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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2008, Seite 10

Die Hölle auf Erden

Das Schicksal zentralamerikanischer Migranten in Mexiko

von Leo Gabriel

Niemand weiß, wie viele täglich bei Arreaga, dem Grenzort zwischen Guatemala und Mexiko, auf die Güterzüge aufspringen, um nach Oaxaca zu gelangen. Sicher ist, dass es von den Tausenden von zentralamerikanischen Migranten, die jeden Monat auf dem Landweg nach Mexiko kommen, nur ein paar hundert bis an den 3000 km langen Río Bravo, den in mehrfacher Hinsicht „wilden (Grenz-)Fluss” zwischen Mexiko und den USA schaffen.
Der Rest ist Schweigen. „Mexiko wirkt wie ein enormer Filter, in dem die meisten hängen bleiben”, sagt Sandra Albiker, die junge Menschenrechtsberaterin im Haus der Migranten von Saltillo, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaats Coauhuila. In dieser von Migranten und Entwicklungshelfern verwalteten Kommune der Diözese Saltillo erfahren wir mehr über die Problematik:
"Mich haben sie bereits dreimal ausgeraubt”, erzählt der etwa 40- jährige Malermeister Manuel aus San Salvador. „Warum ich im Unterschied zu meinen gleichaltrigen Compaņeros noch immer da bin, obwohl sie mich bereits zweimal deportiert haben? Ganz einfach: In El Salvador verdiene ich, wenn‘s gut geht, 60 Dollar in der Woche, in den USA zwischen 400 und 600. Die Sachen sind so teuer geworden, dass ich das mit meiner Familie nicht mehr schaffe.”
Im Unterschied zu vielen anderen hat Manuel bisher immer Glück gehabt. Mit Ausnahme eines Mädchens aus Tegucigalpa, Honduras, das von zu Hause ausriss, um ihre Mutter zu suchen, hat es keine einzige Frau bis hierher geschafft. Wie viele Männer auch, werden Frauen unterwegs von den sog. maras — bewaffneten Gangstern, die ursprünglich aus El Salvador stammen, dann Städte wie Los Angeles, Houston, New York oder Chicago unsicher gemacht haben, bevor sie nach Mexiko zurückkehrten — gekidnappt und nach Bezahlung des Erpressungsgelds umgebracht.
Ob maras oder Polizei, ob Schlepperbanden oder Drogenhändler — sie alle versuchen, ihr schmutziges Geschäft mit den „Illegalen” zu machen. Im Schnitt kostet die Reise an den Río Bravo etwa 2000 Dollar. Dort angekommen, zahlen die Zentralamerikaner dann nochmals mindestens 1500 Dollar für die coyotes (Schlepper), die sie angeblich auf die andere Seite bringen. Allzu oft werden die Migranten betrogen.
Sind sie Opfer des American Dream? Wäre es bloß das, wäre dieser Albtraum, spätestens in Coatzacoalcos, Veracruz, ausgeträumt. An diesem Bahnknotenpunkt, von wo aus die Züge nach Ciudad Juárez, Mexicali, Nogales, Nuevo Laredo oder Reynosa fahren, haben die coyotes Hunderte in die Lagerhallen einer alten Zementfabrik gesperrt, um sie angeblich vor der Polizei zu schützen, die in Wirklichkeit mit von der Partie war. Viele von ihnen sterben einen schmerzhaften Vergiftungstod.

