SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2008, Seite 10

Arcelor Mittal/Lothringen: Gandrange wehrt sich

Erneute Umstrukturierung der europäischen Stahlindustrie

von Guy Schneider

Im Herzen des europäischen Stahlreviers im Dreiländereck zwischen Frankreich, Belgien und Luxemburg sollen bis 2009 die Elektrohochöfen und die meisten Walzstraßen stillgelegt werden; rund 700 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.
Das International Iron and Steel Institute liefert alljährlich den exklusiven Rahmen für ein Forum der Stahlbarone. Über alle Widersprüche hinweg werden hier die Entwicklungen am globalen Markt für Stahlprodukte analysiert. Und die sind mehr als gut. „Eine solch lange Aufschwungphase hat es für unsere Branche noch nicht gegeben”, frohlockte Thyssen-Krupp Chef Ekkehard Schulz im Oktober 2007 auf dem 41.Weltstahlkongress in Berlin. Auch danach streifte die Panik an den Börsen die Aktienkurse der Stahlriesen nur am Rande: sie bleiben trotz äußerst negativem konjunkturellem Umfeld stabil.
Arcelor-Mittal-Vorstand Michel Würth behauptete damals in seiner Euphorie sogar, die früheren Pläne, unrentablere Werke im europäischen Binnenland herunterzufahren und die Reste der Produktion an die Küste in die Nähe von Häfen, oder aber in Billiglohnländer zu verlegen, seien erst einmal vom Tisch.
Nun boomt der Stahlsektor immer noch, zum Teil wegen der enormen Nachfrage aus China. Aber es drängen auch Erzeuger aus Indien, Russland und Brasilien auf den Markt. In China gehen laufend neue Hochöfen und Walzwerke in Betrieb; dieses Jahr exportiert China erstmals mehr Stahl, als es importieren muss.
Die Angst der Stahlarbeiter vor einer weltweiten, tiefgreifenden Umwälzung der Stahlbranche ist deshalb mehr als berechtigt. Rund um den Globus rollt die Konsolidierungswelle bereits, der Startschuss für eine noch viel radikalere Neuaufteilung des Stahlmarkts ist abgefeuert. Ihr Ziel ist, die Preise für Stahlprodukte so hoch wie möglich zu halten und die Gier nach immer größeren Profitraten zu befriedigen. Dafür kommt ein weiterer Konzentrationsprozess in Gang: Abbau von Überkapazitäten durch Werkschließungen, Auslagerung von Produktionsabläufen in Billiglohnländer, verstärkter Einsatz von Leiharbeitern und Verschärfung des Wettkampfs zwischen den verschiedenen Personalkategorien, Leistungsverdichtung und Verschärfung des Arbeitstempos.

