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Niemand weiß, wie viele täglich bei Arreaga, dem Grenzort zwischen Guatemala und Mexiko, auf die
Güterzüge aufspringen, um nach Oaxaca zu gelangen. Sicher ist, dass es von den Tausenden von zentralamerikanischen Migranten, die jeden
Monat auf dem Landweg nach Mexiko kommen, nur ein paar hundert bis an den 3000 km langen Río Bravo, den in mehrfacher Hinsicht „wilden
(Grenz-)Fluss” zwischen Mexiko und den USA schaffen.
Der Rest ist Schweigen. „Mexiko wirkt wie ein enormer Filter, in dem die meisten
hängen bleiben”, sagt Sandra Albiker, die junge Menschenrechtsberaterin im Haus der Migranten von Saltillo, der Hauptstadt des mexikanischen
Bundesstaats Coauhuila. In dieser von Migranten und Entwicklungshelfern verwalteten Kommune der Diözese Saltillo erfahren wir mehr über die
Problematik:
"Mich haben sie bereits dreimal ausgeraubt”, erzählt der etwa 40-
jährige Malermeister Manuel aus San Salvador. „Warum ich im Unterschied zu meinen gleichaltrigen Compaņeros noch immer da bin, obwohl sie
mich bereits zweimal deportiert haben? Ganz einfach: In El Salvador verdiene ich, wenns gut geht, 60 Dollar in der Woche, in den USA zwischen 400
und 600. Die Sachen sind so teuer geworden, dass ich das mit meiner Familie nicht mehr schaffe.”
Im Unterschied zu vielen anderen hat Manuel bisher immer Glück gehabt. Mit
Ausnahme eines Mädchens aus Tegucigalpa, Honduras, das von zu Hause ausriss, um ihre Mutter zu suchen, hat es keine einzige Frau bis hierher
geschafft. Wie viele Männer auch, werden Frauen unterwegs von den sog. maras — bewaffneten Gangstern, die ursprünglich aus El
Salvador stammen, dann Städte wie Los Angeles, Houston, New York oder Chicago unsicher gemacht haben, bevor sie nach Mexiko
zurückkehrten — gekidnappt und nach Bezahlung des Erpressungsgelds umgebracht.
Ob maras oder Polizei, ob Schlepperbanden oder Drogenhändler — sie alle
versuchen, ihr schmutziges Geschäft mit den „Illegalen” zu machen. Im Schnitt kostet die Reise an den Río Bravo etwa 2000
Dollar. Dort angekommen, zahlen die Zentralamerikaner dann nochmals mindestens 1500 Dollar für die coyotes (Schlepper), die sie angeblich auf die
andere Seite bringen. Allzu oft werden die Migranten betrogen.
Sind sie Opfer des American Dream? Wäre es bloß das, wäre dieser
Albtraum, spätestens in Coatzacoalcos, Veracruz, ausgeträumt. An diesem Bahnknotenpunkt, von wo aus die Züge nach Ciudad
Juárez, Mexicali, Nogales, Nuevo Laredo oder Reynosa fahren, haben die coyotes Hunderte in die Lagerhallen einer alten Zementfabrik gesperrt, um sie
angeblich vor der Polizei zu schützen, die in Wirklichkeit mit von der Partie war. Viele von ihnen sterben einen schmerzhaften Vergiftungstod.
Die schlimmste Qual sind die Fahrten auf den Güterzügen. Dessen wurden wir uns bewusst, als wir eine Gruppe von jüngeren
Migranten begleiteten. Weil die Bahnhöfe, auf denen längst kein Personenverkehr mehr stattfindet, voll mit Migrations- und Polizeibeamten
unterschiedlicher Klasse und Herkunft sind, bleibt den Migranten nichts anderes übrig, als zwischen den Stationen auf die fahrenden Züge
aufzuspringen. Ein jeder hat dabei ein mulmiges Gefühl, kein noch so perfektes Training schützt sie vor dem Absturz.
