SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2008, Seite 08

Neue Wege gewerkschaftlicher Organisierung

Organizing in der BRD

von Juri Hälker

Die Gewerkschaften müssen sich was einfallen lassen: ihnen laufen die Mitglieder davon, die Arbeitgeber steigen aus dem Flächentarif aus, Klein- und Kleinstbetriebe, die in den sog. neuen Wirtschaftszeigen entstehen, sind vorzugsweise nicht gewerkschaftlich organisiert und auch große Lebensmittelketten drohen inzwischen ihren Beschäftigten, wenn sie einen Betriebsrat bilden wollen.
Die alten Methoden gewerkschaftlicher Organisierung reichen nicht mehr hin. Einige Gewerkschaften erproben deshalb ein neues Konzept: Es heißt Organizing und kommt aus den USA.
Was ist Organizing? Mit Organizingstrategien versuchen die deutschen Gewerkschaften vor allem betriebspolitisch wieder in die Offensive zu kommen. Organizing soll bisherige erfolgreiche Gewerkschaftsarbeit nicht ersetzen, sondern stellt eine ergänzende Strategie dar. Dabei ist der Organizingansatz alles andere als unumstritten. Den begeisterten und glühenden Verfechtern stehen Gewerkschafter gegenüber, die sich in entschlossener Ablehnung üben. Dazwischen findet sich eine Mehrzahl von Kolleginnen und Kollegen mit einer demonstrativ kritisch-sachlichen Haltung. Tenor: „Ich bin nicht gegen Organizing, aber es ist auch nicht die Lösung aller unserer Probleme."
Nun hat das bisher auch niemand behauptet. Trotzdem ist eine solche Positionierung innerhalb der Gewerkschaftsapparate sehr populär, kann so doch Stellung bezogen werden, ohne sich wirklich sachkundig machen zu müssen. Das ist schade, denn die Entwicklung spezifischer deutscher und branchenbezogener Organizingstrategien bietet einer Gewerkschaftbewegung, die seit Jahren in der Defensive verharrt, die Chance wieder das Offensivspiel zu üben.
Auf den Begriff Organizing gibt es kein Copyright. In der wörtlichen Übersetzung bedeutet er nichts anderes als Organisierung. Verwirrung entsteht, wenn bspw. Werbekampagnen, die im Wesentlichen auf professionelle Kommunikation, Logos und bunte Plakate setzen, unter den Titel Organizing gestellt werden. Eine solche Werbestrategie kann im gegebenen Kontext erfolgreich und genau richtig sein — es ist aber kein Organizing. Nicht überall, wo Organizing draufsteht, ist auch Organizing drin.
Hier sollen die Grundzüge jenes Organizingmodells skizziert werden, welches in den USA vor allem von den Gewerkschaften SEIU und UNITE-HERE entwickelt wurde. Die bisherigen Organizingprojekte von Ver.di und IG BAU sowie das Organizingkonzept der IG Metall beziehen sich auf dieses Modell.

Am Anfang steht die Recherche

Das von den US-amerikanischen Gewerkschaften konzipierte Organizing geht aus von gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen, in denen es die US-amerikanischen Gewerkschafter tendenziell schwerer haben als ihre Kollegen in Europa. In der Regel bedeutet in diesem Kontext Organizing die Organisierung von weißen Flecken, Unternehmen in denen es keine gewerkschaftliche Vertretung oder Betriebsräte gibt wie in der BRD. Die Verschiedenheit der Rahmenbedingungen verbietet eine schematische Übernahme des Konzepts. Organizingstrategien in der BRD müssen den spezifischen nationalen Bedingungen sowie den zu organisierenden Branchen angepasst werden.
In den USA gibt es eine umsatzstarke Geschäftsbranche, die sich darauf spezialisiert hat, Gewerkschaften kaputt zu machen; sie setzt jährlich Hunderte Millionen US-Dollar um. Gewerkschaften müssen daher mit ganz anderen Methoden der Kapitalseite rechnen als hierzulande. Daraus resultiert eine Orientierung auf ein ausgeklügeltes und systematisches Organizing, welches im ersten Schritt mit einer gründliche Recherche über das Unternehmen beginnt.
Dieses Vorgehen eignet sich auch im Rahmen der BRD. Ziel ist es, einen Überblick über das Beziehungsgeflecht des zu organisierenden Unternehmens in Wirtschaft und Gesellschaft zu erstellen. In kurzer Zeit erschließen sich den Organizern damit neuralgische Punkte, an denen das Unternehmen gepackt werden kann. Ein Beispiel: Behindert eine Reinigungsfirma eine Betriebsratswahl, kann in der Recherche festgestellt werden, dass das Unternehmen stark von Aufträgen der Kommunen abhängig ist. Hier ist politischer Druck möglich.
Eine solch offensichtliche Relation lässt sich leicht erkennen, auch ohne ausgefeilte Organizingtechnik. Ihr wahre Stärke stellt die Unternehmensrecherche bei komplizierteren Verflechtungen unter Beweis, die unter normalen Umständen auch erfahrenen Gewerkschaftern kaum in den Blick gekommen wären.
Gewerkschafter agitieren, was in vielen Fällen sehr OK ist, Organizer aber hören zu. Kommunikation ist das wichtigste Kernelement des Organizingansatzes. Organizer suchen die Themen der Beschäftigten, diese sind in der Regel betriebsbezogen. Gewerkschafter, die den Anspruch haben Belegschaften in überbetriebliche Auseinandersetzungen (z. B. Flächentarif) und gesellschaftspolitische Kämpfe zu führen, sollten vorab unter Beweis stellen, dass sie mit den Kollegen im Betrieb zu erfolgreicher Problembearbeitung fähig sind. Dadurch entsteht jenes Selbstbewusstsein und Vertrauen, auf welches die Gewerkschaften bei den notwendigen politischen Mobilisierungen gegen Kapital und Politik zwingend angewiesen sind. Gewerkschaften, die in den Betrieben als schwach oder unglaubwürdig gelten, wird dieses nicht gelingen.

