SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2008, Seite 18

Sterbehilfe

"Wir brauchen schnell mehr Tote"

Leiden und Verfall passen nicht zum Bild des gesellschaftlich aktiven Menschen

von Erika Feyerabend

Der Bundestag berät Mitte Juni über ein Gesetz, das Patientenverfügungen, in denen Menschen aufschreiben, wie sie im Falle der Bewusstlosigkeit behandelt werden wollen, für den Arzt verbindlicher macht.
Bislang gelten Patientenverfügungen als „Behandlungswunsch”, den Vormundschaftsrichter, Ärzte und gesetzliche Betreuer interpretieren und befolgen können — aber nicht müssen. Der jüngste Vorschlag zu einem deutschen Patientenverfügungsgesetz will den tödlichen Behandlungsabbruch unabhängig vom Grundleiden des Betroffenen verbindlich umgesetzt sehen. Was zähle, sei die „Patientenautonomie”, die auch bei nicht tödlich verlaufende Krankheiten gelte, zum Beispiel im Koma oder bei Demenz. Der Vorschlag wird von über 200 Parlamentariern unterstützt.
Patientenverfügungen werden aktiv beworben. Darüber kursieren weit über zweihundert Broschüren, Anleitungshefte und Muster. Seit Jahren gibt es parlamentarische Versuche, solche Willenserklärungen rechtsverbindlich zu machen.
Dabei ist viel von „Selbstbestimmung” die Rede, wenig aber von den ökonomischen und sozialpolitischen Motiven der Protagonisten solcher Angebote in Landesärztekammern, Pflegeheimen, Seniorenverbänden oder Sterbehilfeverbänden. Das überstrapazierte Ideal passt zu einem Gesundheitswesen, das immer warenförmiger wird und in dem das Arzt-Patient-Verhältnis in eine Kunden-Dienstleister-Beziehung umgedeutet wird. Es passt zu einer Gesellschaft, in der jede Zuversicht, im Alter und bei Pflegebedürftigkeit versorgt und geachtet zu werden, verschwunden ist. Jeder muss selbst Vorsorge zu treffen, das ist sozial erwünscht.
Auch die Patientenverfügung gilt als verantwortungsbewusstes Verhalten. Dabei wird übersehen, dass hier nicht weniger auf dem Spiel steht als das gesellschaftliche Tötungsverbot. Mit den Verfügungsangeboten wird die ärztliche Behandlungspflicht außerhalb der Sterbephase beschränkt. Wenn die Behandlung mit Antibiotika oder die Sondenernährung unterlassen werden, dann ist das Ziel des Behandelns bzw. Unterlassens der Tod des Patienten, der gerade nicht stirbt, dessen Leben aber als „nicht mehr lebenswert” eingeschätzt wird.

Der moderne Tod

Carl-Henning Wijkmark hat in seinem 1978 erschienen Buch Der moderne Tod. Vom Ende der Humanität die sozialpolitischen und gesellschaftlichen Gefahren der Sterbeplanung literarisch vorweggenommen.
Die Geschichte erzählt von einem Symposium zum Thema „Der letzte Lebensabschnitt des Menschen” Bert Persson, Ministerialdirektor und Mitglied einer gleichnamigen Projektgruppe im Sozialministerium, leitet das Symposium und schaut zurück auf die 70er Jahren: Damals war die Zeit für Euthanasiebeschlüsse noch nicht reif. Ökonomen spielten eine untergeordnete Rolle. Eine „massive Meinungsbildung in gesellschaftlicher Regie” hatte noch nicht stattgefunden. Nun sei es allerhöchste Zeit dafür: „Die Bevölkerungspyramide ist ungünstig. 75% der Pflegekosten entfallen auf Langzeitpflege und Pflege hoffnungsloser Fälle ... Unter den 25% Produktiven ... herrscht verzweifelte Unzufriedenheit.” Persson weiß: Eine gesellschaftliche Planung, die auf Tötung alter oder behinderter Pflegebedürftiger hinausläuft, ist heikel. Doch die eskalierende gesellschaftliche Krise lasse keine andere Wahl, sagt Persson. „Wir brauchen schnell mehr Tote, um es ganz brutal zu sagen ... Und die Wurzel des Übels ist nicht primär, dass die Euthanasie ungesetzlich ist, sondern sie ist es, weil so wenige eine Euthanasie verlangen ... Es muss wieder natürlich werden, zu sterben wenn die aktive Zeit vorbei ist. Wir müssen die Probleme mit den Alten lösen, nicht gegen sie."
Seine Projektgruppe hat eine versteckte Meinungsumfrage gemacht und festgestellt: Es gibt, besonders bei den armen und kranken Alten, eine „Reformbereitschaft”, sprich Euthanasiebereitschaft. Sie wollen nicht der Allgemeinheit zur Last fallen. Dies zu verstärken ist die vornehme Aufgabe der Politik. Der „letzte Akt der Selbständigkeit” — die Entscheidung zum Tod — darf aber nicht erbettelt werden, sondern soll ein „gesetzlich festgelegtes Recht auf Sicherheit” sein.

