SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2008, Seite 19

Wirtschaftskrise

— oder eine Krise kritischer und alternativer Ideen?

von Ingo Schmidt

Ende der 80er Jahre, die Wirtschaftspresse begann gerade, die Informationstechnologie als Quelle unbegrenzten Produktivitätswachstums zu vermarkten, spottete der US- Ökonom und Nobelpreisträger Paul Samuelson: „Computer sind überall zu finden, nur nicht in der Wirtschaftsstatistik.” Ähnliches ließe sich gegenwärtig über die Wirtschaftskrise sagen. Empirische Wirtschaftsforscher berichten zwar allenthalben von Preissteigerungen, eine Rezession — die nach einer verbreiteten Definition des amerikanischen National Bureau of Economic Research dann vorliegt, wenn das Bruttoinlandsprodukt in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen negative Wachstumsraten aufweist — haben sie aber noch nicht ausmachen können, weder in den USA noch in einem der anderen kapitalistischen Hauptländer. Und trotzdem ist allenthalben von Krise die Rede.
Die Verunsicherung der Finanzanleger geht Hand in Hand mit widersprüchlichen Konjunkturprognosen. Die Konfusion unter Börsenhändlern, Wirtschaftsforschern und anderen „Wirtschaftsmachern” bestätigt, was John Maynard Keynes bereits Mitte der 30er Jahre über die ökonomische Zukunft und die Fähigkeit, diese treffend zu prognostizieren, in knappen Worten zusammenfasste: Wir wissen es einfach nicht. Bei wirtschaftlichen oder anderen Entscheidungen käme man deshalb nicht an der Annahme vorbei, dass die Welt morgen noch so ähnlich aussehen werde wie gestern. Auf dieser Grundlage ließen sich dann Entscheidungen treffen und Käufe bzw. Verkäufe tätigen.
Ein ebenso plausibler wie praktikabler Vorschlag, der allerdings ein gewisses Grundvertrauen in die Stabilität der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse voraussetzt. Damit ist es allerdings nicht zum Besten bestellt. Als sei er von Münteferings Heuschrecken gebissen, erklärte Bundespräsident Horst Köhler, immerhin ein ehemaliger Direktor des IWF, Finanzmärkte kürzlich zu Monstern, die an die politische Leine gelegt werden müssten. Ins gleiche Horn stießen Ex-Kanzler Helmut Schmidt, die Ex-Präsidenten der EU-Kommission Jacques Delors und Jacques Santer sowie eine Reihe weiterer Ex-Politiker. Sie forderten in einem Offenen Brief an die amtierende EU-Kommission die Einrichtung eines EU-Gremiums, das in Zusammenarbeit mit IWF und UN-Sicherheitsrat die internationalen Finanzmärkte kontrollieren soll.
Auch wenn wieder einmal nichts Praktisches aus solchen Vorschlägen folgt, deuten sie doch eine gewisse Entfremdung zwischen der politischen Klasse und der Bourgeoisie an, ein Haarriss im neoliberalen Herrschaftsblock. Teilen der politischen Klasse behagt es offenbar nicht, die Prügel für eine Politik einzustecken, die anderen mehr nutzt als ihnen selbst. Andererseits wird soviel Eigensinn des politischen Personals von Vermögensbesitzern und Unternehmenslenkern als unangemessen empfunden. Von einem Butler wird loyale Zuarbeit, keine Mitsprache erwartet.
Es liegt allerdings auch etwas Verstörendes in der Tatsache, dass Politiker, die den Neoliberalismus in der Vergangenheit entweder aktiv vorangetrieben haben wie Köhler und Santer, oder wie Schmidt und Delors als den sozialdemokratischen Idealen letztlich überlegen akzeptiert haben, Töne à la Lafontaine anschlagen. Sollte, nachdem das Tempo der neoliberalen Gegenreform in den vergangenen Jahren bereits erheblich verlangsamt wurde, auch noch ein politischer Richtungswechsel angezeigt sein? Wäre es nicht gut, selbst ein Alternativprogramm vorzulegen, bevor Attac, die LINKE und Gewerkschaften ihre diesbezüglichen Forderungen zu einem mobilisierungsfähigen Aktionsprogramm ausarbeiten? Vorsicht ist bekanntlich besser als Nachsicht. So wie damals als Keynes, Lord Beveridge und einige amerikanische New Dealer einer möglichen Radikalisierung der Arbeiterbewegung durch einen „bürgerlichen Reformismus” zuvorkamen, der aus heutiger Sicht allerdings selbst schon als radikal erscheint.

