SoZ - Sozialistische Zeitung |
Vor 20 Jahren, im Juni 1988, ging der spektakuläre Kampf der Belegschaft
gegen die Totalschließung des Hüttenwerks in Duisburg-Rheinhausen zu Ende. Er bleibt eine
Landmarke in der jüngeren Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland.
Was in den 160 Tagen zwischen dem
Beginn des Kampfes am 27.11.1987 und dem im Juni 1988 erreichten Kompromiss an hartnäckigem
Widerstand geleistet und an neuen und mutigen Kampfformen erprobt wurde, bleibt so legendär wie die
großartige praktische Solidarität. Mit Krupp Rheinhausen waren Grundfragen des
Selbstverständnisses nicht nur der IG Metall und zentrale Fragen gewerkschaftlicher
Strategie und Taktik aufgeworfen. Gewerkschaftsoffiziell wurden sie nie konsequent aufgearbeitet.
Auf dem Areal im Duisburger Stadtteil
Rheinhausen, wo heute ein expandierendes Logistikzentrum steht, ließ die Industriellendynastie Krupp,
später der Krupp-Konzern und zuletzt der fusionierte Konzern Krupp-Hoesch zwischen 1897 und 1993 Stahl
herstellen: mit über 16000 Beschäftigten in der Spitze, unter harten Arbeitsbedingungen,
angefangen bei Wechselschicht bis hin zu den physischen, psychischen und Umgebungsbelastungen; mit der
jeweils modernsten technischen Ausrüstung der Branche. Aber auch mit sehr unterschiedlichen
Profitraten, die in den 80er Jahren für die Kapitaleigner immer uninteressanter wurden.
Man muss wissen, dass gerade in der
Stahlbranche das in Großanlagen gebundene Kapital einen sehr hohen Anteil ausmacht und nur über
längere Zeiträume hohe Profite abwirft.Die zyklischen Konjunkturbewegungen führen hier
typischerweise in der Boomphase schnell zu hohen Profiten und in der Rezession schnell zu massiven
Verlusten. Seit den 70er Jahren war die Stahlbranche der kapitalistischen Welt allerdings auch in eine
massive Strukturkrise geraten. Hohe Produktivitätsfortschritte und Verdrängungswettbewerb bei
gleichzeitig ausbleibenden substanziellen Markterweiterungen hatten zwischen 1974 und 1986 allein in der
damaligen Bundesrepublik zur Vernichtung von über 130000 Arbeitsplätzen im Stahlbereich
geführt. Praktisch alle Standorte in der alten Bundesrepublik waren in der ersten Hälfte der 80er
Jahre von massiven Abbauprogrammen betroffen, viele existenziell bedroht.
Anfang der 80er Jahre rief die EU-Kommission
für die europäische Stahlindustrie die „offene Krise” aus und setzte Produktionsquoten
fest; ab Herbst 1986 versuchte sie schließlich, den gordischen Knoten durchzuhauen. Im Gerangel mit den
15 größten Konzernen (zusammengeschlossen in der kartellartigen Vereinigung Eurofer) betrieb die
EU-Kommission eine massive, mit Prämien verbundene Stilllegungspolitik. Überall flammte Widerstand
dagegen auf. Doch mit der Entscheidung der Regierung Kohl, den Abbauprozess mit Sozialplangeldern zu
flankieren, wurde der Bewegung die Spitze abgebrochen.
Die IG-Metall-Führung ließ sich,
ohne irgendein verbindliches Ergebnis, im Sinne der monatelang propagierten
„Beschäftigungsgesellschaften” einbinden. Nach einer Konzernentscheidung vom November 1987
sollte auch die Hütte in Rheinhausen bis August 1988 liquidiert werden. Ein Brocken, an dem sich
allerdings einige zu verschlucken drohten.
Die auf inzwischen nur noch 5300 Köpfe abgebaute Belegschaft wehrte sich gegen ihre
Existenzvernichtung. Sie hatte sich bereits gegen den schrittweisen Abbau gewehrt und ein Opfer nach dem
anderen gebracht, versüßt mit „Sozialplänen”, von denen andere Branchen nur
träumen konnten. Nur wenige Wochen, bevor durch eine „Indiskretion” der Stilllegungsplan
der Konzernleitung unter dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Cromme bekannt wurde, war eine Bestandsgarantie
für den Kern der Hütte gegeben worden, verbunden mit weiteren Ausbildungs- und
Qualifizierungsmaßnahmen.
Die Wucht der Auseinandersetzung löste
eine bis dahin ungekannte Welle der Solidarität aus: Das Werk war praktisch besetzt; die
Beschäftigten kontrollierten die Produktion; es gab eine eigenständige, breite
Öffentlichkeitsarbeit; es gab Straßenblockaden und Massendelegationen in andere Unternehmen, um
zur Solidarität aufzufordern. Über Monate hinweg trafen sich jede Woche Hunderte von Menschen im
Bürgerkomitee. Am 10.12.87 gab es den ruhrgebietsweiten Kampftag, der den Charakter eines
Generalstreiks, zumindest in der Stahlbranche, annahm und der gegen den Widerstand maßgebender
Funktionäre der IG-Metall-Bezirksleitung und des sog. Zweigbüros durchgesetzt werden musste. Es
entwickelte sich eine großartige bundesweite Solidarität mit zahllosen Delegationen nach
Rheinhausen. Auf vielen Großveranstaltungen im Werk mit Zehntausenden von Menschen wurde die
Solidarität gefestigt. Die Solidaritätsspenden erreichten über eine Million Mark.