Guter schlechter Kapitalismus

Der Trend zeichnete sich bereits Anfang 2006 ab, als der indische Milliardär Lakshmi Mittal eine sog. feindliche Übernahme gegen Arcelor lancierte. (Der Konzern entstand 2002 aus der Fusion zwischen der französischen Usinor, der luxemburgischen Arbed und der spanischen Arceralia. Der luxemburgische Staat war mit 5,6% Arcelors größter Einzelaktionär.) Im Hintergrund zogen bei dieser Elefantenhochzeit einige berüchtigte Hedgefonds die Fäden. Dieser enormen Kapitalkonzentration konnten und wollten die politischen Oberhäupter Luxemburgs und Frankreichs nichts entgegensetzen, um die Interessen der betroffenen Metallarbeiter zu schützen. Geeint in einem Anflug von ökonomischem Patriotismus verkündeten sie lediglich „Bedenken” gegenüber der geplanten feindlichen Übernahme.
Teil dieser Heiligen Allianz waren auch die sozialdemokratischen Gewerkschaftsbosse, die Arcelor zum Symbol eines „menschlichen Industriekapitalismus” emporhoben, während sie Mittal als schändlichen Vertreter eines „inhumanen Finanzkapitalismus” abstempelten. Doch zu keinem Moment machten die Gewerkschaften gegen die feindliche Übernahme mobil, ihre Proteste beschränkten sich auf Pressemitteilungen.
Vergessen waren die Tausende Arbeitsplätze, die ab dem Ende der 70er Jahre im Zuge der damaligen Restrukturierung der Stahlindustrie in der europäischen Großregion Saar/Lor/Lux/ Rheinland-Pfalz/Wallonie vernichtet worden waren. Vergessen war auch die Tatsache, dass Arcelor kurz nach seiner Gründung einige „unrentable” Betriebe und Hütten in Luxemburg und Frankreich verhökert hatte, und zwar an ... Mittal-Steel!
Die Arbeitsbedingungen bei Arcelor Mittal sind grausam. Es klebt Blut an den Profiten des Multis: Mitte Januar wurden 30 Bergarbeiter in Kasachstan in einer Erzmine lebendig begraben. Doch man muss nicht unbedingt im Kasachstan leben, um bei Arcelor Mittal durch einen Arbeitsunfall sein Leben zu verlieren. 2007 kamen wenigstens vier Beschäftigte in der europäischen Großregion ums Leben. In Arbeitssicherheit wird nur dann investiert, wenn sie der Imagepflege dient und ein paar Extragewinne einfährt.

Der Kahlschlag beginnt

Drei Monate nach dem Weltstahlkongress wurde den Stahlarbeitern im französischen Gandrange, südlich von Thionville, schlagartig bewusst, was die Aussagen eines Managers wert sind. Würth hatte mit seinen Aussagen lediglich die deutschen Belegschaften beruhigen wollen; Gandrange war vom Verwaltungsrat bereits als erster Standort ausgesucht, der auf dem Altar der Profitakkumulation geopfert werden sollte.
Hier, im Herzen des Reviers im Dreiländereck zwischen Frankreich, Belgien und Luxemburg, sollen bis 2009 die Elektrohochöfen und die meisten Walzstraßen stillgelegt werden; rund 700 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.
Damit ist die Schließung angekündigt, obwohl Lakshmi Mittal selbst das Werk gerne als Vorzeigeobjekt für seine Geschäfte in Europa nutzt. Soll das Werk 2005 noch 16 Millionen an Gewinn erwirtschaftet haben, so stand es bereits zwei Jahre später angeblich mit 30 Millionen Euro in der Kreide. Zudem, so argumentiert die Geschäftsleitung, seien die CO2-Emissionswerte der Anlage absolut nicht mehr tragbar.
Eine gefährliche Entwicklung bahnt sich an: Einmal entfesselt, wird der Sog aus Rationalisierungen und Abbau von Überkapazitäten auch die deutsche Stahlindustrie mitreißen. Nicht nur weil Arcelor Mittal wichtige Interessen in Deutschland zu verteidigen hat (Eisenhüttenstadt, Hamburg, Bremen). Auch Thyssen und Co. werden in diesem Reigen der Haie mittanzen, wenn sie ihre Positionen verteidigen wollen. In Brasilien baut Vorstandschef Ekkehard Schulz Hochöfen und Hafenanlagen im Wert von fast 3 Milliarden Euro, eine Milliarde mehr als ursprünglich geplant. Außerdem bereitet er den Neubau eines Stahlwerks in Nordamerika im Wert von mindestens 2 Milliarden Euro vor, um den Großteil der brasilianischen Brammen weiterzuverarbeiten.
ThyssenKrupp wird zudem immer wieder als Übernahmekandidat genannt. Die ersten Teilbereiche des Konzerns wurden bereits verkauft: Das Ravensburger Zulieferwerk für die Automobilbranche, Drauz Nothelfer, hat mit 400 Beschäftigten den Besitzer gewechselt, seine Zukunft ist unsicher.
Seit der großen Stahlkrise Ende der 70er Jahre haben sich weder die französischen noch die belgischen oder luxemburgischen Gewerkschaften von den zahlreichen Niederlagen erholt. Der vom Management ausgearbeitete Restrukturierungsplan „Lux 2010” ist seit Mitte 2007 bekannt, aber der europäische Betriebsrat hüllt sich in lähmendes Schweigen. Das Vertrauen in die meist sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften in der Großregion ist stark geschrumpft.
Am 4.Februar sprach Nicolas Sarkozy in Gandrange vor einer handverlesenen Gewerkschaftsdelegation. Der französische Präsident versprach massive staatliche Finanzspritzen, um die Produktionsanlagen zu modernisieren und die zum Teil sehr junge Belegschaft besser auszubilden. Zu keinem Zeitpunkt kam die Rede auf die Verantwortung der Aktionäre, die seit Jahren bewusst keinen Euro in die Hütte investieren, Mensch und Produktionsanlagen bis zum Anschlag strapazieren und dabei Traumprofite einfahren.
Nur einen Tag später entpuppte sich Sarkozys Versprechen als eines seiner typischen Manöver. Die wütende Belegschaft sollte abgelenkt und verunsichert werden. Seine Wirtschaftsministerin relativierte sie mit Hinweis auf die EU-Gesetzgebung, die die staatliche Einmischung in den freien Markt doch arg beschränke.

