SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2008, Seite 14

Gewerkschaften in der Weltwirtschaftskrise

Gelähmt wie 1929?

von BERND RIEXINGER u.a.

Wer wird in den nächsten Jahren die Folgen der Krise zu tragen haben? Während das Kapital sich in Windeseile neue Instrumente der internationalen Krisenbewältigung schafft, sind die Gewerkschaften wie gelähmt. Ein Diskussionsbeitrag des AK Weltwirtschaftskrise in Ver.di Baden-Württemberg.
Hilflos, kopflos, wehrlos — diesen Eindruck gewinnt man vom bisherigen Agieren bzw. Schweigen der Gewerkschaften angesichts der Krise. Wirtschaftsinteressen diktieren unangefochten das globale Krisenmanagement, in dem jetzt die Weichen neu gestellt werden.
Arbeitnehmer und Gewerkschaften erwarten vielfältige Risiken: Rationalisierungen und Firmenzusammenbrüche im Finanzdienstleistungssektor; Arbeitsplatzabbau im Öffentlichen Dienst, weil die öffentlichen Haushalte in Folge der Explosion der Ausgaben für die Stabilisierung der Krise unter starken Druck geraten werden; Steuerausfälle durch die Rezession und, wenn's ganz verrückt wird, auch noch durch Steuersenkungen; geringere Einnahmen der Sozialkassen, daher weitere Sparmaßnahmen bei der Daseinsvorsorge sowie Kürzungen in sozialen und kulturellen Bereichen; Kurzarbeit, Personalabbau und Restrukturierungen in den exportabhängigen Wirtschaftsbereichen wegen der Kreditklemme und dem globalen Nachfragerückgang; Rückgang der öffentlichen Investitionen; eine stark rückläufige private Binnennachfrage, auch größere „Marktbereinigungen” (Firmenzusammenbrüche) in Branchen, die vom privaten Konsum abhängen, wie der Einzelhandel; ein erheblicher Anstieg der Erwerbslosigkeit. Schon jetzt sind befristet Beschäftigte und Leiharbeiter die ersten Opfer der Krise.
In allen Wirtschaftssektoren wird es einen Konzentrationsprozess geben, der über die kapitalistische Konkurrenz stattfindet, d.h. zu einem wesentlichen Teil über die Konkurrenz um den Preis der Arbeitskraft. Mit dem Argument des ökonomischen Überlebens werden Lohnabhängige in allen Branchen und weltweit in eine neue Runde von Lohnraub und Arbeitsplatzvernichtung getrieben.

Wie 1929?

