SoZ - Sozialistische Zeitung |
Anfang Juni verhinderten die Milchbauern die Belieferung der Molkereien und
Supermärkte, um die Erzeugerpreise anzuheben.
Ich traute meinen Augen nicht, als ich vor
zwei Wochen eine endlose Zahl von schweren Traktoren aus dem nahen und weiten Kölner Umland auf die
Mülheimer Brücke zufahren sah. Das Ziel der imposanten Kolonne war der Kölner
Milchversorgungsbetrieb des niederländischen Genossenschaftskonzerns Campina, der weite Teile des
nördlichen Rheinlands, der Eifel und des Ruhrgebiets sowie des Bergischen Landes mit Konsummilch und
Quark versorgt. Die Molkerei wurde blockiert, um Milchtanklastern die Einfahrt zu versperren. Mit dieser
Aktion kämpften die Bauern gegen die Preisdiktate von Handel und Molkereien. So wie in Köln wurden
zahlreiche Molkereien in ganz Deutschland von den Bauern ins Visier genommen.
Im Juni 2008 gab es den größten
und längsten Milchbauernstreik in der bundesrepublikanischen Geschichte. Von etwa hundertausend
Milchviehhalter ist gut ein Drittel Mitglied im Bundesverband der deutschen Milchviehhalter (BDM). Der
Verband, der 1998 wegen der Untätigkeit des Deutschen Bauernverbands gegründet wurde, hat den
Boykott organisiert. In den Supermärkten schrumpften die Milchvorräte. Und nicht nur das: die
Milchbauern haben vorgemacht, wie der Kampf über die Grenzen hinweg geführt wird. In den
Beneluxstaaten, in Österreich und der Schweiz griffen die Bauern ebenfalls zum Lieferboykott oder
drosselten spürbar ihre Milchlieferungen an die Molkereien.
Denn die Situation ist überall in
Europa dieselbe: Die Milcherzeugung liegt chronisch über dem Verbrauch. Das drückt enorm auf die
Erzeugerpreise. Die Milchviehhalter sind bei der Aufteilung der Preise die schwächsten Glieder in der
Kette. Ein halbes Dutzend mächtiger Handelskonzerne wie Aldi und Lidl diktieren auf Grund ihrer
milliardenschweren Marktmacht, was sie den gut hundert Molkereien hierzulande für deren Produkte
bezahlen.
Über die Hälfte der Molkereien
sind bäuerliche Genossenschaften. Aber deren Vorstände haben sich im Laufe des Wachstums und der
Zentralisation der industriellen Milchverarbeitung immer weiter von ihrer bäuerlichen Basis entfernt.
Über neunzig der gut einhundert Molkereien sind im Milchindustrieverband zusammengeschlossen, der unter
seinem Verbandsdach unterschiedslos Genossenschaften und „Privatmolkereien” wie Müllermilch
vereint. Gleichzeitig machen sich die Verbraucher in der Regel keine Gedanken was es bedeutet, für die
scheinbar reichhaltige Auswahl bei Milchprodukten möglichst wenig zu bezahlen.
Wie sehr muss den Bauern das Wasser nun bis zum Hals stehen, wenn sie ihre Milch wegschütten und
dabei hohe Verluste in Kauf nehmen? Sie rutschen immer tiefer in die roten Zahlen. In den letzten Jahren
haben pro Jahr durchschnittlich 5% der Milchviehbetriebe ihre Stalltüren für immer geschlossen.
Die Kosten für Futtermittel, Treibstoffe und Maschinen liegen weit über dem Niveau der 80er Jahre,
der Milcherzeugerpreis dagegen ist auf einem historischen Tiefstand. Je nach Molkerei und Gegend schwankt er
zwischen 28 und 35 Cent für konventionell erzeugte Milch (keine Biomilch). Auch die aktuellen
Ölpreissteigerungen machen den Bauern zu schaffen. Der Erlös reicht nicht mehr aus,
bäuerlichen Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern, das untere Niveau reicht nicht
einmal dazu, die Betriebskosten aufzubringen.
