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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2008, Seite 21

Das Ende des Prager Frühlings

... war auch das Ende der Hoffnungen in eine Reform des „realen Sozialismus"

von Anna Libera

Am 21.August marschierten Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei ein und beendeten damit gewaltsam einen weiteren Versuch, das stalinistische System durch einen „Reformkommunismus” abzulösen. Der folgende Beitrag ist die Fortsetzung des SoZ-Beitrags zum Prager Frühling 1968. Teil 1 erschien in SoZ 3/08.

Die Veröffentlichung von Ludvik Vaculiks Manifest der zweitausend Worte wurde zum Vorwand für die „internationalistische” Hilfe für das „Bruderland” genommen, das angeblich von einer „Offensive konterrevolutionärer Kräfte” bedroht war.
Ab Ende Juni prägten der wachsende Druck und die Drohungen der Länder des Warschauer Paktes auf die Führung der KSC die Situation in der CSSR. Die sowjetische Führung hatte die Veränderungen an der Spitze der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSC) ohne Besorgnis registriert. Dubcek war ein treuer Verbündeter der UdSSR und sein Projekt war alles in allem sehr moderat.
Diese Haltung änderte sich ab März, angesichts des Aufschwungs der Massenbewegung, der sich entfaltenden freien Diskussion im Lande sowie der zu großen Sensibilität der Führung gegenüber dem Druck der Basis. Die Entscheidung, den außerordentlichen Parteitag einzuberufen, beschleunigte das noch. Der Kontrollverlust über die Partei wurde als der entscheidende Punkt angesehen. Anfang Juli brachten die Parteien der UdSSR, Polens, der DDR, Ungarns und Bulgariens in einem Brief an das Präsidium der KSC ihre Besorgnis über die Entwicklung im Lande zum Ausdruck. Das Präsidium sprach sich für bilaterale Zusammenkünfte mit den Bruderparteien aus, um diese über die Lage zu informieren, die Fünf jedoch wollten die tschechoslowakische Führung zu sich zitieren, um so die Spaltungen in deren Reihen auszunutzen, was das Präsidium jedoch verweigerte.
Dennoch kamen die Fünf Mitte Juli in Warschau zusammen und wiesen die Führer der KSC auf die „von der Reaktion mit Hilfe des Imperialismus gesteuerten Offensive gegen die Partei und die Grundlagen des sozialistischen Regimes” hin. Die Prager Führung sei nicht in der Lage, die Gefahren zu erkennen, es gebe sogar Konterrevolutionäre in der Führung der KSC. Die Lage sei so ernst, dass sie die Intervention der gesamten sozialistischen Gemeinschaft erfordere.
Das Präsidium der KSC wies die Anschuldigungen zurück. Eine breite Bewegung formierte sich im Land gegen die als unerträglich empfundene Einmischung, die Parteitagsvorbereitungen wurden wie geplant fortgeführt. Um die Sowjets zu beruhigen, fand am 29.Juli an der Grenze zur UdSSR ein bilaterales Treffen statt. Vom Inhalt der Diskussion ist nichts bekannt, doch nach seiner Rückkehr unterrichtete Dubcek seine Freunde vom „Verständnis der Sowjets” Vielleicht wollte er sich damit selbst überzeugen, während er sich weigerte, auf einige Generäle zu hören, die ihn besorgt von ungewöhnlichen Bewegungen der Truppen des Warschauer Paktes informierten, die schließlich am 21.August 1968 in Prag einmarschierten.
Bis zum Schluss hoffte Dubcek, das zu versöhnen, was in der Welt der Bürokratie unversöhnlich war: die Demokratisierung und die „führende Rolle” der Partei, die nationale Unabhängigkeit und die Unterordnung unter die geopolitischen Interessen der Kremlbürokratie. Er weckte damit die Erwartungen der tschechoslowakischen Arbeiter und ließ gleichzeitig die Tür für diejenigen offen, die diese Hoffnungen zunichte machen wollten.

