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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2008, Seite 04

Olympische Spiele in Peking

Die Heuchelei des Westens

von Marco D‘Eramo

Die XXIX. Ausgabe der modernen Olympischen Spiele hat eine neue, prestigeträchtige sportliche Disziplin hervorgebracht. Der Wettbewerb, der diesmal in Peking ausgetragen wurde, ist der Wettlauf der Heuchelei (einfach, doppelt und im Hürdenlauf); es ist ein emotionaler Ausscheidungskampf mit vielen Titelanwärtern. Die Europäer hatten einen guten Start, die Reaktion der USA war jedoch großartig: George Bush nahm an der Zeremonie teil und blieb ganze vier Tage in China, wahrte jedoch sein Gesicht, indem er die Chinesen für ihre Verletzungen der Menschenrechte rügte.
Dass China die Menschenrechte missachtet, ist eine Binsenweisheit. Und es ist wahr, dass das China nach Deng Xiaoping die tragischsten Auswirkungen der beiden größten Utopien der Moderne in sich vereint: die Ungleichheit und Verbrechen der kapitalistischen Ausbeutung; die Zensur und Deportationen des „realen Sozialismus” Vielleicht ist es diese bewundernswerte Synthese von Stalinismus und wildem Neoliberalismus, der die Kommentatoren vor dem „chinesischen Wunder” in Ekstase versetzt.
Um das zu sehen, musste man allerdings nicht die Olympischen Spiele abwarten. Wer wollte, konnte seine Kritik schon vorbringen, als die Kandidatur Chinas präsentiert (und akzeptiert) wurde. Aber damals schwiegen alle, auch zu den Menschenrechten. Damals begann der Wettlauf der (doppelten) Heuchelei.
Die erste betrifft die Macht, sie beleidigt die Demokratie. Anders als in China sitzen im iranischen Parlament auch Abgeordnete der Opposition, regimekritische Zeitungen überleben jahrelang, die Internetzensur ist lascher, das Satellitenfernsehen weniger streng überwacht. Aber der Iran hat weder die militärische Macht Chinas noch dessen ökonomische Übermacht: deshalb sehen wir auch Bush nicht in einem Stadion in Teheran. „Man kann die aufstrebende Macht nicht erzürnen”, „Du willst dir doch nicht die Geschäfte mit dem neuen Wirtschaftsgiganten verderben": Die Menschenrechte sind variabel, sie hängen ab von...
Es gibt jedoch noch eine weitere, viel tiefer liegende Heuchelei. Erst nach dem Ende des kalten Krieges wurde vielen klar, dass der Westen, wenn er sich zum „Hüter der freien Welt” erklärt, damit den „freien Markt” meint. Erst die autokratischen Schelmenstücke eines Boris Jelzin und die blutige Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens stellten klar, dass die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit „Optionswerte” sind, und die einzige Freiheit, die für den Westen zählt, die des Privateigentums ist.
Putin und Hu Jintao sind sicher keine ehrlichen Demokraten, aber solange sie das Privateigentum und die freien Märkte schützen, sind sie auf jeden Fall auf unserer Seite.

Aus: Il Manifesto (Rom), 8.8.2008 (Übersetzung: Angela Huemer).


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