SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2008, Seite 06

Die Rückkehr der Wobblies

Die Industrial Workers of the World haben jetzt auch eine deutsche Sektion

von LUTZ GETZSCHMANN

Die „Wobblies”, wie die Mitglieder der IWW auch genannt werden, bildeten die erste moderne Industriegewerkschaft der USA, auch die erste, die afroamerikanische ArbeiterInnen organisierte und deren rassistischer Diskriminierung entgegentrat. In Deutschland fand Mitte November die zweite Jahreskonferenz ihrer Sektion im deutschsprachigen Raum statt.
Die IWW, wie die mit ihr verbundene Western Federation of Miners (WFM), folgt bis heute marxistisch geprägten, programmatischen Prinzipien. Ihr Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass „die Arbeiterklasse und die ausbeutende Klasse keine gemeinsamen Interessen” haben; dies war in den letzten hundert Jahren ein wichtiger Orientierungspunkt für Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Geschichte der IWW ist nicht frei von Widersprüchen, internen Fraktionskämpfen und Spaltungen, aber sie ist inspirierend und noch lange nicht abgeschlossen.
Historisch hatten die Wobblies ihren Schwerpunkt in den USA und Kanada, verfügten jedoch zeitweilig über Sektionen in bis zu 23 Ländern, darunter Mexiko, Chile, Südafrika, Australien, Neuseeland, Großbritannien und Deutschland. Die meisten dieser regionalen Organisationsansätze wurden zwar früh und gründlich zerschlagen (in Neuseeland etwa wurden 1916 mehrere tausend IWW-Mitglieder in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhaftet und nach Australien deportiert), doch der praktische Internationalismus der IWW drückte sich dauerhaft nicht nur in ihrer Offenheit gegenüber rassistisch diskriminierten Migranten (denen die US- Gewerkschaftsföderation AFL lange die Mitgliedschaft verwehrte) und afroamerikanischen Arbeiterinnen und Arbeitern aus, sondern auch in einem weltweiten Netz von Industriesektionen und regionalen Gruppen und Stützpunkten. Zeitungen der IWW erschienen noch bis in die 30er Jahre in knapp 30 verschiedenen Sprachen und wurden international verbreitet.
Auch in Deutschland gab es gut 14 Jahre lang in den 20er und frühen 30er Jahren in verschiedenen Küstenstädten aktive IWW-Gruppen. Die deutsche Sektion der IWW in Stettin bestand bis zu ihrer Zerschlagung 1933 durch den Faschismus. Die Welle des Naziterrors spülte auch diesen revolutionären Gewerkschaftsansatz hinweg, für den es nach 1945 kein Wiederaufleben mehr gab.
Auch international geriet die IWW, die 1927 mit 250000 Mitgliedern den Höchststand ihrer zahlenmäßigen Entwicklung erreichte, in eine tiefe Krise. Bereits die Auseinandersetzung mit der unter anderem auch von bisherigen IWW-Mitgliedern in den USA neu gegründeten Kommunistischen Partei führte in den frühen 20er Jahren zu einem Aderlass. In den 30er Jahren stand der unter Mitwirkung der KP von der AFL abgespaltene Congress of Industrial Organizations (CIO) im Zentrum der Klassenauseinandersetzungen; er übernahm das IWW-Prinzip der Industriegewerkschaft. Spätestens Mitte der 50er Jahre langte die IWW an einem historischen Tiefpunkt an, ihre Auflösung wurde nur durch einen bescheidenen Mitgliederaufschwung infolge des Auflebens neuer Bewegungen und Kämpfe in den USA und international ab Mitte der 60er Jahre verhindert. Seit den 90er Jahren hat die IWW sich wieder im kleinen Rahmen konsolidiert; erfolgreiche Organisierungskampagnen, etwa bei Starbucks in New York und Chicago, oder bei den Transportarbeitern der amerikanischen Westküste verliehen ihr ein Profil als kleine, aber effektive linke, militante Basisgewerkschaft. Sektionen bestehen inzwischen wieder in den USA, Kanada, Großbritannien, Australien, Finnland, Portugal und seit zwei Jahren auch im deutschsprachigen Raum.
Seit der Neugründung in Köln in 2006 gibt es in Deutschland aktive IWW-Gruppen unter anderem in Frankfurt, Köln und Berlin; sie verstehen sich als strömungsübergreifende Netzwerke von Arbeiterinnen und Arbeitern innerhalb wie außerhalb der DGB-Gewerkschaften und versuchen, Solidarität branchen- und gewerkschaftsübergreifend zu organisieren, quer auch zu allen politischen Strömungen und Fraktionen. Im September organisierten die Wobblies in Deutschland eine Veranstaltungstour mit einer Vertreterin der IWW-Lagerarbeiter aus der Lebensmittelbranche in New York; in dieser Branche arbeiten überwiegend Migranten aus Lateinamerika, die um gewerkschaftliche Rechte kämpfen.
Sich in Deutschland jenseits des DGB gewerkschaftlich zu organisieren, scheint immer noch ein gewagtes Unterfangen und löst bei nicht wenigen Linken Ängste vor politischer Isolation aus. Die IWW kann selbstverständlich die DGB-Gewerkschaften nicht ersetzen. Aber angesichts dessen, dass in immer mehr Bereichen die institutionalisierten Formen traditioneller gewerkschaftlicher Interessenvertretung nicht mehr greifen, wird es für die Beschäftigten immer dringlicher, sich Formen der Selbstorganisation zu schaffen und auch mit Mitteln der direkten Aktion praktisch zu intervenieren, um diese Lücke zu schließen. Auch der Bedarf nach gewerkschaftlichen Organisationsformen jenseits bürokratischer Hindernisse, nationaler, Standort- und Organisationsgrenzen ist unzweifelhaft groß. Hier könnte ein Organisationsansatz wie der der IWW, basierend auf „solidarity unionism” — Basisdemokratie, Ablehnung von Stellvertreterpolitik und internationaler Vernetzung — ein sinnvoller Beitrag sein.


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