SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2008, Seite 15

Asylpolitik:

Staatsterror gegen Fremde

von Albrecht Kieser

Am 18.Juni billigte das EU-Parlament mit der Mehrheit der konservativen und liberalen Parteien die von den Innenministern der Mitgliedstaaten beschlossene Richtlinie. Sie enthält keine Regelungen zur Legalisierung von Ausländern ohne gesicherten Status und orientiert Politik und Behörden auf Abschiebung.
Als Hohn auf den diesjährigen Tag des Flüchtlings am 20.Juni erscheint die neue Abschieberichtlinie der EU. Ihre zentrale Ansage besteht darin, unliebsame Ausländer künftig länger ins Gefängnis zu stecken, damit sie besser abgeschoben werden können. Das war in den meisten europäischen Ländern bislang nur für wenige Tage möglich — sozusagen eine behördliche Vorgriffsmaßnahme, wenn eine Abschiebung unmittelbar bevorstand. Jetzt hat Europa das deutsche Modell übernommen, nach dem die Inhaftierung bis zu eineinhalb Jahren dauern darf. Solche Gefängnisaufenthalte müssen durch kein Gerichtsverfahren legitimiert werden. Sie werden von Amts wegen verfügt. Haftbeschwerden sind zwar möglich, über sie entscheidet jedoch ein einzelner Haftrichter — auch hier findet kein ordentliches Gerichtsverfahren statt.
Die neue Abschieberichtlinie geht auf deutsche Initiative zurück. Innenstaatssekretär Peter Altmaier (CDU) zeigte sich erfreut: „Wir haben im Sinne Deutschlands erreicht, dass die Abschiebungen von denen, die wir loswerden wollen, in Zukunft erleichtert werden."
Zu denen, die die europäischen Ausländerpolitiker und -behörden „loswerden” wollen, gehören undokumentiert eingereiste Arbeitsmigranten, Ausländer, die ihr Besuchsvisum überzogen haben, und abgelehnte Asylbewerber. Menschen, die vor Umweltkatastrophen oder Hungersnöten fliehen und schon deshalb nicht als asylberechtigt gelten, zählen ebenso zu den künftigen Haftkandidaten. Schuldlos ins Gefängnis zu kommen — also wie strafrechtlich schuldig Gesprochene behandelt und inhaftiert zu werden — ist der ihnen vorgezeichnete Weg, wenn sie wagen, sich in die europäischen Demokratien aufzumachen.
Wenige Tage nach der Verabschiedung der Abschieberichtlinie durch die EU-Innenminister meldete sich der Präsident Boliviens, Evo Morales, zu Wort. Sein Schreiben veröffentlichte wenig später die bolivianische Botschaft in Berlin. Es trägt den Titel „Eine Direktive der Schande” und verdient es, länger zitiert zu werden, nicht nur, weil es die Europäer an ihre eigene Geschichte von Flucht und Migration erinnert:
"Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war Europa ein Kontinent von Emigranten. Dutzende Millionen Europäer gingen nach Amerika, als Kolonisatoren, vertrieben von Hunger, Finanzkrisen, Kriegen oder auf der Flucht vor totalitären Regimen und der Verfolgung ethnischer Minderheiten. Die europäischen Migranten, ihr Hab und Gut sowie ihre Rechte wurden bei uns immer respektiert. Heute ist die Europäische Union das Hauptziel der Migranten der Welt. Der Grund ist der gute Ruf der Europäischen Union als Region von Prosperität und öffentlichen Freiheiten. Die Migranten kommen mehrheitlich in die EU, um zu dieser Prosperität beizutragen, nicht um sich ihrer zu bedienen. Sie wirken bei öffentlichen Arbeiten mit, in der Baubranche, im Bereich der Dienstleistungen und in Krankenhäusern. Sie übernehmen meist Tätigkeiten, die Europäer nicht ausüben können oder wollen."
Der wirtschaftliche Beitrag der Migranten für ihre Heimatländer ist in der Tat bedeutsam: Die zugelassenen wie die undokumentierten — sog. illegalen — Migranten haben im Jahr 2006 allein nach Lateinamerika 68 Milliarden US-Dollar überwiesen, das Doppelte der ausländischen Investitionen in diesen Ländern. In Bolivien machen diese Überweisungen mehr als 10% des Bruttoinlandsprodukts aus.

Verstoß gegen Menschenrechte

Die Abschieberichtlinie widerspräche aber auch mehrfach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, unterstreicht Morales:
"Was das Schlimmste ist: Es wird die Möglichkeit geschaffen, Mütter und Minderjährige, ohne ihre familiäre oder schulische Situation zu berücksichtigen, in Internierungszentren einzusperren. Die Folgen sind Depressionen, Hungerstreiks und Selbstmorde. Wie können wir tatenlos akzeptieren, dass Mitbürger und lateinamerikanische Brüder ohne Papiere in Lagern eingepfercht werden? Und das, obwohl sie mehrheitlich seit Jahren dort gearbeitet haben und integriert sind. Auf welcher Seite besteht heute die Pflicht zu humanitärer Einmischung?"
Dass sich ein ausländisches Staatsoberhaupt in dieser Weise mit der Abschiebepolitik der Europäischen Union auseinandersetzt, ist bislang einmalig. Aber offensichtlich dringend geboten. Denn die Kritik der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR, sämtlicher Menschenrechtsorganisationen, Kirchen und Flüchtlingsverbände in Europa verhallt ohnmächtig. Selbst die Ärzteschaft, die nach dem Willen der deutschen Ausländerpolitik zu Hilfsbeamten bei gesundheitlich bedrohlichen Abschiebungen werden soll, kommt seit Jahren mit ihrem Protest nicht durch. Erneut hat der 111.Deutsche Ärztetag im Mai erklären müssen, man werde sich dem amtlichen Konzept „Ärzte für Flugmedizin” verweigern. Danach sollen Ärzte Abschiebungen besonders von Kranken und Suizidgefährdeten begleiten und dem Rauswurf einen humanen Anstrich geben. Man werde, so der Ärztetag, berufsrechtlich gegen Mediziner vorgehen, die sich entgegen den ethischen Grundsätzen ärztlichen Handels für dieses Konzept missbrauchen lassen.
Nach dem EU-Beschluss wird solche zivilgesellschaftliche Gegenwehr noch dringlicher, aber sicher nicht leichter werden.
Vielleicht hilft es in dieser Situation, sich der Grundsätze globaler Solidarität zu erinnern, an die Evo Morales appelliert. Dem engstirnigen Blick europäischer Innenpolitiker stellt er die überlebensnotwendige Weitsicht auf die Probleme des Planeten gegenüber:
"Die Welt, ihre Kontinente, ihre Ozeane und ihre Pole sind von Problemen belastet: die globale Erwärmung, die Verschmutzung, der langsame aber sichere Verbrauch der Energieressourcen und die bedrohte Biodiversität. Hunger und Armut wachsen in allen Ländern und schwächen unsere Gesellschaften. Die Migranten, ob mit oder ohne Papiere, zu Sündenböcken für diese globalen Probleme zu machen, ist keine Lösung."


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