Ist Altwerden unwürdig?

Den modernen Tod gibt es auch in Deutschland. Unterhalb der aktiven Sterbehilfe, wie sie mittlerweile in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg üblich ist, wird der Tod verordnet, entschieden und nachgefragt. Der Unterschied liegt nicht in der Wahl der Methode, also in der aktiv oder passiv genannten Sterbehilfe, sondern darin dass diese „Hilfe” gar nicht Sterbenden gilt, sondern Menschen, die schwerkrank oder verzweifelt sind.
Das Problem liegt deshalb auch nicht in individuellen, persönlich verantworteten Behandlungsgrenzen, die im Klinikalltag getroffen werden. Es liegt in einer Gesellschaft, in der „das Leiden und der Verfall nicht als ‘würdig‘ gelten und nicht übereinstimmen mit dem glatten, jugendlichen, gut ernährten Bild, das wir uns vom Menschen und seinen Rechten machen”, analysiert der französische Philosoph Alain Badiou. „Wer sieht nicht, dass die ‘Debatte‘ über Euthanasie vor allem auf das radikale Fehlen einer Symbolisierung für Alter und Tod hinweist?"
Damit meint Badiou, dass alt, pflegebedürftig oder verwirrt zu sein aus dem Spektrum der sozial akzeptierten Lebensweisen herausfällt. Sie passen nicht in das Bild des „willensfähigen” Individuums. Ein Leben in solcher Lage wird zunehmend rechtfertigungsbedürftig.
Die Rede von den „unbezahlbaren Gesundheitskosten in einer überalternden Gesellschaft” ist unüberhörbar. Öffentlich alimentierte Wissenschaftler verfassen Studien mit dem schönen Titel: „Altersbezogene Rationierung von Gesundheitsleistungen im liberalen Rechtsstaat” Der Ökonom Friederich Breyer favorisiert das „Alter als Abgrenzungskriterium bei lebenserhaltenden Maßnahmen” Seine Begründung für den altersbezogenen Ausschluss von medizinischen Leistungen: Er „beruht ganz wesentlich auf der Annahme, dass die Erwartungen auf zukünftigen Konsum die entscheidende Quelle für Lebensfreude sind. Je älter der Mensch bereits ist, desto weniger zukünftiger Konsum liegt noch vor ihm, um so weniger kann er noch gewinnen, wenn er seine augenblickliche Überlebenschance steigert."
Mit der Einführung von Budgets und diagnosebezogenen Abrechnungsschlüsseln in den Krankenhäusern werden Patienten in ökonomisch mehr oder weniger rentable Fälle unterteilt. Für die Pflegenden und die Ärzte entstehen unter Umständen Dissonanzen zwischen ihrer berufsethischen Orientierung und dem Zwang, wirtschaftlich handeln zu sollen. Sie suchen Entlastung. Eine Patientenverfügung, die den Wunsch nach Leistungsbegrenzung zum Ausdruck bringt, kann entlastend wirken und im Berufsalltag zum „tödlichen Mitleid” werden.
Aber auch die unmittelbare soziale Umgebung der Verfügenden ist alles andere als eindeutig und entspricht keineswegs immer jenem harmonischen Familienideal, dass im Diskurs um Patientenverfügungen angeführt wird.
Thomas Klie und Baldo Blinkert haben sich mit sozialer Ungleichheit und Pflege beschäftigt und festgestellt, dass die Sicherheit, im Alter und bei Pflegebedürftigkeit gut versorgt zu werden, brüchig wird. Wer arm ist und wenig sozialstaatliche Unterstützung bekommt, ist mit der Pflege ohne professionelle Dienste möglicherweise überfordert, braucht das Pflegegeld aber möglicherweise für die eigene knappe Haushaltskasse. Andere hoffen, wenigstens die eigene Alterssicherung oder die eigenen Ersparnisse zu retten — und vermeiden teure Unterbringungen.
Und was ist mit jenen Kranken und Betagten, die weder rechtzeitig Familien gegründet noch private Altersvorsorge betrieben haben? Einen Anspruch auf umfassende Versorgung am Lebensende gibt es nicht. Wer seine Familie nicht belasten will oder diesen sozialen Zusammenhang gar nicht hat, wird sich etwas „leichter” für den Versorgungsabbruch entscheiden.