Der Widerstand

Die Sowjets wollten durch die Militärinvasion die Mobilisierung der Bevölkerung zunichte machen. Eine Konfrontation wie in Ungarn 1956 war unwahrscheinlich. Für die Sowjets ging es deshalb zunächst darum, mit Hilfe der Truppenpräsenz die bürokratische Kontrolle über die politischen Institutionen wiederherzustellen, damit diese wieder die Kontrolle über die Massenbewegung erlangen könnten. Die Führung um Dubcek in der KSC war dabei ein willfähriges Instrument.
Die Aufgabe der Sowjets war nicht einfach. Sie wollten keine rein militärische Lösung. Sie wollten den militärischen Druck nutzen, um die Krise „politisch” zu lösen. Die Legalität musste wiederhergestellt werden, damit die KSC Ordnung schaffen konnte. Dafür blieb nur die Gruppe um Dubcek; sie musste die Bewegung wieder zerstören, die sie zugelassen hatte.
Die Führer des Prager Frühlings wurden deshalb nach Moskau zitiert und unter massiven Druck gesetzt. Aber ihre Kapitulation und die Unterzeichnung des Moskauer Protokolls, in dem sie die „vorübergehende Stationierung” der Truppen des Warschauer Pakts auf dem Territorium der tschechoslowakischen Republik akzeptierten, war nicht Folge dieses Drucks, der Hauptgrund lag in den politischen Vorstellungen der Führung um Dubcek. Für sie standen die Interessen des Apparats der KSC und der „internationalen kommunistischen Bewegung” unter der Führung des Kreml im Mittelpunkt; diese hatten Vorrang vor den Interessen der tschechoslowakischen Bevölkerung. Die KSC hatte zwar Differenzen mit Moskau, aber in den Augen Dubceks und der Seinen waren sie taktischer Natur; ein Bruch mit Moskau war niemals geplant. Zu keinem Zeitpunkt stellte Dubcek das Moskauer Protokoll infrage oder stützte sich auf die Widerstandsbewegung, an der die überwältigende Mehrheit der tschechoslowakischen Bevölkerung teilnahm.

Der geheime Parteitag der KSC

Sobald die Invasion bekannt wurde, ergriff die Parteiführung in Prag die Initiative: sie rief zum passiven Widerstand und zur Agitation der Soldaten auf, schuf mit Hilfe von Radio und Fernsehen ein Kommunikationsnetz und berief den 14.Parteikongress der KSC ein. Zweifellos war dieser Kongress rechtmäßig; über zwei Drittel der Delegierten waren anwesend. In ihrer Resolution verurteilten sie die Invasion, forderten die Freilassung der in Moskau festgehaltenen Parteiführer und wählten ein neues Zentralkomitee.
Sofort nach Bekanntwerden der Unterzeichnung des Moskauer Protokolls am 27.August lehnte das neue Zentralkomitee dieses ab. Die Führung um Dubcek erklärte jedoch nach ihrer Rückkehr nach Prag den 14.Parteikongress für null und nichtig und setzte das Zentralkomitee von 1966 wieder in sein Amt ein, unter Hinzufügung einiger Mitglieder. Im September und Anfang Oktober hoffte die Bevölkerung noch, Dubcek werde die wichtigsten Reformen retten können.

Der Widerstand der Arbeiter und Studenten

Straßendemonstrationen gegen die Besatzer waren nicht möglich, dennoch tat die Selbstorganisation der Massen einen qualitativen Schritt nach vorn, vor allem durch die Wahl von Arbeiterräten in allen Fabriken. Diese Wahl war vom Gesetz vorgesehen, jetzt bekam sie jedoch einen unmittelbar politischen Charakter. Ebenso stärkten die Studenten ihre unabhängigen Organisationen.
Ende Oktober gab es erneut Demonstrationen. Am 28.10., dem 50.Jahrestag der Gründung des tschechoslowakischen Staates, demonstrierten Tausende in Prag für den Abzug der sowjetischen Truppen, noch massiver waren die Proteste anlässlich der Feiern zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Daraufhin verbot die Regierung die drei bekanntesten Zeitschriften des Widerstands, Politika, Literarni Listy und Reporter.
Die Studenten verstanden als erste die Notwendigkeit, Aktionen gegen die Besatzung zu organisieren und eine von der Dubcek-Führung unabhängige Führung aufzubauen. Am Vorabend der Sitzung des Zentralkomitees vom November gründeten sie ein Aktionskomitee, das alle Fakultäten repräsentierte, und erklärten es im Dezember zum Studentenparlament. Nach dem Verbot der vom Aktionskomitee initiierten Demonstration am 17.November wurden im ganzen Land zwei Tage lang die Fakultäten und Schulen besetzt. Die Studenten richteten einen „Brief an die Genossen Arbeiter und Bauern":
”..Die Arbeiterklasse ist mutig, vernünftig und diszipliniert. Sie gerät nicht in Panik, sie lässt niemand im Stich, sie will Frieden und Freundschaft mit allen Völkern, Gerechtigkeit, den demokratischen Sozialismus, den Sozialismus mit menschlichem Antlitz; sie hasst die Gewalt und die Ungerechtigkeit, die Demütigung und Unterdrückung..."
Die Arbeiter hatten die Manöver der Dubcek-Führung satt, und der Brief der Studenten wurde zum Signal für eine neue Welle von Massenaktionen und von Fabrik zu Fabrik weitergereicht. Die Studenten sprachen in den Werkshallen; Arbeiterdelegationen kamen in die besetzten Universitäten. Zahlreiche Fabriken beschlossen zu streiken, falls die Studenten angegriffen würden. Auch die Intelligenz unterstützte die Bewegung ohne Vorbehalte.