All das ließ bei Politik und Kapital,
aber auch in den Führungsetagen von IG Metall und DGB, die Alarmglocken schrillen. Die SPD-
geführte Landesregierung unter Rau betrieb ein doppeltes Spiel, übte sich scheinbar in
Mitgefühl und Solidarität, setzt aber alles daran, um das Feuer in Rheinhausen auszutreten.
Symptomatisch, dass Franz Steinkühler, damals Vorsitzender der IG Metall, bei seinem ersten Besuch in
Rheinhausen 16 Tage (!) nach Beginn des Kampfes, der inzwischen die ganze Republik bewegte, dem Betriebsrat
die bange Frage stellte: „Läuft euch das hier auch nicht aus dem Ruder?"
Teile der betrieblichen Führung
unterlagen mehr und mehr dem Druck von Gewerkschaftsapparat, Politik und Kapital. Die Solidarität in
der Branche wurde immer schwieriger, je länger sich die Auseinandersetzung hinzog. Bei Hoesch in
Dortmund verbreiteten interessierte Kreise: „Die Schließung von Krupp Rheinhausen lässt uns
überleben.” Bei Krupp Bochum wurde fehlendes Vormaterial aus Rheinhausen von anderswo zugekauft
und gewalzt. Die IG Metall setzte dem nichts Ernsthaftes entgegen. Statt an den Quasigeneralstreik vom
10.12.87 anzuknüpfen, den Abwehrkampf zu verklammern und die Kampfformen zu radikalisieren,
beschwichtigte sie. Auch die „Stop-and-go-Taktik” der betrieblichen Führung in Rheinhausen
wurde von Woche zu Woche problematischer.
Nach 160 Tagen Kampf kam schließlich
die sog. „Frankfurter Vereinbarung” zwischen Konzernleitung, Politik und Betriebsrat zustande.
Danach wurden betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen, Sozialplanregelungen, Versetzungen in andere
Unternehmen und Strukturhilfen der Politik erreicht. Die auf einen 1-Ofen-Betrieb reduzierte Hütte lief
schließlich noch fünf Jahre weiter.
Mit der offiziellen Linie der IG Metall, der Mehrzahl ihrer Hauptamtlichen in der Branche und vor Ort und
ihrer mangelnden Konfliktbereitschaft wäre das nicht durchsetzbar gewesen. Der Kompromiss war im
Wesentlichen das Ergebnis des Wirkens jüngerer, neuer Kräfte auf der Hütte und auch in
anderen Unternehmen der Branche. Sie hatten begriffen, was auf dem Spiel stand. Sie agierten spontan so, wie
es ihnen Hans Janssen, einer der wenigen kämpferischen Spitzenfunktionäre der Frankfurter IG-
Metall-Zentrale, in seinen Ansprachen empfahl: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht
kämpft, hat schon verloren. Seid nicht zimperlich, die andern sinds auch nicht!"
Eine gewerkschaftliche Strategie des Kampfes
um echte Strukturreformen mit dem Ziel der Vergesellschaftung der Branche auf Basis einer gemeinsamen
Mobilisierung aller betroffenen Standorte und Belegschaften, anstelle der sozialpartnerschaftlichen
„Begleitung” der Stilllegung, hätte deutlich mehr bringen können. Nicht nur für
die Hütte in Rheinhausen, sondern auch für die Beschäftigten wie auch für die
betroffenen Städte und Gemeinden der Stahlbranche insgesamt. Das Ziel der Vergesellschaftung
über Jahrzehnte in Grundsatzprogrammen und Satzungen eingemottet war in den Jahren zuvor wieder
sehr stark in die gewerkschaftliche Diskussion gekommen, als Kampfperspektive sogar Beschlusslage eines
Gewerkschaftstags. Im Kampf um den Erhalt der Rheinhausener Hütte und anderer Standorte spielte es aber
praktisch keine Rolle.
Nach Rheinhausen, zahlreichen weiteren
Stilllegungen und massiven Arbeitsplatzverlusten sowie der neoliberalen Gehirnwäsche im Gefolge des
Zusammenbruchs und der Rekapitalisierung der staatsbürokratischen Gesellschaften seit Beginn der 90er
Jahre ist das Thema aus den gewerkschaftlichen Diskussionen praktisch verschwunden. Das ist ein
gefährliches programmatisches Defizit. Wird die Diskussion um diese Themen nicht wieder aufgenommen,
können auch keine fortschrittlichen gewerkschaftspolitischen Gesamtperspektiven mehr entwickelt werden,
die über Tarifkämpfe, defensive Teilkämpfe und gelegentliches Aufbäumen hinausgehen, wie
zuletzt der Fall Nokia gezeigt hat.
Hermann Dierkes ist Vorsitzender der
Ratsfraktion DIE LINKE Duisburg.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |