Netzwerk Charta der Grundrechte für ein anderes Europa hat recht detaillierte Vorstellungen in den Bereichen der sozialen, politischen und Bürgerrechten formuliert — für die Bereiche Wirtschaftspolitik und Institutionen fehlen solche Formulierungen noch. Die Debatte ist also am Anfang. Auf dem Europäischen Sozialforum in Athen vor zwei Jahren wurde noch versucht, das Thema an den Rand zu drücken. Das wird im September in Malmö nicht mehr möglich sein.
Das ist positiv. Jenseits der inhaltlichen Debatte aber wird es zunächst notwendig sein sich darüber zu verständigen, was man mit der Debatte will. Es müsste möglich sein, um drei Anfangsforderungen herum eine gemeinsame Initiative zu starten:
der EU-Vertrag wird beerdigt;
neue Grundlagendokumente für die EU können in allen Mitgliedstaaten nur per Volksentscheid verabschiedet werden;
in allen Ländern und auf europäischer Ebene wird eine neue Debatte eröffnet. Attac Frankreich schlägt dafür einen direkt gewählten neuen Konvent vor — eine Art konstituierende Versammlung für eine neue Europäische Union. Dem kann man sich anschließen.


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