SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2008, Seite 07

Metalltarifrunde

Man hätte es wagen müssen

von UDO BONN

Ein junger Mann mit erstauntem Gesicht und zur inneren Kapitulation erhobenen Händen prangt auf dem Titelblatt der Novemberausgabe der Mitgliederzeitung der IG Metall. Darunter steht: „Und jetzt?” Natürlich handelt es sich bei dem Abgebildeten um einen Banker. Und im dazugehörigen Artikel wurde getitelt: Die Tarifforderung von 8% passt auch in der Finanzkrise.
Aber nach dem Tarifabschluss für die Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg am 12.November gab es unter den Mitgliedern der IG Metall den gleichen erstaunten und ein wenig entsetzten Gesichtsausdruck: „Das soll alles gewesen sein?” Ein Bild davon, wer sich bei dieser Tarifrunde durchgesetzt hat, konnte man sich bei der abendlichen Ausstrahlung der Presseerklärungen von Arbeitgeberverband und IG Metall machen. Hier ein zufrieden wirkender Martin Kannegießer, dort ein gefasster Berthold Huber.
Schaut man nicht genau hin, scheint der Abschluss von Sindelfingen gar nicht mal so schlecht: 510 Euro Einmalzahlung für 3 Monate und 4,2% dauerhaft mehr. Gemessen an der Ausgangsforderung von 8% Entgelterhöhung mit einer Laufzeit von 12 Monaten und nach einem Blick aufs Kleingedruckte bleibt im Ergebnis allerdings nicht mehr übrig als ein ungefährer Inflationsausgleich für die nächsten 18 Monate und eine gewaltige Katerstimmung in der IG Metall.
Für die Monate November und Dezember 2008 sowie Januar 2009 gibt es im Dezember eine Einmalzahlung von 510 Euro.
Ab Februar 2009 steigen die Einkommen um 2,1%, ab Mai 2009 noch einmal um 2,1%.

Wirkung der Finanzkrise

Auf betrieblicher Ebene kann die zweite Erhöhung durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung um 7 Monate verschoben werden, wenn Unternehmer und Betriebsrat der Meinung sind, die wirtschaftliche Situation erfordere dies. Darüber hinaus gibt es im September 2009 eine weitere Einmalzahlung von 122 Euro für die Monate Mai bis Dezember 2009 (das sind etwa 0,4% im Monat). Von Januar bis April 2010 werden diese 0,4% nicht ausgezahlt, sondern als Anteil der Beschäftigten für die neue Altersteilzeit einbehalten.
Nicht nur bei den Verhandlungen bekam die IG Metall zu hören: Ihr habt einfach Pech gehabt mit dem Timing der Tarifrunde, im Frühsommer hättet ihr locker 5% durchsetzen können. Auch in der Presse häuften sich die Kommentare derer, die beim Einkommen der Erwerbstätigen zuerst eine Gerechtigkeitslücke entdeckten, dann aber immer häufiger die Frage stellten: Kann man in der jetzigen Situation überhaupt einen Streik wagen?
Der Stimmungsumschwung hat sich Schritt für Schritt auch auf die IG Metall übertragen, vor allem in den Betrieben. Trotz heftiger Kritik am finanzmarktgetriebenen Kapitalismus ist die Mehrzahl der Menschen von der Zerstörungskraft der Finanzkrise überrascht und tief verunsichert; sie können die Orte ihres Lebens nicht verlassen, um der Welle auszuweichen. Geschockt erleben sie, dass Tausende Leiharbeiter aus den Automobilbetrieben und der Zulieferindustrie abgezogen werden — damit wird nebenbei der erfolgreichen Leiharbeiterkampagne der IG Metall auf einen Schlag die Basis entzogen, weil die Kollegen nicht mehr in den Betrieben und dort ansprechbar sind. Sie hören in ihrem Bekanntenkreis von Kurzarbeit und haben das Horrorpanorama von Entlassungen in Zeiten von Hartz IV vor Augen.
So kommt es auch in Betrieben, die wirtschaftlich sehr gut dastehen, zu Zweifeln an der Durchsetzbarkeit der Tarifforderung von 8%. Bezogen auf die Gewinne der letzten Jahre erscheint die Forderung mehr als berechtigt, ob sie im Streik durchgesetzt werden kann, wird bezweifelt.
Diese Stimmung spiegelte sich auch in den in Warnstreiks wider: Konzentriert auf eine Woche war die Beteiligung von knapp 600000 Beschäftigten so breit und gebündelt wie noch nie in einer Metalltarifrunde. Aber es war keine euphorische Stimmung, und den meisten war in den letzten Wochen klar geworden, dass es eine harte Auseinandersetzung geben könnte, bei der die Kolleginnen und Kollegen der gewerkschaftlich gut organisierten Automobil- und Zuliefererindustrie keine entscheidende Rolle spielen würden.

