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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2008, Seite 19

Die Lehre des Lichts verbreitet sich im Dunkeln

Fethullah Gülen und die islamischen Orden in der Türkei

von Mehmet Bakir

Trotz zahlloser Verbote und Verfolgungen gewinnen islamische Orden in der Türkei zunehmend an Einfluss.
Mit dem Zerfall des osmanischen Reiches und der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 wurde dem Reich der Scheiche (Scheich = „Ältester”, religiöses Oberhaupt) und der islamischen Sharia ("religiöses Gesetz") ein Ende gesetzt. Der Konflikt zwischen den islamischen Orden und dem Kemalismus (türkische Staatsideologie, nach dem Staatsgründer Kemal Atatürk benannt) entwickelte sich zum Machtkampf. 1924 wurden die Orden dem staatlichen „Präsidium für Religionsangelegenheiten” (Diyanet Isleri Baskanligi) unterstellt. Am 3.März 1925 wurden alle Orden verboten. Als Reaktion auf den kurdischen „Scheich-Said-Aufstand” im Februar 1925 wurde am 3.März auch der Ausnahmezustand in Nordkurdistan (dem türkischen Teil Kurdistans) verkündet. Das gleiche Gesetz verbot auch gewerkschaftliche Tätigkeit und die kommunistische Partei. 15 ihrer Gründer wurden später ermordet.
In der „laizistischen” türkischen Republik wurde die Religion dem Staat untergeordnet. Obwohl dies dem Sinn der „Trennung von Staat und Religion” widerspricht, wird diese Interpretation des Laizismus noch immer beibehalten. Die Imame (islamische Geistliche und Vorbeter) sind Beamte des Staates. Das Präsidium für Religionsangelegenheiten dient angeblich dazu, die Religion unter staatlicher Kontrolle zu halten. Es befasst sich allerdings nur mit der islamischen Religion in ihrer sunnitischen Ausprägung. Daher ist es nicht falsch zu sagen, dass der türkische Staat eine Religion hat und dass er sunnitisch ist . Man könnte ihn als „halblaizistisch” bezeichnen. Religionskritik ist bis heute strafbar und tabu.
Die Orden wurden nie wieder zugelassen, konnten aber inoffiziell weiterarbeiten. Ab 1980 wurden sie als Gegengewicht gegen die Linke gefördert.

