SoZ - Sozialistische Zeitung |
I.
Seit Jahren rollt eine Welle von Pleiten, Betriebsverlagerung und „Restrukturierungsmaßnahmen” nicht nur über
Deutschland. Die seit der Weltwirtschaftskrise von 1974/75 sich hochschaukelnden Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals sollen behoben
werden durch Ausdehnung der Freiheit des Kapitals und Einschränkung der sozialen Freiheit von Lohnabhängigen. Unter dem Einfluss
neoliberaler „Wirtschaftswissenschaft” und dem Druck der Unternehmerverbände hat die bürgerliche Politik sich diesem
Zweck ganz und gar verschrieben um anschließend mit einer Träne im Knopfloch deren teils verheerende Folgen zu bejammern.
Weil die fortschreitende soziale Polarisierung System hat, müsste auch ein systematischer Widerstand im Sinne eines Flächenbrandes
her, der die „ökonomische Vernunft” des Marktes und seiner Apologeten durchbricht.
Solange sich die Lohnabhängigen jedoch nicht als soziale Klasse
verstehen, sondern als individualisierte BürgerInnen oder allenfalls als Kollektiv von „Nokianern”, „Opelanern”
usw., gibt es keine Perspektive, die aus der existenziellen Unsicherheit und den sich rapide verschlechternden Arbeitsbedingungen
herausführt. Auf diese Weise stirbt jede Belegschaft für sich allein, die allgemeine Misere wird standhaft ignoriert.
II.
Sozialistisch-kommunistische Zielvorstellungen bleiben solange diffus und hilflos, solange keine konkrete, vorstellbare Perspektive der
Vergesellschaftung der Produktionsmittel entwickelt und überzeugend dargelegt wird. (Menschen versuchen nur das Neue zu realisieren, von
dem sie eine Vorstellung entwickelt haben!) Heute sind diese Zielvorstellungen meist in einem schlechten Sinne utopisch, sie bleiben abstrakt
("Anders leben und arbeiten” etc.) und geben oft keine oder falsche Schritte auf dem Weg zum Ziel an. Das, was ist, und das, was
sein soll steht unvermittelt neben einander. Die radikale Linke hat sich in ihrer Verarbeitung des „Realsozialismus” Denkverbote
auferlegt, die jede vorstellbare Perspektive ausschließen.
Das Problem des „Realsozialismus” bestand nicht im
öffentlichen oder staatlichen Eigentum an Produktionsmitteln, nicht in der Planung, sondern darin, dass eine Partei sich anmaßte,
den Staat wie auch die ihm gehörenden Betriebe, diktatorisch zu beherrschen und zu verwalten den Menschen einen Plan
aufzuherrschen. Die öffentliche Gewalt verlor nicht ihren politischen Charakter (Marx), daher konnte das „öffentliche
Eigentum” auch nicht wirklich gesellschaftliches Eigentum werden.
Die Verstaatlichung der Produktionsmittel bleibt jedoch ein notwendiges,
unverzichtbares Mittel auf dem Wege zur realen Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Hält man an diesem Grundgedanken fest, dann
hört die Vergesellschaftung auf, eine abstrakte, unvorstellbare Geschichte zu sein. Verstaatlichung bleibt nur dann ohne
sozialemanzipatorische Perspektive, wenn sie nicht einhergeht mit der Entwicklung von Selbstverwaltung. Aber ohne Verstaatlichung bleibt auch
Selbstverwaltung perspektivlos und macht die genossenschaftlich organisierte Produktion zu einer bloßen Variante der
„Privatproduktion”, der „Marktwirtschaft” Verstaatlichung mit sozialemanzipatorischer Perspektive bedeutet
öffentliches, gesellschaftliches Eigentum, dessen Nutzung frei assoziierten Kollektiven übertragen wird. Verstaatlichung heißt
perspektivisch auch, dass sich die Genossenschaften vernetzen, um die gesellschaftliche Produktion zu planen, den Markt
zurückzudrängen und zu überwinden.
III.
Praktikable sozialistische und kommunistische Ziele als Vergesellschaftungsvorstellungen lassen sich nur in der konkreten Auseinandersetzung
mit dem Neoliberalismus entwickeln. Das beginnt mit dem Kampf gegen den Privatisierungswahn bestehender staatlicher und gesellschaftlicher
Einrichtungen und muss enden bei der Forderung nach Verstaatlichung der Produktionsmittel bei selbstverwalteter Nutzung.
Wirkliche Vergesellschaftung entsteht nicht neben Kapital und Staat, sondern
durch Enteignung und Aneignung! Aneignung der Produktions- und Reproduktionsmittel (Fabriken, Schulen etc.) verlangt politische Macht.
Solange die Masse der Lohnabhängigen sich nicht für ihre soziale Emanzipation organisiert, kann sie die politische Macht nicht
erobern, um den Ent- und Aneignungprozess auf gesellschaftlicher Stufenleiter durchzusetzen. Solange das so ist, müssen kämpfende
Lohnabhängige Forderungen an den bürgerlichen Staat stellen, damit elementaren Interessen wenigstens partiell Rechnung getragen
wird. Sie kommen gar nicht darum herum, diese Forderungen an den Staat zu stellen, wenn sie denn für bestimmte Interessen kämpfen.
Wenn sie nämlich kämpfen, verletzen sie auf die eine oder andere Weise die bestehende Rechtsordnung, und ihr Kampf wird mit
Repression bedroht. Forderungen an den bürgerlichen Staat müssen aber nicht nur gestellt werden, um den faktischen Rechtsbruch von
kämpfenden Lohnabhängigen gesellschaftlich zu legitimieren, Repression abzuwenden. Sie müssen auch gestellt werden, wenn man
auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft für Ziele kämpfen will, die mit der Logik der Kapitalverwertung grundsätzlich
nicht kompatibel sind und als gesicherter Bestand sozialen Lebens nur jenseits kapitalistischer Produktionsverhältnisse zu realisieren
sind. Dazu gehört etwa die materielle Grundsicherung aller Menschen (womit ich kein „bedingungsloses Grundeinkommen”
meine!).
