SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2008, Seite 11

Vor 20 Jahren in Duisburg-Rheinhausen: Eine Chance wurde vertan

Vom Kampf gegen die Werksschließung zur Forderung nach Vergesellschaftung der Stahlindustrie

von Hermann Dierkes

Vor 20 Jahren, im Juni 1988, ging der spektakuläre Kampf der Belegschaft gegen die Totalschließung des Hüttenwerks in Duisburg-Rheinhausen zu Ende. Er bleibt eine Landmarke in der jüngeren Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland.
Was in den 160 Tagen — zwischen dem Beginn des Kampfes am 27.11.1987 und dem im Juni 1988 erreichten Kompromiss — an hartnäckigem Widerstand geleistet und an neuen und mutigen Kampfformen erprobt wurde, bleibt so legendär wie die großartige praktische Solidarität. Mit Krupp Rheinhausen waren Grundfragen des Selbstverständnisses — nicht nur der IG Metall — und zentrale Fragen gewerkschaftlicher Strategie und Taktik aufgeworfen. Gewerkschaftsoffiziell wurden sie nie konsequent aufgearbeitet.
Auf dem Areal im Duisburger Stadtteil Rheinhausen, wo heute ein expandierendes Logistikzentrum steht, ließ die Industriellendynastie Krupp, später der Krupp-Konzern und zuletzt der fusionierte Konzern Krupp-Hoesch zwischen 1897 und 1993 Stahl herstellen: mit über 16000 Beschäftigten in der Spitze, unter harten Arbeitsbedingungen, angefangen bei Wechselschicht bis hin zu den physischen, psychischen und Umgebungsbelastungen; mit der jeweils modernsten technischen Ausrüstung der Branche. Aber auch mit sehr unterschiedlichen Profitraten, die in den 80er Jahren für die Kapitaleigner immer uninteressanter wurden.
Man muss wissen, dass gerade in der Stahlbranche das in Großanlagen gebundene Kapital einen sehr hohen Anteil ausmacht und nur über längere Zeiträume hohe Profite abwirft.Die zyklischen Konjunkturbewegungen führen hier typischerweise in der Boomphase schnell zu hohen Profiten und in der Rezession schnell zu massiven Verlusten. Seit den 70er Jahren war die Stahlbranche der kapitalistischen Welt allerdings auch in eine massive Strukturkrise geraten. Hohe Produktivitätsfortschritte und Verdrängungswettbewerb bei gleichzeitig ausbleibenden substanziellen Markterweiterungen hatten zwischen 1974 und 1986 allein in der damaligen Bundesrepublik zur Vernichtung von über 130000 Arbeitsplätzen im Stahlbereich geführt. Praktisch alle Standorte in der alten Bundesrepublik waren in der ersten Hälfte der 80er Jahre von massiven Abbauprogrammen betroffen, viele existenziell bedroht.
Anfang der 80er Jahre rief die EU-Kommission für die europäische Stahlindustrie die „offene Krise” aus und setzte Produktionsquoten fest; ab Herbst 1986 versuchte sie schließlich, den gordischen Knoten durchzuhauen. Im Gerangel mit den 15 größten Konzernen (zusammengeschlossen in der kartellartigen Vereinigung Eurofer) betrieb die EU-Kommission eine massive, mit Prämien verbundene Stilllegungspolitik. Überall flammte Widerstand dagegen auf. Doch mit der Entscheidung der Regierung Kohl, den Abbauprozess mit Sozialplangeldern zu flankieren, wurde der Bewegung die Spitze abgebrochen.
Die IG-Metall-Führung ließ sich, ohne irgendein verbindliches Ergebnis, im Sinne der monatelang propagierten „Beschäftigungsgesellschaften” einbinden. Nach einer Konzernentscheidung vom November 1987 sollte auch die Hütte in Rheinhausen bis August 1988 liquidiert werden. Ein Brocken, an dem sich allerdings einige zu verschlucken drohten.

"Läuft euch das nicht aus dem Ruder?"