Nurcu und Gülen

Die heute extrem einflussreiche internationale Gemeinschaft Fethullah Gülens ist Teil des Nurcu-Ordens, der wiederum ein Zweig der Nakschibendi ist (einer der zahlreichen islamischen Sufi-Orden, der auf das 14.Jahrhundert zurückgeht). Turgut Özal, der ehemalige Ministerpräsident und Vorsitzende der liberal-konservativen „Mutterlandspartei” ANAP, und Necmettin Erbakan, der Ideologe der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs und Vorsitzende der „Partei der Glückseligkeit”, sind Angehörige der Nakschibendi-Bruderschaft. Auch Recep Tayyip Erdogan, der Vorsitzende der Regierungspartei AKP und amtierende Ministerpräsident, ist als Nakschibendi bekannt. Insgesamt soll mehr als die Hälfte des Kabinetts der AKP-Regierung aus Nakschibendi bestehen.
Der Begründer des Nurcu-Orden war Said Nursī, ein Kurde, der wegen seiner engen Verbindungen zur kurdischen Bewegung auch Said-i Kurdī genannt wurde. Said Nursī kam in den Jahren des Zerfalls des Osmanischen Reichs nach Istanbul. Dort beteiligte er sich am „Aufstand des 31.März” 1909, der für einen neuen Kalifatsstaat mit Sharia-Gesetzgebung eintrat. Der Aufstand wurde von der kemalistischen Bewegung niedergeschlagen. Nursi musste nach Isparta in die Verbannung und tauchte als Mitbegründer eines der ersten kurdischen Vereine wieder auf. Zur Eröffnungsfeier der 1922 gegründeten Großen Nationalversammlung, des Parlaments der späteren Türkischen Republik, erhielt er eine Einladung.
Wegen angeblicher Beteiligung am Scheich-Said-Aufstand von 1925 wurde er erneut in die Verbannung geschickt. Im Exil in Barla begann er mit der Abfassung der Nur Külliyati, der „Bücher des Lichts”, und legte damit die Grundlagen für den Nurcu-Orden. Said Nursī vertrat die Ansicht, die Ganzkörperverschleierung (ēarsaf) sei „Burg und Graben” für die Frauen. Für Frauen sei es unschicklich, sich an Gerichte der Türkischen Republik zu wenden, da dies „nicht zur Ehre und Würde des Islam” passe. Die Politik sei der Religion untergeordnet, die staatliche Ordnung müsse von der Sharia, dem religiösen Gesetz, bestimmt werden.
Er engagierte sich dennoch weiterhin politisch und wurde dreimal ins Gefängnis geworfen, 1935, 1943 und 1947. Als 1950 das Einparteiensystem abgeschafft wurde, hielt er engen Kontakt zur neuen „Demokratischen Partei” (DP) von Adnan Menderes, die 1957 die Regierung übernahm. Der Militärputsch von 1960 stürzte die DP-Regierung; Adnan Menderes und seine engsten Vertrauten wurden hingerichtet. Nursi starb am 23.März desselben Jahres; die putschistischen Offiziere verbargen seine Leiche an einem bis heute unbekannten Ort.
Fethullah Gülen, der die Lehren von Said Nursī streng befolgt, wurde 1941 in der Provinz Erzurum geboren. Als Kleriker war er in verschiedenen Moscheen tätig, zuletzt in den großen Moscheen Istanbuls. Über seine Fernsehsender und Radiokanäle werden diese Predigten live übertragen und später in Wiederholungen gesendet. Seit er in den USA lebt, verbreitet er seine Predigten über Videoaufnahmen und natürlich youtube.com.
Fethullah Gülen gilt heute im Westen als jemand, der islamische Lehren mit liberalen Ideen verbindet und den interreligiösen Dialog propagiert, als „gemäßigter Islamist” Er nahm als islamischer Führer an „Gipfeltreffen” christlicher und jüdischer religiöser Führer teil. Als nach den Angriffen vom 11.September 2001 die antiislamische Furie losbrach, hoffte man, ein solcher Gipfel könne zur Mäßigung beitragen und gegen die „Islamophobie” helfen. Das hatte auch teilweise Erfolg.
Gülen und seine Gemeinde sind bemüht um gute Beziehungen zur jeweiligen Regierung und ihren Parteien; im Gegenzug bieten sie ihnen Wählerstimmen. Als sich Mitte der 90er Jahre ein Stimmenzuwachs für Bülent Ecevits Demokratische Linkspartei (DSP) abzeichnete, erklärte Gülen offen seine Unterstützung. Im Gegenzug lobte Ecevit die Aktivitäten der Gemeinde Gülens im In- und Ausland. Heute unterstützt die Gülen-Gemeinde die AKP-Regierung. Wirtschaftliche Verflechtungen tun ihr Übriges.

Das Imperium des Fethullah Gülen

Es heißt, islamisches Kapital verfüge in der Türkei über 50 Milliarden US-Dollar, davon sollen allein 25 Milliarden auf die Gülen-Gemeinde, also den Nurcu-Orden, entfallen. Seit 1982 veranstaltet Fethullah Gülen Treffen mit Kapitalvertretern, die seiner Gemeinde angehören oder ihr nahestehen. Bis zu 500 Unternehmen, davon 56 Großunternehmen, sind bekannt als zur Gemeinde gehörig. Ihr Jahresumsatz wird auf 2 Milliarden Dollar beziffert.
1996 gegründete die Gemeinde die Bank Asya Finans Bankasi mit 2 Milliarden YTL (Neue türkische Lira); sie macht einen Tagesumsatz von 1 Milliarde YTL. Es gibt in der Türkei drei Fatih-Universitäten, private, von Gülen betriebene Universitäten. In der Türkei unterhält Gülen mehr als 200 Privatschulen, über 1000 „Lichthäuser” (Isik Evi, religiöse Zentren, in denen die Lehren Said Nursis, die „Bücher des Lichts”, gelehrt werden), knapp 500 private Bildungsinstitute und ebenso viele Studentenwohnheime. Im Ausland betreibt er 250 Schulen und 21 Studentenwohnheime in 54 Ländern; außerdem rund 200 Stiftungen. Allein die Akyazili-Stiftung mit Sitz in Izmir besitzt 300 Immobilien, 46 Wohnheime, 16 Schulungsinstitute und diverse Handelshäuser.
Zum Imperium gehören außerdem die Cagdas-Ögretim-Isletmeleri- Schulen in Aserbaidschan, das Presseunternehmen Feza in Kasachstan und im Kaukasus, das Privathospital Örs in Ankara, eine Marktforschungsgesellschaft in Gebze und türkeiweit die Isik-Versicherung mit 400 Agenturen.
Der Medieneinfluss der Gülen-Gemeinde ist groß. Türkeiweit betreibt sie 25 Radiostationen und den Fernsehsender Samanyolu TV (STV), die Tageszeitung Zaman sowie die Zeitschriften Aksiyon und Sizinti. Zaman ist die meistverkaufte; sie wird darüber hinaus weithin kostenlos verteilt. Zaman erscheint als Tageszeitung auch in den Turkrepubliken und in Europa, seit 2007 sogar in einer internationalen englischsprachigen Ausgabe. In den Kaukasusrepubliken erscheint sie in den Landessprachen. Als einziger türkischer Fernsehsender sendet STV auch in Aserbaidschan. Die der Gemeinde nahestehende Nachrichtenagentur Cihan Haber Ajansi ist eine der größten in der Türkei und den Turkrepubliken. Über diese Kanäle werden die Botschaften des „Herrn und Meisters” Gülen verbreitet.
Die Gülen-Gemeinde wirbt offen damit, dass sie in Schulen, Bildungseinrichtungen und Kulturzentren außerhalb der Türkei die türkisch-islamische Synthese lehrt. In den Schulen sind mehr als 7000 Lehrkräfte beschäftigt. Es findet eine besondere religiöse Unterweisung durch spezielle Lehrbeauftragte oder beauftragte Schülerinnen und Schüler statt, die als „abi” bzw. „abla” (großer Bruder bzw. Schwester) bezeichnet werden.
Mädchen, die kein Kopftuch tragen, fangen bald damit an. Wenn ihre Familien nicht leben wie sie, werden die Familien zu „kafir” (vom Glauben Abgefallene) erklärt und die Kinder von ihren Familien losgerissen. Sie werden zu „erleuchteten” Anhängern der Fethullah-Gülen-Gemeinde. Die Jugendlichen, die im April 2007 drei Mitarbeiter des christlichen Zirve-Verlags in Malatya folterten und ermordeten, wurden nach eigenen Angaben in einem Lichthaus in der Lehre von Said-ī Nursī unterwiesen.