Leid vermeiden

Kern der Patientenverfügung als Formular und als Debatte ist nicht die Suche nach sozialen Lebens- und Sterbedingungen. Es geht um den tödlichen Behandlungsabbruch außerhalb der Sterbephase. Das vermeintliche Angebot, das eigene Sterben oder das der Anderen entscheiden und planen zu können, wird von allen Verfügungsanbietern — bis hin zu Hospizvereinen — als „würdig” und gelegentlich als (moralischer) Rechtsanspruch zur Sprache gebracht.
Die Tragödie des Todes, die konkrete Sterblichkeit, das Problem der Pflege- und Hilfebedürftigkeit, die möglichen Kontrollverluste, all das soll individuell und vertraglich vermieden werden können. In den öffentlichen Botschaften herrscht eine Art Management des Sterbens. Weil der Übergang vom Sterblichen zum Sterbenden prinzipiell einer anderen Ordnung angehört, weil also die Zukünftigkeit des Todes nicht vergegenwärtigt werden kann, ist das Denken hier besonders offen für allerlei Mythen und Handlungsanweisungen. Das ist eine der Gefahren, die dem modernen Sprechen über den Tod innewohnen: Ästhetisch und kontrolliert, mit wenig Leidenszeit verknüpft, ist tatsächlich auch oder gerade der Tod durch die Hand des Arztes oder die Mitarbeit des Sterbebeihelfers.
Die Folie, vor der diese Fantasien mobilisiert werden, ist eindeutig: Wenn der „Ressourcenverbrauch” als Leitlinie für therapeutisches wie pflegerisches Handeln etabliert ist — und das ist der Fall — kann „Leidvermeidung” zur allgemeinen Norm werden, die dann durchgesetzt ist, wenn sie auch individuell und familiär handlungsleitend geworden ist.
Gerade in diesem Kontext ist die Rede von der „Apparatemedizin”, als eine „nicht mehr loslassende Medizin” (Enquêtekommission Ethik und Recht der modernen Medizin, 2004) gefährlich. Es gibt eine solche Medizin, es gibt aber auch umgekehrt soziale Sicherungssysteme, die immer mehr Menschen „loslassen” — erst Recht im Alter, bei Krankheit und wenig privater Risikoabsicherung.

Renitent und uneindeutig

Behandlungsentscheidungen werden in Heimen oder Kliniken getroffen. Doch die Verantwortung dafür verschiebt die dokumentierte Willensbekundung vom Arzt und Betreuer auf den Betroffenen, der oder die sich in dieser Lage nicht mehr äußern kann. Die Angaben in den Verfügungen sind notgedrungen diffus und können vor dem Hintergrund ökonomischer und sozialer Bedingungen interpretiert werden. Bemerkenswert dabei: Gerade solche Pflegekräfte, die den Abbruch von Ernährungen oder das fiebrige Sterben mit einer unbehandelten Lungenentzündung alltäglich begleiten müssen, werden in den Gerichtsentscheidungen zu diesem Thema gar nicht gehört. Nicht selten sind es die Pflegenden, die den Behandlungsabbruch nicht befürworten und deshalb juristisch dazu verpflichtet werden.
Anders als immer dargestellt, sind Patienten renitenter und uneindeutiger, als man denken möchte. Nach zwanzig Jahren Werbung in den USA bezeugen ausgesprochene Befürworter des Verfügungswesens, dass nur sehr wenige — auch nur wenige schwer Erkrankte, die ihren Tod absehen können — Patientenverfügungen ausfüllen. Auch der Onkologe Stephan Sahm hat eine Studie vorgelegt, die zum Ergebnis kommt, dass gerade Krebskranke keine rechtsverbindliche Verfügung wollen.
Der Ministerialdirektor Bert Persson hat nicht nur willige Medizinethiker und Sozialökonomen geladen, um den selbstbestimmten Lebensverzicht bei alten Menschen zu mobilisieren. Sein Gegenspieler ist der Schriftsteller und Historiker Axel Rönning. Er nennt die angestrebte „Sterbedienstleistung” den „modernen Tod”, der zu dem Leben davor passe. „Wir dürfen existieren. Zuerst als Produktionsfaktoren. Dann aus Gnade als Alte und bald nicht einmal mehr das."

Die Autorin ist Mitarbeiterin von Bioskop e.V., Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien.




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