Die auf inzwischen nur noch 5300 Köpfe abgebaute Belegschaft wehrte sich gegen ihre Existenzvernichtung. Sie hatte sich bereits gegen den schrittweisen Abbau gewehrt und ein Opfer nach dem anderen gebracht, versüßt mit „Sozialplänen”, von denen andere Branchen nur träumen konnten. Nur wenige Wochen, bevor durch eine „Indiskretion” der Stilllegungsplan der Konzernleitung unter dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Cromme bekannt wurde, war eine Bestandsgarantie für den Kern der Hütte gegeben worden, verbunden mit weiteren Ausbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen.
Die Wucht der Auseinandersetzung löste eine bis dahin ungekannte Welle der Solidarität aus: Das Werk war praktisch besetzt; die Beschäftigten kontrollierten die Produktion; es gab eine eigenständige, breite Öffentlichkeitsarbeit; es gab Straßenblockaden und Massendelegationen in andere Unternehmen, um zur Solidarität aufzufordern. Über Monate hinweg trafen sich jede Woche Hunderte von Menschen im Bürgerkomitee. Am 10.12.87 gab es den ruhrgebietsweiten Kampftag, der den Charakter eines Generalstreiks, zumindest in der Stahlbranche, annahm und der gegen den Widerstand maßgebender Funktionäre der IG-Metall-Bezirksleitung und des sog. Zweigbüros durchgesetzt werden musste. Es entwickelte sich eine großartige bundesweite Solidarität mit zahllosen Delegationen nach Rheinhausen. Auf vielen Großveranstaltungen im Werk mit Zehntausenden von Menschen wurde die Solidarität gefestigt. Die Solidaritätsspenden erreichten über eine Million Mark.
All das ließ bei Politik und Kapital, aber auch in den Führungsetagen von IG Metall und DGB, die Alarmglocken schrillen. Die SPD- geführte Landesregierung unter Rau betrieb ein doppeltes Spiel, übte sich scheinbar in Mitgefühl und Solidarität, setzt aber alles daran, um das Feuer in Rheinhausen auszutreten. Symptomatisch, dass Franz Steinkühler, damals Vorsitzender der IG Metall, bei seinem ersten Besuch in Rheinhausen 16 Tage (!) nach Beginn des Kampfes, der inzwischen die ganze Republik bewegte, dem Betriebsrat die bange Frage stellte: „Läuft euch das hier auch nicht aus dem Ruder?"
Teile der betrieblichen Führung unterlagen mehr und mehr dem Druck von Gewerkschaftsapparat, Politik und Kapital. Die Solidarität in der Branche wurde immer schwieriger, je länger sich die Auseinandersetzung hinzog. Bei Hoesch in Dortmund verbreiteten interessierte Kreise: „Die Schließung von Krupp Rheinhausen lässt uns überleben.” Bei Krupp Bochum wurde fehlendes Vormaterial aus Rheinhausen von anderswo zugekauft und gewalzt. Die IG Metall setzte dem nichts Ernsthaftes entgegen. Statt an den Quasigeneralstreik vom 10.12.87 anzuknüpfen, den Abwehrkampf zu verklammern und die Kampfformen zu radikalisieren, beschwichtigte sie. Auch die „Stop-and-go-Taktik” der betrieblichen Führung in Rheinhausen wurde von Woche zu Woche problematischer.
Nach 160 Tagen Kampf kam schließlich die sog. „Frankfurter Vereinbarung” zwischen Konzernleitung, Politik und Betriebsrat zustande. Danach wurden betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen, Sozialplanregelungen, Versetzungen in andere Unternehmen und Strukturhilfen der Politik erreicht. Die auf einen 1-Ofen-Betrieb reduzierte Hütte lief schließlich noch fünf Jahre weiter.

Vergesellschaftung neu diskutieren

Mit der offiziellen Linie der IG Metall, der Mehrzahl ihrer Hauptamtlichen in der Branche und vor Ort und ihrer mangelnden Konfliktbereitschaft wäre das nicht durchsetzbar gewesen. Der Kompromiss war im Wesentlichen das Ergebnis des Wirkens jüngerer, neuer Kräfte auf der Hütte und auch in anderen Unternehmen der Branche. Sie hatten begriffen, was auf dem Spiel stand. Sie agierten spontan so, wie es ihnen Hans Janssen, einer der wenigen kämpferischen Spitzenfunktionäre der Frankfurter IG- Metall-Zentrale, in seinen Ansprachen empfahl: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Seid nicht zimperlich, die andern sind‘s auch nicht!"
Eine gewerkschaftliche Strategie des Kampfes um echte Strukturreformen mit dem Ziel der Vergesellschaftung der Branche auf Basis einer gemeinsamen Mobilisierung aller betroffenen Standorte und Belegschaften, anstelle der sozialpartnerschaftlichen „Begleitung” der Stilllegung, hätte deutlich mehr bringen können. Nicht nur für die Hütte in Rheinhausen, sondern auch für die Beschäftigten wie auch für die betroffenen Städte und Gemeinden der Stahlbranche insgesamt. Das Ziel der Vergesellschaftung — über Jahrzehnte in Grundsatzprogrammen und Satzungen eingemottet — war in den Jahren zuvor wieder sehr stark in die gewerkschaftliche Diskussion gekommen, als Kampfperspektive sogar Beschlusslage eines Gewerkschaftstags. Im Kampf um den Erhalt der Rheinhausener Hütte und anderer Standorte spielte es aber praktisch keine Rolle.
Nach Rheinhausen, zahlreichen weiteren Stilllegungen und massiven Arbeitsplatzverlusten sowie der neoliberalen Gehirnwäsche im Gefolge des Zusammenbruchs und der Rekapitalisierung der staatsbürokratischen Gesellschaften seit Beginn der 90er Jahre ist das Thema aus den gewerkschaftlichen Diskussionen praktisch verschwunden. Das ist ein gefährliches programmatisches Defizit. Wird die Diskussion um diese Themen nicht wieder aufgenommen, können auch keine fortschrittlichen gewerkschaftspolitischen Gesamtperspektiven mehr entwickelt werden, die über Tarifkämpfe, defensive Teilkämpfe und gelegentliches Aufbäumen hinausgehen, wie zuletzt der Fall Nokia gezeigt hat.
Hermann Dierkes ist Vorsitzender der Ratsfraktion DIE LINKE Duisburg.


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