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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2008, Seite 08

IG-Metall-Vorstand entdeckt Organizing

Acht Thesen zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit

von Jochen Gester

Seit ein paar Wochen ist ein Thesenpapier aus der Vorstandsverwaltung der IG Metall zum Thema „Organizing” über das Internet zugänglich. Es vermittelt den Eindruck, als sei die in der Gewerkschaftslinken und in Teilen der sozialen Bewegungen geführte Debatte um eine gewerkschaftliche Neuausrichtung nun auch beim IGM-Vorstand angekommen.
Das Strategiepapier ist unterzeichnet von Jörg Weigand, Sören Niemann- Findeisen, Torsten Lankau und vom neu gewählten zweiten Vorsitzenden Detlef Wetzel. Es trägt den Titel: „Organizing: Die mitgliederorientierte Offensivstrategie für die IG Metall — Acht Thesen zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit”
Für mich als Mitglied eines gewerkschaftlichen Arbeitskreises, der seit über 15 Jahren innerhalb der IG Metall für eine mitgliederorientierte Gewerkschaftsarbeit eintritt und dabei selten offene Türen einrennt, sind diese Thesen unerwartet erfreulich. Bisher war mir bekannt, dass sich radikale Linke mit Organizing im Rahmen von Mayday-Kampagnen befassen. Auch das von Ver.di in Hamburg initiierte Pilotprojekt im Bereich der Sicherheitsdienste ist bekannt (siehe SoZ 9/08) — ähnliches im Organisationsbereich der IG Metall dagegen nicht.
Das Papier dokumentiert nun, dass sich hier eine Tür geöffnet hat — worauf viele schon seit über zehn Jahren hoffen. In den 90er Jahren hatten die „Entscheidungsträger” der IGM den „Standort Deutschland” entdeckt, und noch während der Zukunftsdebatte ab 2000 ging es mehr um die Anschlussfähigkeit an die neoliberale Neue Mitte als um eine ehrliche Lagebeurteilung.
2001 war ich beteiligt an einer von der IG Metall beauftragten Studie zum Thema „Zukunft der Gewerkschaften” Hier hatten wir empfohlen, sich u.a. die positiven Erfahrungen mit dem Organizing in Großbritannien und den USA zunutze zu machen. Doch damals herrschte der Glaube vor, die institutionelle sozialstaatliche Einbindung der Gewerkschaften sichere ausreichend Einfluss, um nicht auf solche Methoden aus der Frühphase der Arbeiterbewegung angewiesen zu sein. Offensichtlich haben die Erfahrungen des voranschreitenden gewerkschaftlichen Bedeutungsverlusts diese Selbstgewissheit nachhaltig erschüttert.

Was drin steht

Die 1.These des Papiers ist die Feststellung, dass „die Sozialpartnerschaft brüchig geworden” ist und die „Erwerbsarbeit einer Prekarisierung unterliegt”, auch dass „die Kapitalseite bewährte Mechanismen in Frage [stellt]” Erwerbsarbeit wird „wieder prekär, wie sie schon einmal am Beginn der Industrialisierung war”
These 2 beschreibt, wie sich das System der industriellen Beziehungen verändert in Richtung „kleinteiliger” und „einzelbetrieblicher Regulierung” mit Arbeitszeitregelungen nach dem Muster eines Flickenteppichs. Die Normwirkung von Tarifverträgen löst sich auf. Arbeitgeber stellen in tariflichen Auseinandersetzungen Gegenforderungen, und in den Belegschaften entwickeln sich neue Formen von Netzwerken und Listen — wobei es keineswegs ausgemacht sei, „dass es sich dabei um sehr arbeitgebernahe und damit nicht glaubwürdige Organisationen ... handeln muss”
These 3 betont, dass die Privatisierung der Sozialversicherungen die Gewerkschaften schwächt und als Machtressource institutioneller Verankerung aushöhlt.
These 4 beschreibt das veränderte Selbstverständnis des Managements in Richtung Shareholder-Value-Orientierung und die „Verwettbewerblichung aller Innen- und Außenbeziehungen des Unternehmens"; Mitarbeiter unterhalb der „High-Potential-Ebene” werden nur noch als Kostenfaktor wahrgenommen.
Aus dieser Lagebeurteilung und der nachlassenden Konzessionsbereitschaft der Kapitals ergibt sich in These 5 als erste Konsequenz für das gewerkschaftliche Handeln: Betriebliche Verhandlungsergebnisse werden entweder schlechter oder die Auseinandersetzungen müssen konfliktorientierter geführt werden. Dafür erweise sich jedoch die „weitgehend auf Stellvertretung aufbauende Interessenvertretungskultur” als hinderlich. „Beschäftigte müssen heute in doppelter Hinsicht auf die eigene Kraft vertrauen": durch betriebliche Stärke, die sich in einem hohen Organisationsgrad ausdrückt, und dadurch, dass sie langfristiges Denken und sogar technologische Zukunftsfähigkeit gegen das Management, aber im Interesse der Beschäftigten und der Volkswirtschaft durchsetzten.
Die richtigen Momente dieser Kritik verbleiben hier jedoch im Ungewissen, weil der Eindruck entsteht, die Veränderung des Horizonts der Manager sei deren frei wählbare Entscheidung und nicht Bestandteil eines vorherrschenden Akkumulationsmodells. Hier wären Überlegungen für eine soziale Transformationsperspektive am Platz.
These 6 fordert als zweiten Schritt eine konsequent beteiligungsorientierte Gewerkschaftspolitik, die das Fachwissen der Beschäftigten nutzt und sie in Angelegenheiten, die sie betreffen, mitbestimmen lässt.
These 7 plädiert für einen neuen Betriebsbegriff und ein Organisationsverständnis, das alle Beschäftigtengruppen einschließt. „Es zeichnet sich ein neuer Typus ab, der nicht mehr aus einer Belegschaft besteht, sondern aus einem kleiner werdenden Kern an Mitarbeitern und einem wachsenden Rand von temporär in dem Betrieb eingesetzten Beschäftigten."
In der 8. und letzten These geht es um die Schlüsselrolle des Betriebs als Raum von Erfahrungen und Bindungen. Betriebsräte und Vertrauensleute als Kerngruppen der gewerkschaftlichen Organisationsmacht hätten darin eine Schlüsselrolle. Die betriebliche Durchsetzungskraft erzeuge gesellschaftliche Verankerung und nicht umgekehrt.
In den auf die Thesen folgenden Schlussfolgerungen finden sich dann so schöne Sätze wie: „Gefordert ist eine mitgliederorientierte Offensivstrategie als Grundlage gewerkschaftlicher Erneuerung. Im gemeinsamen Handeln im eigenen Interesse wird der emanzipatorische Kern gewerkschaftlicher Organisation sicht- und erlebbar. Darin liegt der Schlüssel zur Verbesserung der Mitgliederbindung und zur Erhöhung der Attraktivität von Gewerkschaften.” Es folgt eine ausführliche Einführung in Entstehungsgeschichte und Philosophie des Organizing, die zur Hoffnung Anlass gibt, dass das Ganze mehr ist als Sonntagsprosa. Hier fehlt auch nicht der Hinweis, dass sich das Organizingkonzept nicht als Schnellschuss eignet, die vielfach prekäre Kassenlage der Verwaltungsstellen zu verbessern: „Trotz erheblichem personellen und materiellen Ressourceneinsatz ist der Ausgang von Kampagnen ungewiss. Erfolge stellen sich oft erst nach Jahren ein, kurzfristige Hoffnungen auf ein rasches Mitgliederwachstum werden zumeist enttäuscht. Entscheidend ist daher, dass es auf allen Ebenen der Organisation Unterstützung für die jeweilige Kampagnen gibt und auch ein langer Atem vorhanden ist."