Was tun?

2007 haben sich diese Aktionäre satte 2,15 Milliarden Euro Gewinn geteilt. Das regt den Appetit an. Nach einem lukrativen Exkurs in den Eisenbahnsektor treibt es Arcelor Mittal nun ins nicht weniger rentable Geschäft mit der Energie. (2005 schluckte Arcelor den Frachtbereich der luxemburgischen Staatsbahn CFL bzw. dieser wurde dem Multi vom luxemburgischen Staat geschenkt. Die Arcelor-Mittal-eigene Stromgesellschaft Soteg soll mit dem mehrheitlich staatlichen luxemburgischen Strommonopolisten Cegedel und mit SaarFerngas [Hauptaktionär: Arcelor Mittal] zu einem der größten Anbieter in der Region zusammengelegt werden.)
Seit Anfang Februar kontrolliert der Konzern überdies 90% des Stahlkonzerns China Oriental und wird noch in diesem Jahr 20 Milliarden Euro in den Bau von zwei Stahlwerken in Indien stecken. Die Stahlarbeiter in Gandrange aber werden in den frühzeitigen Ruhestand geschickt oder in andere Werke verfrachtet, während Hunderte von Teilzeit- und Leiharbeitern auf der Straße landen.
Gandrange ist der erste Dominostein, der bei dieser Umstrukturierung kippt. Viele weitere werden folgen. Gerade jetzt wäre es enorm wichtig, den Widerstand gegen die massive Vernichtung von Arbeitsplätzen auszudehnen und ihm eine internationalistische Dimension zu geben.
Derzeit spielt der Konzern noch geschickt mit der leider nicht nur geografischen Aufsplitterung der Belegschaften. Die Metall- und Stahlarbeiter haben ihren Kampfgeist, ihre Energie, ihren Mut und ihre Fähigkeit zur Solidarität noch lange nicht verloren, aber die französischen Gewerkschaftsführungen haben einen ernsthaften Widerstand gegen die Schließung der Hütte bisher verhindert.
Vor Ort machen sich die Gewerkschaften gegenseitig Konkurrenz bei der Vorstellung von Gegengutachten. Wirtschaftsanalytiker mühen sich, mit reichlich Zahlenmaterial zu belegen, dass das Werk in Gandrange rentabel sein könnte. Vergebens wartet man auf den „guten” Kapitalisten, der das Werk kaufen will, und degradiert die Belegschaft zu reinen Statisten. Dieser Kampf kann nur gewonnen werden, wenn die Belegschaften den Privatbesitz von Produktionsmitteln in Frage stellen.


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