SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2008, Seite 04

Ein Lehrstück aus Hessen

Wie die Einführung des Sozialismus an vier Gegenstimmen scheiterte

von THIES GLEISS

Auf den ersten Blick ist alles wie erwartet: Der SPD in Hessen ist die Gesamtverantwortung für die kapitalistische Mehrwertproduktion allemal mehr wert als politische Prinzipien oder gar eine „linke” Weltsicht. Seit Monaten hätte sie mit Andrea Ypsilanti die Ministerpräsidentin stellen können, um einen tatsächlichen Politikwechsel zu ermöglichen. Stattdessen hat sie diesen gesellschaftlichen Prozess zu einem Machtkampf zwischen „Rechten” und „Linken” in der SPD reduziert. Auch wenn die Nichtinstallierung der „ersten von der LINKEN tolerierten Regierung in einem Westbundesland” etwas Operettenhaftes an sich hatte, lassen sich einige politische Schlussfolgerungen ziehen.
Gibt es eine „Mehrheit links von der Mitte"? Auch die „hessischen Verhältnisse” erlauben auf diese Frage nur eine Antwort: Nein. Ein großer Teil der Wähler hat sich der Teilnahme an den Wahlen schlicht verweigert. Die Hälfte der noch Abstimmenden hat der SPD, den Grünen und der LINKEN eine parlamentarische Mehrheit von zwei Stimmen beschert. Nun, wenn die Wahlen keine klare Antwort geben, dann muss sie eben nach den Wahlen organisiert werden. Der „Wahlkampf” hätte sofort weiter gehen müssen. Dann hätte möglicherweise das öffentliche Klima politisiert werden können, wäre die Gegenoffensive der rechten Medien verpufft.
Keine der Parteien in Hessen, leider auch nicht die LINKE, hat sich für diesen Weg entschieden. Es begann ein schlechtes Theater, das die Medien und sie fütternde Parteicliquen beliebig manipulieren konnten. „Machtgeilheit” einer Kandidatin, Pöstchengerangel u.ä. bestimmten fortan das Bild. Rühmliche Ausnahme: der Landtagsbeschluss zur Abschaffung der Studiengebühren, der wunderbar zeigte, wie schnell und effektiv Veränderungen aus der Opposition erreicht werden können. Jeder einzelne Punkt einer möglichen kommenden Regierungsplattform hätte auf diese Weise im Parlament vorgetragen und abgestimmt werden können. Wenn dies noch durch Massenkundgebungen, Unterstützungsresolutionen aus Betrieben, Stadtteilen und Schulen begleitet worden wäre, dann hätten die Verhältnisse tatsächlich zu „hessischen” werden können.
Grüne und SPD wollten einen solchen Aufbruch ausdrücklich nicht; die LINKE hat sich in dieser Frage — also schon lange vor dem Streit über irgendwelche Einzelfragen — den beiden anderen Parteien gebeugt.

Die Grünen: Parallel zu dem angeblich neuen Mehrheitsblock in Hessen wurde in Hamburg die erste Koalition mit der CDU auf Landesebene gebildet. Zeitgleich mit den Verhandlungen in Hessen erlaubten sich die Grünen bundesweit eine Debatte über einen Ausstieg aus dem Ausstieg der Atomenergie. Vom ersten Tag an lancierten die hessischen Grünen zudem Andeutungen über ihre Bereitschaft, auch in Hessen mit der CDU zu verhandeln. Die Grünen sind fast insgesamt nicht Teil einer „linken Mehrheit” Sie sind Teil des Problems und nicht Teil der Lösung der Krise des modernen Kapitalismus.

Die SPD war schon vor und während des Wahlkampfes fast mittig gespalten. Die Riege junger Funktionäre, von denen jetzt drei in das Dissidentenquartett gegen Ypsilanti eingestiegen sind, die all die prokapitalistischen und sozial ungerechten Maßnahmen als moderne linke Politik betrachten, war immer in Kampfstellung gegen die altbackene Andrea Ypsilanti. Auch eine gehörige Portion Männerchauvinismus spielte eine nicht unwichtige Rolle. Die Bundes-SPD hätte sich massiv hinter die hessische SPD stellen und für einen Politikwechsel sorgen können. Selbst wenn die Gerüchte, dass die „Abweichler” in Hessen von der Energiewirtschaft, von rechten Ideologie-Schmieden und rechten Gewerkschaftern aus der Chemie-, Energie- und Flughafenbranche gekauft und geködert wurden, allesamt falsch wären, änderte dies nichts an der Tatsache, dass es nicht vier, sondern fast alle SPD-Funktionäre sind, die „abweichen”

Die LINKE ist mit 5% gerade noch ins Parlament gewählt worden. Ein Erfolg, der für den weiteren Gang der neuen Linkspartei sehr wichtig ist. Trotz des knappen Ergebnisses ist die LINKE in dem Prozess, der zu einer wirklichen Abwahl Kochs und einer neuen Politik in Hessen führen könnte, der dynamischste Faktor. Diese Kraft liegt aber ausschließlich außerhalb des Parlaments und seiner Ausschüsse. Die LINKE hätte viel mehr gesellschaftlichen Widerstand gegen die herrschende Politik entwickeln und öffentliche Unterstützung für einen Politikwechsel organisieren müssen. Nur dadurch und darin hätte sie als kleine Partei die größere SPD und vielleicht auch die Grünen unter Druck setzen können. Je mehr sich die LINKE auf das parlamentarische Ritual der Regierungsfindung einließ, umso mehr wurde sie auf das reduziert, was sie ist: eine parlamentarische Fünfprozentpartei. Auf dieser Ebene kann die LINKE wahrscheinlich noch nicht einmal 5% Druck auf die SPD und die Grünen ausüben.
Die LINKE ist im Grunde nur zu einer einzigen parlamentarischen Initiative in der Lage: Sie hätte der SPD deutlich sagen sollen, wir würden mit dir Koch abwählen. Sonst nichts. Die SPD hatte für die LINKE nur eine Rolle vorgesehen: sie sollte als der Bremsklotz aufgebaut werden, der ein mögliches Scheitern Ypsilantis verursacht hätte. Die hessische LINKE hat viel getan, genau in diese Rolle zu schlüpfen. Insofern kann sie den vier „Abweichlern” eigentlich nur dankbar sein, dass sie und damit die SPD selbst diesen Part übernommen haben.
Der kommende Wahlkampf wird für die SPD in Hessen verdientermaßen zum Fiasko. Aber auch die LINKE muss fürchten, Wähler zu verlieren. Die Mehrheit der Hessen ist nicht so links und antikapitalistisch, wie es sich einige wünschen. Viele werden durch eine massive Medienkampagne auch die Parole glauben, dass die LINKE an allem Schuld hat. Der Sieger könnte dann wieder Roland Koch sein.


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