Kapitulation vor den Schwierigkeiten

Gesamtmetall hatte sich in der letzten Verhandlungsrunde gut aufgestellt. Während im Vorfeld der Warnstreiks das Angebot der Unternehmer von 2,1% als Provokation verstanden wurde und somit mobilisierend wirkte, zeigte sich am 11.11. bis spät in die Nacht, dass das Angebot ernst gemeint war und die Linie hieß: Die IG Metall am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Die Gewerkschaft hatte sich darauf festgelegt, in die Urabstimmung zu gehen, sollte kein akzeptabler Abschluss zustande kommen, und danach unmittelbar in den Streik zu treten; dadurch entstand ein Zugzwang, der auf einmal mehr auf die IG Metall als auf den Unternehmerverband wirkte. Könnte man im Streik substanziell mehr erreichen und war man überhaupt in der Lage, mit den Betrieben des Maschinenbaus und der Elektroindustrie einen Erzwingungsstreik durchzuhalten?
Das ist die entscheidende Frage jenseits von Mythen über kampfbereite Belegschaften und kapitulierender Gewerkschaftsführung.
In ihrem Buch Die Schockstrategie hat Naomi Klein die Folgen des Katastrophenkapitalismus für den gesellschaftlichen Widerstand analysiert und ist bei allen wirtschaftlichen, militärischen und ökologischen Szenarien zum Ergebnis gekommen: Die Menschen verlieren die Orientierung, wissen nicht, für was oder gegen wen sie sich einsetzen sollen, was richtig und was falsch ist — wenn es ihnen an einer anerkannten Führung fehlt.
Der Tarifabschluss der IG Metall hat die Mitgliedschaft orientierungs- und führungslos zurückgelassen. Alle wohlbegründeten Argumente wie die steigenden Kosten für Nahrungsmittel und Energie, die Unternehmensgewinne der letzten Jahre, der Wille, die Finanzkrise nicht zweimal bezahlen zu wollen, verpufften an der einfachen Frage: Ist die IG Metall mit ihren Forderungen nicht nur mobilisierungs-, sondern auch durchsetzungsfähig und durchsetzungswillig?
Der Abschluss von Sindelfingen war eine Kapitulation vor den Schwierigkeiten, die mit einem Streik verbunden gewesen wären, er zerstört darüber hinaus jede Vorstellung von einer gewerkschaftlichen Kampfkraft, die über Verhandlungen und Protest hinausreicht. Hätte der zweite Vorsitzende der IG Metall, Detlev Wetzel, seine Analyse eines gewerkschaftlichen Bedarfs an höherer Konfliktbereitschaft auch nur im Ansatz auf die aktuelle Tarifauseinandersetzung übertragen, hätte man den Streik auf breiter Ebene im Maschinenbau und in der Elektroindustrie wagen müssen, dann hätte man anknüpfen müssen an der immer noch positiven Zustimmung in der Bevölkerung und ansatzweise so etwas aufbauen können wie eine soziale Alternative zum neoliberalen Krisenmanagement.


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