Neuer bürgerlicher Reformismus

Ende der 90er Jahre — die Bewegung für globale soziale Gerechtigkeit war gerade im Entstehen — hat sich eine Denkrichtung herausgebildet, für die Autoren wie Barry Eichengreen, Jeffry Frieden, Harold James und Dani Rodrik bekannt sind. Der rote Faden, der deren Werke durchzieht, lässt sich grob vereinfachend folgendermaßen zusammenfassen: Von den 1870er Jahren bis 1914 führten zunehmende Außenhandelsverflechtungen und internationale Kapitalströme zu einer „ersten Welle der Globalisierung” Möglich wurde dies, weil immer mehr Länder zu dem von Großbritannien garantierten Goldstandard übergingen. Dieser schuf verlässliche Kalkulationsgrundlagen für Händler und Investoren und machte insofern das erwähnte Problem der Unsicherheit hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen handhabbar. Darauf bauend, dass der Wert des in Import- und Exportgeschäften zirkulierenden oder im Ausland angelegten Kapitals zumindest nicht durch Inflation oder Wechselkursänderungen verringert würde, wagten sich immer mehr Unternehmen auf den Weltmarkt vor.
Der „Preis” der internationalen Stabilität bestand allerdings darin, dass Konjunkturkrisen im Inland jedes Mal mit einem enormen Anschwellen von Arbeitslosigkeit und Armut einhergingen — eine Arbeitslosenversicherung gab es ja noch nicht. Dadurch wurden politische Gegenbewegungen hervorgerufen, die es nach dem Ersten Weltkrieg politisch unmöglich machten, zum Goldstandard zurückzukehren — der wegen der inflationären Kriegsfinanzierung von den kriegführenden Ländern aufgegeben worden war — oder ein multilaterales Weltwirtschaftssystem auszuhandeln, das an die Stelle des Goldstandards hätte treten können.
Dies gelang erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als mit dem Bretton-Woods-System feste Wechselkurse, mit dem Gatt-Prozess stufenweise Zollsenkungen und mit der UNO ein „liberaler Internationalismus” institutionalisiert werden konnte, der eine Integration der Weltwirtschaft ermöglichte und außenpolitische Spannungen politisch verhandelbar machte. Zudem produzierten sozialstaatliche Absicherungen und Umverteilung im Inneren die notwendige Legitimation.
Allerdings, und mit dieser negativen Dialektik endet die Argumentation von Eichengreen und ihm verwandten Autoren, hat die Globalisierung den Spielraum sozialstaatlicher Umverteilung immer weiter eingeschränkt. Damit ist eine Situation eingetreten, in der der Sozialstaat zur Legitimationsbeschaffung zwar notwendig bleibt, aber leider, aufgrund der Eigenlogik des Wirtschaftssystems, ein Ding der Unmöglichkeit geworden ist.
Politikfähig wird man mit solchen Argumenten nicht. Das musste die rot-grüne Bundesregierung erfahren, als sie Hartz IV und die Agenda 2010 damit entschuldigte, dass sie den Sozialstaat „eigentlich” gar nicht abbauen wolle, dies unter dem Druck des weltwirtschaftlichen Imperativs aber leider tun müsse. Den „Jargon der Eigentlichkeit” hat schon Adorno mit guten Gründen verspottet... Einen Weg der sozialdemokratischen Überwindung oder wenigstens Eindämmung neoliberaler Legitimationsprobleme gibt es bis heute nicht. Insofern können sich großes Geld und Konzernbesitz zumindest damit beruhigen, dass es gegenwärtig keine Alternativen zum Neoliberalismus gibt.
Und dennoch können die Herrschaften nicht ruhig schlafen. Fast möchte man meinen, sie sehen das Gespenst des Kommunismus umgehen. Ob und in welcher Gestalt das Gespenst allerdings zum „Vorschein” kommt, hängt nicht zuletzt von der Linken im weitesten und nicht im parteipolitischen Sinne ab.
Leider sind die meisten linken Strömungen aber mehr mit der Interpretation als mit der Veränderung der Welt beschäftigt. Ob die Sozialdemokratie unter Bezug auf Kant erklärt, Kommunismus solle nicht existieren; ob Kritische Theoretiker erklären, er könne nicht existieren; ob Wertkritiker erklären, der Kommunismus sei in der Wertform versteckt oder ob Postmodernisten den Kommunismus in eine „umherschweifende” Fantasie auflösen — die Frage nach der Veränderung der Welt durch jene, die an ihr leiden, wird aus Angst, es könnte wieder daneben gehen, nicht gestellt. Und dabei gäbe es viele Fragen, die Raum für Kritik, Fantasie und kategorische Imperative lassen.
Allein die blinden Stellen der „Eichengreen-Strömung” liefern genug Ansatzpunkte für eine neuerliche Auseinandersetzung mit politischer Ökonomie und Klassenpolitik: Jene fragt nicht nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs, der das Ende der ersten Globalisierungswelle eingeleitet hat. Sie erwähnt nicht, dass der größte Teil der Welt unter Kolonialverwaltung stand und daher den Goldstandard nicht freiwillig übernommen hat, sondern mit militärischer Gewalt dazu gebracht wurde. Sie setzt Kommunismus und Faschismus als protektionistische Bewegungen gleich, ohne nach der sozialen Basis, den Strategien und Zielen des einen oder anderen zu fragen.
Erst recht kommt ihr die Frage nicht in den Sinn, ob jene, die mit dem damaligen Weltwirtschaftssystem unzufrieden waren, nicht selbst hätten ein anderes System erschaffen können, das eine Alternative zu Sowjetkommunismus, Faschismus oder liberalem Internationalismus hätte sein können. Aus der Beantwortung dieser historischen Fragen lassen sich sicherlich auch Anregungen zur Entwicklung einer politischen und ökonomischen Alternative zum Neoliberalismus gewinnen. Die „Nachfrage” hiernach besteht seit langem, nur steht ihr noch kein überzeugendes „Angebot” gegenüber.


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