Um nicht sofort mitgerissen zu werden, muss man beim Laufen eine bestimmte
Geschwindigkeit erreicht haben, die einem aber auf dem Geröll der Gleisanlagen nur allzu leicht zum Verhängnis werden kann. Ein falscher Tritt
beim Absprung, ein Danebengreifen auf den schmalen Steigleitern der Güterwaggons, und der fahrende Zug reißt den Unglücklichen
unbarmherzig in seinen Sog. Das bedeutet im besten Falle: Arm oder Bein ab, im schlimmsten: Kopf ab.
Besonders im Süden Mexikos, wo die Leute noch relativ ungeübt sind, gibt es
ganze Kolonien von Bein- oder Armamputierten, die für den Rest ihres zumeist nicht mehr sehr langen Lebens gestrandet sind. Besonders die
Männer sind viel zu stolz, um in ihre Heimatstädte und Dörfer zurückzukehren. Da lassen sie viel lieber ihre Familien im ungewissen
Glauben, dass die, die einmal auszogen, um sie zu retten, irgendwo zwischen dem Río Usumacinta und dem Río Bravo verschwunden seien.
Aber auch die, denen der Aufsprung gelingt, haben es noch nicht geschafft. Die Gefahren
reichen von einem plötzlichen Bremsmanöver, das die zwischen den Waggons zusammengepferchten Zaungäste plötzlich zerquetschen
kann, bis zum Verbrennungstod durch Hochspannungskabel.
Nicht wenige sind umgekommen, weil sie auf den Wagons eingeschlafen und
heruntergefallen sind. Wieder andere werden von den sog garroteros, den „Knüppelmännern”, wie die Sicherheitsbeamten der
privatisieren Bahngesellschaften im Migrantenjargon heißen, gleichsam wie Fliegen in den Abgrund gedrängt.
"Es ist die Hölle. Ich halte das nicht mehr aus”, sagt uns im Haus der
Migranten von Saltillo ein 46-jähriger Campesino aus Honduras. Er hat beschlossen, die Heimreise anzutreten, die für ihn ab dem Augenblick, in
dem er einen Autobus oder Lastwagen besteigt, weitaus sicherer ist. Das hat er dem Umstand zu verdanken, dass das mexikanische Parlament auf Druck vieler
in- und ausländischer Menschenrechtsorganisationen mit knapper Stimmenmehrheit beschlossen hat, das Delikt, ein Migrant zu sein, zu
entschärfen. Noch vor wenigen Monaten wurde wiederholter Migrationsversuch mit drei bis zehn Jahren Haft bestraft — schwerer als die meisten
Gewaltverbrechen.
Die Regierung Felipe Calderón spielt ein doppeltes Spiel: Während sie vorgibt, an der Grenze zu den USA den Drogenhandel zu
bekämpfen und die deportierten mexikanischen Migranten zu unterstützen, sieht sie tatenlos zu, wie jährlich Tausende von
Zentralamerikanern in die Fänge krimineller Banden geraten. Mehr noch, eine hochspezialisierte militärische Einheit, die sog. Zeta, die auf
Betreiben der Vorgängerregierung Vicente Fox in den USA zu lateinamerikanischen Rangers ausgebildet wurden, hat seit etwa einem Jahr die Seiten
gewechselt und kontrolliert derzeit fast das gesamte Gebiet entlang der drei Meter hohen Mauer, die die US-Sicherheitsbehörden errichtet haben und an
der weiter gebaut wird.
Diesen paramilitärischen Einheiten, die in enger Verbindung mit den maras, den
coyotes und anderen kriminellen Banden sowie mit den mexikanischen Sicherheitskräften stehen, ist es tatsächlich gelungen, eine Art
„Staat im Staat” zu errichten. Morde an Journalisten gehören ebenso dazu wie die permanenten Einschüchterungsversuche gegen
Menschenrechtsorganisationen, kirchliche Hilfswerke und natürlich die Migranten selbst.
Andererseits gibt es ein steigendes Interesse der Bevölkerung am Thema Migration,
was u.a. zur Schaffung einer Reihe von Initiativen und NGOs geführt hat. So beteiligt sich Mexiko etwa federführend am Foro Mundial de
Migración (Weltmigrationsforum), das vom 11. bis 14.September in Madrid stattfindet.
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