Gemeinsam aktiv werden

Organizer agieren nicht für die Lohnabhängigen, sondern mit ihnen. Gemeinsam mit den betroffenen Kollegen werden Probleme identifiziert, analysiert und Lösungswege erarbeitet. Ihr Ziel ist, dass möglichst viele Beschäftigte gemeinsam aktiv werden. Ist das Vorgehen von Erfolg gekrönt, ist es der Erfolg aller Beteiligten. Geht der Schuss nach hinten los, gilt dies gleichermaßen. Ärgern sich Kollegen über Verlauf oder Ausgang einer Kampagne, dann lässt sich schwerlich über die Gewerkschaft schimpfen. Denn die Gewerkschaft, das sind in diesem Modell die Kolleginnen und Kollegen selbst. Diese Erfahrung machen auch die Nochnichtmitglieder, welche bei vielen Organizingkampagnen bewusst mit einbezogen werden. Wichtig sind in diesem Zusammenhang niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeiten. Organisierte wie unorganisierte Kollegen lernen dadurch, aktiv und erfolgreich zu sein. Schritt für Schritt wächst so das Selbstbewusstsein und die Beteiligten werden mutiger und entschlossener. Kollegen in Betrieben, in denen Gewerkschaften nicht interventionsfähig sind, können sich mit dieser Methode zu streikbereiten Belegschaften entwickeln.
Organizing fragt: Was ist der Konflikt? Ohne Konflikt kein Organizing. Und: wer ist der Gegner? Ohne klar definiertes Gegenüber kein Organizing. Und: was ist das Ziel? Ohne konkretes Ziel kein Organizing. Im Ergebnis geht es darum ein klares, erreichbares und messbares Ziel durchzusetzen. Druck zur Durchsetzung dieses Zieles wird oft durch Methoden der direkten Aktion erzeugt. Darüber hinaus sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt.

... und Spass muss es auch machen

Neben der Aktivierung der betroffenen Kollegen geht es oft auch um Bündnisse und Druck durch Dritte. Die so erarbeiteten Interventionsmöglichkeiten, im Betrieb und ggf. auch außerhalb, bilden die nach und nach sichtbar werdenden Säulen, um die herum eine sorgfältig geplante Kampagne konzipiert ist. Organizing gleicht dem Schachspiel. Mehrere Züge werden vorausgeplant, konkret eingeplante Zwischenziele ermöglichen Erfolgserlebnisse, die motivieren und die Basis der Aktivisten systematisch erweitern. Dies gelingt auch deshalb, weil Organizer wissen, wie wichtig es ist, die Erfolge mit den Kollegen ausgiebig zu feiern! Erfolgreiches Organizing lebt von Begeisterung und ist Gewerkschaftsarbeit, die Spaß macht.
Wenn das Ende der Kampagne erreicht ist, haben die Kollegen und die beteiligten Organizer ihr Ziel erreicht. Was bleibt, ist eine selbstbewusstere und zukünftig interventionsfähige Belegschaft. Diese hat eine plastische Vorstellung vom real existierenden Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit bekommen. Und das Gefühl dafür, dass dieser erfolgreich bearbeitet werden kann. Im organisierten Betrieb ist eine gewerkschaftliche Aktivistenstruktur entstanden, die von ihrer Gewerkschaft Unterstürzung und Koordination einfordert, aber deutlich weniger Stellvertreterpolitik erwartet. Die gewerkschaftlich Aktiven haben eine Politisierung erlebt, die — das zeigen die bisherigen Erfahrungen in der BRD — auch zu einer verstärkten Beteiligung an überbetrieblichen und gesellschaftspolitischen Kampagnen der Gewerkschaften führen.
Ach ja — normalerweise steigt der gewerkschaftliche Organisationsgrad im so organisierten Betrieb signifikant an. Das lässt sich in so einem Organizingprozess aber auch kaum vermeiden.

Der vorliegende Text ist dem Supplement der Zeitschrift Sozialismus entnommen: J.Hälker (Hg.), „Organizing — Neue Wege gewerkschaftlichen Organisationsaufbaus” (September 2008), 60 S., 4,20 Euro. Bestellungen: www.sozialismus.de

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