Wolf im Schafspelz?

1996/97 leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren gegen Fethullah Gülen ein: er habe versucht, den Staat umzustürzen und einen Sharia-Staat zu errichten; Gülen ging daraufhin in die USA ins Exil. Seine Predigten und „Bildungsvorträge” wurden eine Zeitlang breit in den Medien wiedergegeben. Damals wurde auch berichtet, eine seiner Zeitschriften, Sizinti, habe Kassetten mit seinen Reden vervielfältigt und in Mekka verkauft. In diesen Reden offenbart Fethullah Gülen seine wahren Absichten und Ziele: die Errichtung eines theokratischen Staates auf religiöser Grundlage. Er erklärt, man dürfe nicht offen für die Sharia eintreten, vielmehr seien eine vielseitige und langfristige Arbeit und eine unauffällige Organisierung nötig. Die Aufrufe zu derartigen Aktivitäten bildeten die Grundlage für Verfahren gegen ihn, die aber inzwischen eingeschlafen sind. Seiner Rückkehr in die Türkei scheint nichts mehr im Wege zu stehen.
Die Gülen-Gemeinde unterscheidet sich von den klassischen reaktionären Verfechtern der Sharia. Ihr Äußeres und ihr Diskurs wirken moderner, „gemäßigter” Doch der Schein trügt. Alle Orden vertreten, dass es keine Reform des Islam geben kann, dass der Koran die Gesetze (Sharia) enthält, die das gesellschaftliche Leben ordnen, und dass die Gesetze des Koran unbedingt zu befolgende Regeln (farz) darstellen.
Sie gehen jedoch davon aus, dass man das Ziel langfristig angehen und dabei unauffällig vorgehen müsse. Dabei solle man gute Beziehungen zur staatlichen Bürokratie pflegen, dort Anhänger gewinnen und eigene Leute platzieren. Besonderes Augenmerk richtet sie auf Bildungseinrichtungen und alle Arten von Jugendaktivitäten. Die Gemeinde legt Wert auf die Entfaltung einer starken Wirtschaftskraft.
Gülen hat sich innerhalb der staatlichen Institutionen (auch in der Polizei) starke Positionen verschafft. Es ist sehr wichtig, sich mit der Gülen-Bewegung (und auch den anderen Orden) gründlich zu beschäftigen, man darf sie nicht unterschätzen.

Mehmet Bakir sitzt zur Zeit im F-Typ-Gefängnis Bolu in der Türkei. Er ist verurteilt zu 2,5 Jahren Haft wegen angeblicher Mitgliedschaft in der als staatsfeindlich angesehenen „Bolschewistischen Partei/Nordkurdistan-Türkei” Zu seiner Situation als politischer Gefangener siehe seinen Blog mehmet-bakir.blogspot.com.


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