Wird es umgesetzt?

Doch im Unterschied zu früheren Betrachtungen, bei denen ein solches Urteil das Ende der Debatte bedeutete, stellt das Papier klar: „Organizing stellt einen Ansatz für Gewerkschaften dar, sich in einem tendenziell feindlich gesonnenen Umfeld zu behaupten. Wenngleich es die amerikanischen Gewerkschaften ungleich schwerer haben als wir, stellt Organizing aufgrund der Veränderungen der industriellen Beziehungen einen relevanten Ansatz für die Ausrichtung der deutschen Gewerkschaftspolitik dar. Zu entscheiden ist also nicht, ob wir Organizing betreiben wollen, sondern wie wir es für unsere Bedingungen übersetzen."
Auf griffige Slogans herunter gebrochen heißt es dann für ein an deutsche Verhältnisse angepasstes Modell: „Weniger Co-Management — mehr konfliktorische Auseinandersetzung”, „weniger Stellvertreterpolitik — mehr direkte Beteiligung und Übernahme von Verantwortung”, „weniger Rechtsanwendung — mehr Betriebspolitik und Erschließung weißer Flecken: Personengruppen, Branchen und Unternehmen, Abteilungen und Unternehmensbereiche”
Die Autoren streben eigene Organizingprojekte an, um Erfahrungen zu sammeln. Unabhängig davon soll damit begonnen werden, Elemente des Organizing im Sinne eines Werkzeugkoffers in die gewerkschaftliche Alltagsarbeit zu integrieren. Auch werden entsprechende Bildungsangebote für Verantwortliche und Interessierte ins Auge gefasst.
So weit das Papier, das ja bekannterweise geduldig ist. Als langjährige Insider der IG Metall haben wir den großen Vorteil, den Gegenstand nicht nur nach der Papierlage beurteilen zu können. Deshalb bin ich ein wenig geneigt, den guten Goethe zu zitieren, der die Botschaft wohl vernahm, allein ihm fehlte der Glaube. Doch lasse ich mich gerne von Positivem überraschen.
Wenn das Ganze so ernst gemeint ist, wie es klingt, ist für mich erklärungsbedürftig, wie sich Wetzels Bonustarifmodell für IGM-Mitglieder — das ja eher eine erzieherischen Maßnahme für Nichtmitglieder ist, weil sie sich nicht freiwillig organisieren lassen — mit dem entgegengesetzten Organizingansatz verträgt.
Auch halte ich die Fokussierung auf den Einzelbetrieb, den ja auch die neoliberale Gegenseite zwecks Entsolidarisierung erfolgreich betreibt, für ein Problem, weil sich nur aus einer überbetrieblichen Perspektive die Praxis der Standortkonkurrenz aushebeln lässt. Hier bedarf es gewerkschaftlich gestützter Strategien.
Schließlich stellt sich konkret die Frage, wer in der typischen Verwaltungsstelle, in der statt mitgliederorientierter Politik eher ein VIP-Kommunikationssystem zwischen Geschäftsführung und Betriebsratsspitzen praktiziert wird, eine solche Kulturrevolution einleiten kann. Ein Beweis für die Ernsthaftigkeit des Vorhabens könnte darin bestehen, Mitglieder, die die Entmündigung von Mitgliedern in Arbeitskämpfen kritisieren und eine demokratische Streitkultur fordern, nicht mehr mit dem gewerkschaftlichen Ordnungsrecht zu disziplinieren. Auch das wäre angewandtes Organizing.


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