IV.
Der Kampf um den Erhalt jedes Lohnarbeitsplatzes, die vermeintlich realistische Perspektive von dauerhafter Vollbeschäftigung zu
erträglichen sozialen Bedingungen, ist im Rahmen des Kapitalismus angesichts dessen Geschichte wie auch der aktuellen weltweiten
sozialen Realität eine Farce und bietet keinerlei Perspektive, das Grundbedürfnis nach existenzieller Sicherheit zu befriedigen.
Die gesetzliche Arbeitslosenversicherung in entwickelten kapitalistischen
Ländern ist eine vom bürgerlichen Staat zugestandene Einrichtung. Sie beruht auf dem durch sozialistische Bedrohung erzeugten
staatlichen Eingeständnis, dass Lohnarbeitslosigkeit keine „Privatsache” ist, sondern gesellschaftlich erzeugt wird. Sie ist
kein Produkt „ökonomischer Notwendigkeit” oder der Vernunft, sondern des Klassenkampfs!
Die „ökonomische Notwendigkeit” des Kapitals stellt
Einrichtungen wie die bestehende Arbeitslosenversicherung tendenziell in Frage, nämlich in dem Maße, wie die Kapitalverwertung sich
krisenhaft entwickelt. Dieser Angriff lässt sich nur durch erneuten Klassenkampf und die Bedrohung durch sozialistische/kommunistische
Kräfte verhindern.
Die Sozialversicherungen wurden vom ideellen Gesamtkapitalisten geschaffen,
um die für Lohnabhängige bedrohlichen Folgen der kapitalistischen Privatproduktion in Grenzen zu halten. Sie abzulehnen oder auch
nur preiszugeben, etwa weil sie tatsächlich erfolgreich dazu beitrugen, dem Sozialismus/Kommunismus unter den Lohnabhängigen das
Wasser abzugraben, ist nicht nur töricht, sondern kommt einem Verzicht gleich, sich auf den Weg zur sozialen Emanzipation zu machen.
Alle diese Einrichtungen weisen darauf hin, dass die mit der Lohnabhängigkeit verbundenen sozialen Probleme nur durch gesellschaftliche
Maßnahmen zu lösen sind, jenseits der Privatproduktion, jenseits des durch Angebot und Nachfrage bewegten Warentausches. Sie lehren
durch Erfahrung, dass die kapitalistische Privatproduktion nicht soziales Elend abschafft, sondern produziert, und dass dieses Elend nur
durch gesellschaftliche Maßnahmen und Organisation gelindert und letztlich abgeschafft werden kann und muss.
V.
Der Ministerpräsident von NRW, Rüttgers, und andere Politiker haben, wie üblich, den
„Nokianern” versprochen, alles in ihrer Macht liegende zu tun, um deren Lohnarbeitslosigkeit zu verhindern. Das haben sie, wie
üblich, aber nicht getan, weil sie nicht bereit sind, die Freiheit des Kapitals einzuschränken.
Dabei hätten sie die politische Macht dafür durchaus. Denkbar
wäre folgendes Szenario:
Nokia macht den Laden im Juni dicht. Gut so! In Absprache mit der Belegschaft entwickelt die Landesregierung folgenden Plan:
1. Nach dem Rückzug von Nokia wird die Firma mit allem Inventar Eigentum des Landes NRW. Entschädigungslos!
2. Bis dahin erhält die Belegschaft die Möglichkeit, eine Selbstverwaltung zu entwickeln und zu erproben (Erfahrungsaustausch
mit Zanon in Argentinien). Das Geld dafür stellt Nokia bereit. (Sowas nennt sich Förderung durch Fort- und Weiterbildung.)
3. Bis dahin erhält die Belegschaft mit Unterstützung durch das Land und durch andere Einrichtungen die Möglichkeit, eine
alternative Produktion zu entwickeln. Weg von den Handys, falls eine solche Produktion nicht weiter geführt werden kann.
4. Nach dem Rückzug von Nokia bleibt das Unternehmen zwar Landeseigentum, aber die Produktion wird in Selbstverwaltung der
Belegschaft organisiert.
5. Das Land übernimmt eine Bestandsgarantie für die nächsten Jahre, auch bei roten Zahlen! Zu diesem Zweck wird ein
„Solidaritätsbeitrag Aufbau West” von allen privaten Unternehmen im Land NRW erhoben!
6. Die Landesregierung erklärt, dass sie künftig mit allen Unternehmen so verfahren wird, die „ihren sozialen
Verpflichtungen nicht nachkommen” Sie erklärt ferner, dass künftig Schluss ist mit allen Privatisierungsmaßnamen, und
dass die bereits vollzogenen rückgängig gemacht werden.
Selbstverständlich ist dieses Szenario so nicht ernst gemeint. Es erlaubt aber die öffentliche Diskussion unter den
Lohnabhängigen, die bereit und willens sind, sich auf ein Wagnis einzulassen, wie Wege zur sozialer Emanzipation geöffnet werden
können, um nicht auf Gedeih und Verderb der Lohnarbeit ausliefert zu bleiben. Existenzielle Sicherheit und Freiheit in sozialer
Verantwortung können sich die Lohnabhängigen nur selbst erkämpfen. In der Agenda des Kapitals sind sie nicht vorgesehen!
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