Deshalb haben auch große private und
genossenschaftliche Milchviehbetriebe den Lieferboykott unterstützt. Sogar
Raiffeisenhandelsgenossenschaften, Zulieferer und Tierärzte haben sich solidarisch gezeigt, indem sie
Zahlungsaufschübe oder kostenlose Dienstleistungen gewährten. Auch der Deutsche Bauernverband,
dessen Vorsitzender Sonnleitner den Streik zunächst ablehnte, zeigte sich von der massenhaften
Beteiligung am Lieferboykott beeindruckt und erklärte sich ein wenig solidarisches Verständnis,
wiewohl die Interessenslagen der beiden Bauernverbände unterschiedlich sind. Die Arbeitsgemeinschaft
bäuerliche Landwirtschaft (ABL) betonte ihre Solidarität, ebenso eine Referentin der
bischöflich-katholischen Organisation Misereor. Umfragen ergaben, dass sogar 88% der Verbraucher mit
dem Boykott einverstanden waren.
Die Gewerkschaften hielten sich bedeckt.
Immerhin arbeiten in der Deutschen Molkereiindustrie 40000 Menschen, für die sich NGG zuständig
erklärt. Ihr Chef Möllenberg wurde in der in Potsdam erscheinenden Märkischen Allgemeinen
zitiert: „Es kann nicht angehen, dass ein hochwertiges Lebensmittel wie Milch vernichtet wird.”
Dagegen meinte der Vorsitzende der IG Bauen-Agrar-Umwelt, Hajo Wilms, faire Preise würden den Bauern
die Chance bieten, Löhne und Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten zu verbessern.
Zu Jahresbeginn hatte die Molkereiindustrie
eine bescheidene Erhöhung der Produktpreise gegenüber den Handelsketten durchsetzen können.
Die ruderten im April aber wieder zurück. Die Situation, die ein Jahr zuvor wegen erhöhter Exporte
nach Asien noch für Preissteigerungen gesorgt habe, sei nun umgekehrt: Die Nachfrage sinke und damit
gebe es weltweit einen Preisverfall für Milcherzeugnisse. Im internationalen Handel ist der Preis
für eine Tonne Butter seit 2007 von 5000 US-Dollar auf nur noch 3200 Dollar gesunken. Wegen des starken
Euro verteuerten sich zusätzlich die Exporte für Milcherzeugnisse. Die EU tat ihr Übriges:
Sie erhöhte die Milchquote um 2%, angeblich um die wachsende Nachfrage aus dem Ausland auszugleichen,
damit verschlimmerte sie jedoch die Situation der Milchviehhalter. Außerdem hat die EU 2007
Milchsubventionen teilweise gestrichen.
Insbesondere der Export von Butter und
Magermilchpulver wird subventioniert. Das führt dazu, dass die Verbraucher in Burkina Faso für
einen Liter Trockenmilch aus der EU die Hälfte des Preises bezahlen, den sie für einheimische
Frischmilch bezahlen müssten. Die Molkereien sind an der Aufrechterhaltung solcher Subventionen
interessiert, weil sie sonst den Bauern nicht so hohes Milchgeld zahlen könnten.
Insgesamt zahlt die EU aus ihrem
Landwirtschaftstopf etwa 6 Milliarden Euro Subventionen; den weitaus größten Teil davon sammeln
Großbetriebe ein: Agrargenossenschaften in Ostdeutschland, Gutshöfe und reicher Adel auch
der britische Thronfolger Charles wird mit einer sechsstelligen Summe gefördert, aber auch Firmen wie
die Südzucker AG und sogar die zum RWE-Konzern gehörende Rheinbraun, die Ackerflächen
stilllegt, um neue Kohlegruben zu erschließen.