Zugfahrt in den Tod

Die schlimmste Qual sind die Fahrten auf den Güterzügen. Dessen wurden wir uns bewusst, als wir eine Gruppe von jüngeren Migranten begleiteten. Weil die Bahnhöfe, auf denen längst kein Personenverkehr mehr stattfindet, voll mit Migrations- und Polizeibeamten unterschiedlicher Klasse und Herkunft sind, bleibt den Migranten nichts anderes übrig, als zwischen den Stationen auf die fahrenden Züge aufzuspringen. Ein jeder hat dabei ein mulmiges Gefühl, kein noch so perfektes Training schützt sie vor dem Absturz.
Um nicht sofort mitgerissen zu werden, muss man beim Laufen eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht haben, die einem aber auf dem Geröll der Gleisanlagen nur allzu leicht zum Verhängnis werden kann. Ein falscher Tritt beim Absprung, ein Danebengreifen auf den schmalen Steigleitern der Güterwaggons, und der fahrende Zug reißt den Unglücklichen unbarmherzig in seinen Sog. Das bedeutet im besten Falle: Arm oder Bein ab, im schlimmsten: Kopf ab.
Besonders im Süden Mexikos, wo die Leute noch relativ ungeübt sind, gibt es ganze Kolonien von Bein- oder Armamputierten, die für den Rest ihres zumeist nicht mehr sehr langen Lebens gestrandet sind. Besonders die Männer sind viel zu stolz, um in ihre Heimatstädte und Dörfer zurückzukehren. Da lassen sie viel lieber ihre Familien im ungewissen Glauben, dass die, die einmal auszogen, um sie zu retten, irgendwo zwischen dem Río Usumacinta und dem Río Bravo verschwunden seien.
Aber auch die, denen der Aufsprung gelingt, haben es noch nicht geschafft. Die Gefahren reichen von einem plötzlichen Bremsmanöver, das die zwischen den Waggons zusammengepferchten Zaungäste plötzlich zerquetschen kann, bis zum Verbrennungstod durch Hochspannungskabel.
Nicht wenige sind umgekommen, weil sie auf den Wagons eingeschlafen und heruntergefallen sind. Wieder andere werden von den sog garroteros, den „Knüppelmännern”, wie die Sicherheitsbeamten der privatisieren Bahngesellschaften im Migrantenjargon heißen, gleichsam wie Fliegen in den Abgrund gedrängt.
"Es ist die Hölle. Ich halte das nicht mehr aus”, sagt uns im Haus der Migranten von Saltillo ein 46-jähriger Campesino aus Honduras. Er hat beschlossen, die Heimreise anzutreten, die für ihn ab dem Augenblick, in dem er einen Autobus oder Lastwagen besteigt, weitaus sicherer ist. Das hat er dem Umstand zu verdanken, dass das mexikanische Parlament auf Druck vieler in- und ausländischer Menschenrechtsorganisationen mit knapper Stimmenmehrheit beschlossen hat, das Delikt, ein Migrant zu sein, zu entschärfen. Noch vor wenigen Monaten wurde wiederholter Migrationsversuch mit drei bis zehn Jahren Haft bestraft — schwerer als die meisten Gewaltverbrechen.

Doppelspiel der Regierung

Die Regierung Felipe Calderón spielt ein doppeltes Spiel: Während sie vorgibt, an der Grenze zu den USA den Drogenhandel zu bekämpfen und die deportierten mexikanischen Migranten zu unterstützen, sieht sie tatenlos zu, wie jährlich Tausende von Zentralamerikanern in die Fänge krimineller Banden geraten. Mehr noch, eine hochspezialisierte militärische Einheit, die sog. Zeta, die auf Betreiben der Vorgängerregierung Vicente Fox in den USA zu lateinamerikanischen Rangers ausgebildet wurden, hat seit etwa einem Jahr die Seiten gewechselt und kontrolliert derzeit fast das gesamte Gebiet entlang der drei Meter hohen Mauer, die die US-Sicherheitsbehörden errichtet haben und an der weiter gebaut wird.
Diesen paramilitärischen Einheiten, die in enger Verbindung mit den maras, den coyotes und anderen kriminellen Banden sowie mit den mexikanischen Sicherheitskräften stehen, ist es tatsächlich gelungen, eine Art „Staat im Staat” zu errichten. Morde an Journalisten gehören ebenso dazu wie die permanenten Einschüchterungsversuche gegen Menschenrechtsorganisationen, kirchliche Hilfswerke und natürlich die Migranten selbst.
Andererseits gibt es ein steigendes Interesse der Bevölkerung am Thema Migration, was u.a. zur Schaffung einer Reihe von Initiativen und NGOs geführt hat. So beteiligt sich Mexiko etwa federführend am Foro Mundial de Migración (Weltmigrationsforum), das vom 11. bis 14.September in Madrid stattfindet.


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