Repression

Dubcek erstickte nun alle Hoffnungen im Keim: Er stärkte die Polizeipräsenz in Prag, zensierte alle Informationen über den Streik der Studenten und startete eine Denunziationskampagne gegen die Organisatoren.
Doch in dem Moment, als die Illusionen der Arbeiter in die Führung des Prager Frühlings sich aufzulösen begannen, verfügte die Massenbewegung nicht über eine alternative Führung, die eine breite Autorität genossen hätte.
Um die Aktionseinheit zwischen Studenten und Arbeitern in den Großbetrieben hatte sich eine breite Avantgarde geschart. Doch eine so breite Mobilisierung konnte nicht unbegrenzt ohne ein politisches Projekt aufrechterhalten werden. Die Kräfte, die diese mächtige Widerstandsaktion in eine politische Offensive hätten verwandeln und die Parteiführung spalten können, waren zersplittert. Sie waren im Widerstand aktiv, gingen aber völlig in der Organisierung der Massen auf, hatten keine Verbindung untereinander und nicht die Möglichkeit, ein solches Projekt zu formulieren.

Smrkovski dankt ab

Zwei Ereignisse demoralisierten den Widerstand Anfang Januar 1969. Seit Herbst waren Differenzen in der Führung um Dubcek aufgetreten. Husak und Strougal hatten sich offen auf die Seite der Sowjets gestellt und wollten den Prozess der Normalisierung beschleunigen. Im Dezember forderte Husak öffentlich den Rücktritt Smrkovskis von seinem Amt als Präsident der Nationalversammlung. Aus allen Fabriken des Landes erreichten Smrkovski zahlreiche Solidaritätsresolutionen; doch am 5.Januar trat er vor das Fernsehen und griff diejenigen an, die ihn verteidigten. Zwei Tage später war er abgesetzt. Somit hatte einer der populärsten Führer des Prager Frühlings den Kampf aufgegeben. Das war auch für viele Aktivisten und Parteikader, die noch zögerten, das Signal, rechtzeitig ihr Lager zu wählen und sich nunmehr auf die Seite Husaks zu schlagen.
Jan Palachs Selbstverbrennung am 16.Januar mitten in Prag war ein Symbol: Die Bevölkerung war immer noch bereit zur massiven Mobilisierung, hatte aber jede Hoffnung verloren, bei der KSC Unterstützung zu finden und siegen zu können. Am 21.Januar demonstrierten 100000 Menschen auf dem Wenzelsplatz. Zum ersten Mal wurde die rote Fahne durch die der tschechoslowakischen Republik 1918—1939 ersetzt; daran zeigte sich die veränderte Haltung der Bevölkerung zum Verrat der KSC. Bei Palachs Beerdigung marschierte eine Million Menschen schweigend durch die Straßen Prags. Nur noch das Recht zu schweigen war übrig geblieben.
Ende Februar erklärte Dubcek auf einer Milizversammlung: „Wir haben den Höhepunkt der Januarkrise überwunden” Er hatte Recht. Von nun an hatte er für die Besatzer keinen Wert mehr.
Am 28.März schlug die tschechoslowakische Eishockeymannschaft die der UdSSR mit 4:3. Zahllose Demonstranten zogen durch die Stadt — gegen die Besatzung. Der Kreml setzte nun den zweiten Teil seines Invasionsplans in Kraft: Dubcek wurde von Husak abgelöst und als Botschafter in die Türkei geschickt — dort schwieg er. Im Januar 1970 wurde er zurückbeordert und aus der Partei ausgeschlossen.
Tausende von Parteiausschlüssen, Entlassungen, Drohungen mit dem Entzug der Studienzulassung für die Kinder, Zwangsexilierungen und Verhaftungen zerschlugen die Massenbewegung. Im Schatten der sowjetischen Panzer wurde die Normalisierung auch durch wirtschaftliche Zugeständnisse durchgesetzt, vor allem im Bereich der Konsumgüter. Im Unterschied zu Polen in den 80er Jahren erlebte die Tschechoslowakei in den 70er Jahren ein relatives Wachstum. Die verbliebene Opposition scharte sich schließlich um die Charta 77, die bis zur sog. „samtenen Revolution” die Hauptkraft der Opposition blieb.

(Übersetzung: Hans-Günter Mull)


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