Landwirtschaftsminister Seehofer hatte sich verbal auf die Seite der Milchviehhalter gestellt. Die Frage
bleibt jedoch, welche Taten seinen Worten folgen können. Denn nun drohen Kartellamt und Milchindustrie
dem aufmüpfigen Milchbauernverband und den Bauern: Das Kartellamt meint prüfen zu müssen, ob
ein durchgesetzter Mindesterzeugerpreis nicht einer unzulässigen Preisabsprache gleichkommt, die
Molkereien wollen einen Ausgleich für ihre Produktionsverluste bzw. Schadenersatz für die
Nichteinhaltung der Lieferverträge. Ob dies ernst gemeint ist, oder zunächst der
Einschüchterung dient, wird sich zeigen. Die Bauern, die ihre Aktionen auf Geheiß des BDM
zunächst unterbrochen haben, weil Lidl die Preise für Milch und Butter wieder anhob, sind
vermutlich weiterhin boykottbereit, wenn sie mit ihren Forderungen nicht bei allen Handelsketten
durchkommen.
Was wollen sie erreichen?
Die Erzeugerpreise sollen generell auf 43
Cent pro Liter Frischmilch angehoben werden.
Die Molkereien sollen auf die
Vorschläge des BDM für eine von den Bauern mitkontrollierte und finanzierte Mengenpolitik eingehen
und bei den kommenden Vertragsverhandlungen mit dem Einzelhandel den Streikwillen der Bauern dafür
einsetzen, dass der anvisierte Erzeugerpreis tatsächlich erreicht wird.
Dafür müssen sich die
Vorstände der Molkereien dazu aufraffen, die Vertreter der Bauern als gleichberechtigte Partner im
Machtpoker anzuerkennen. Eine Empfehlung des BDM geht dahin, bei den nächsten Gremienwahlen in den
Genossenschaftsmolkereien darauf zu schauen, wer für oder gegen den Streik bzw. Sanktionen eingetreten
ist.
Bei den „Privatmolkereien”
(Müller, Bauer, Zott, Oetker-Onken u.a.) dagegen haben die Milchviehhalter so gut wie keinen Einfluss,
weil sie hier nur Lieferanten, aber nicht Miteigentümer der Betriebe sind.
Nun sehen die Marktradikalen die Stunde
gekommen, der Subventionierung und Quotierung den Garaus zu machen. Landwirtschaft soll auf dem Globus
gefälligst dort gemacht werden, wo es am billigsten geht, so wie in anderen Branchen auch. Statt
Subventionen in die Landwirtschaft zu stecken, solle man sie sinnvoller dort als Startkapital anlegen, wo
neue Erwerbszweige als neue Profitquellen entstehen können. Ein paar geschäftstüchtige
Landwirte könnten ja dafür sorgen, dass den PS-starken Autos der Sprit nicht ausgeht.
Die Zukunft einer bäuerlichen
Landwirtschaft dürfte in Deutschland immer fraglicher werden. Selbst in der Bionische herrscht
Aufräumstimmung in Richtung supermarktfähiger Massenware zu Billigangeboten. Große bis
riesige Agrarbetriebe auf privater und genossenschaftlicher Grundlage, wie es sie in Ostdeutschland gibt,
werden vielleicht irgendwann die einzig überlebensfähige Betriebsart sein, allenfalls noch
opponiert von einer kleinen Demetergemeinschaft. Ob dies ein Stück näher an einen neuen
sozialistischen Versuch führen wird, lässt sich nicht erkennen.
Mit ihrem Streik versuchen die Bauern, ihre
unmittelbare Existenz zu sichern. Damit sind sie bei vielen Menschen auf Sympathie gestoßen. Vielleicht
wird die Paradoxie des Systems besonders dort augenfällig, wo Menschen, die Lebensmittel produzieren,
aufgeben müssen, weil sie davon nicht leben können. Vielleicht fühlen sich auch viele
Menschen daran erinnert, wie schnell es heutzutage gehen kann, trotz aufreibender Arbeit zu wenig zum Leben
und zum Sterben zuviel zu haben.
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