Die Gewerkschaften stehen dem Geschehen eher gelähmt gegenüber. Ist es schon in der Zeit des Aufschwungs nicht gelungen, die Gewerkschaften neu aufzustellen, damit sie den neuen kapitalistischen Strategien standhalten können, und neue Kampfformen zu entwickeln, kann dieser Mangel in der nun aufziehenden Krise zum Fiasko werden. Viele Vergleiche mit 1929 sind fragwürdig, nur die Parallele hinsichtlich des Reaktionsmusters der Gewerkschaften ist leider höchst plausibel.
Bleiben wir bei Ver.di. Die Organisation betreibt im wesentlichen Business as usual. Wie gehabt Riesendebatten bei kleinsten Eingriffen in die innergewerkschaftliche Macht- und Ressourcenverteilung — ein Déjá-vu für jeden, der einmal Protokolle von Gewerkschaftssitzungen oder Gewerkschaftszeitungen aus 1929 und 1930 gelesen hat.
In den ersten Wochen nach dem Crash gab es keine politische Reaktion der Organisation als Ganzes, nur wenige Pressemitteilungen aus der Abteilung Finanzdienstleistungen, in denen eine stärkere Kontrolle der Finanzmärkte gefordert wird — Ansätze, die inzwischen von vielen Regierungen und dem IWF längst getoppt werden.
Wirtschaftspolitisch beschränkt sich Ver.di auf die Aussage: Mit unserem 40-Milliarden-Konjunkturprogramm wäre das nicht passiert.
Aus der Sozialforumsbewegung zieht sich Ver.di, Anzeichen gibt‘s auch bei der IG Metall — eher zurück; für das ESF in Malmö gab es trotz Beschluss des Gewerkschaftsrats fast keine Unterstützung.
Von dezentralen Initiativen abgesehen gibt es keine Ansätze für Mobilisierungsstrategien und keine erkennbaren Interventionen für die unmittelbaren Interessen der Lohnabhängigen in der aktuellen Debatte, unwidersprochen sind die Börsenkurse der öffentliche Indikator für die Angst. Als schützenswerte Opfer stehen im Rampenlicht der Öffentlichkeit nach wie vor „die Wirtschaft” — Handwerksbetriebe und Mittelstand — und die Sparer — nicht aber die abhängig Beschäftigten.
Die gewerkschaftliche Tarifpolitik droht vollends in die Defensive geraten. Die ersten Kollateralschäden der Krise haben wir bei der IG Metall in der Tarifrunde erlebt [siehe Seite 7], oder im Bankenbereich, wo Ver.di aus ähnlichen Motiven eine Art Moratorium für die Gehaltstarifrunde angeboten hat. Zu befürchten ist, dass wieder betriebliche Standortbündnisse zulasten der Lohnabhängigen in anderen Betrieben und Ländern geschlossen werden.
Gewerkschaften, denen man zwar abnimmt, das Richtige zu wollen, die aber keine andere Antwort haben, als mit korporatistischen Bündnissen den Rückzug abzusichern, werden Mitglieder verlieren. Die Apparate werden in eine dramatische Krise geraten — auch das ist eine Parallele zu den 30er Jahren, als der ADGB zwischen 1929 und 1930 ein Drittel seiner Mitglieder verlor, Personal abbauen und die Gehälter der Beschäftigten um 20% kürzen musste und die Ausgaben für Arbeitskämpfe drastisch reduzierte. Die Zahl der Streikaktionen sank von 1929 bis 1931 um ein Drittel, die Zahl der Streikbeteiligten um 75%.
Es gelingt den Gewerkschaften nicht, der affirmativen ideologische Kriseninterpretation, nach dem Muster „Ein paar charakterlose Gesellen im Finanzbereich” oder „Nur eine Vertrauenskrise auf den Märkten” etwas Eigenes entgegenzusetzen. Die große, sich jetzt entscheidende Frage ist, wer in den nächsten Jahren die Folgen dieser Krise zu tragen haben wird.

Wer zahlt?

Die fast einzige Ebene, wo Gewerkschaften derzeit argumentieren und handeln, ist ihre Einmischung in die Diskussion über die Wirtschaftspolitik. Hier beschränken sie sich aber darauf, dem Kapital „Versäumnisse” vorzuwerfen; versäumt worden sei vor allem eine Nachfrage stärkende nationale Wirtschaftspolitik. Der gigantische Börsencrash sei nicht der eigentliche Krisengrund, sondern nur zusätzlich dazu gekommen, er diene der Politik jetzt als Ausrede für ihr eigentliches Verschulden, das darin besteht, im Aufschwung kein Konjunkturprogramm aufgelegt zu haben.
Der Vorwurf richtet sich an Arbeitgeber und Staat. Zum Beleg wird immer wieder auf die Grafik verwiesen, die zeigt, wie der private Konsum notorisch weniger steigt als das Bruttoinlandsprodukt.
Natürlich ist es das Ziel von Gewerkschaften, die Einkommen der Beschäftigten zu verbessern. Gewerkschaften dürfen sich aber nicht davon abhängig machen, ob Arbeitgeber oder Regierungen sich ihrer Auffassung anschließen und eine Politik der Nachfragesteigerung akzeptieren. Sie tun es nicht, und aus ihrer Interessenlage haben sie auch gute Gründe, den gewerkschaftlichen Standpunkt nicht einzusehen. Denn Tarifdumping und Agenda-Politik haben die Wettbewerbsbedingungen des deutschen Kapitals enorm verbessert und eine Umverteilungsorgie von unten nach oben möglich gemacht. Das alles hätte die Gegenseite nicht gehabt, wenn sie sich von den Gewerkschaften eine nachfrageorientierte Politik hätte aufdrängen lassen.
Wenn aber die Ökonomie im Sturzflug ist und es für das Kapital ans Eingemachte geht, kann dessen Interessenabwägung zu einem anderen Ergebnis kommen. Nachfrageorientierte Programme können nun auf einmal auch für die Gegenseite interessant werden, ja sie können geradezu zu einem Standortvorteil in der Krise werden. Da ist das Kapital ganz pragmatisch und auf einmal gar nicht mehr ideologisch.
Mitten in der Krise geht es also weniger um das Ob, als um das Wie von Konjunkturprogrammen, d.h. um die Frage: Wer zahlt und wer profitiert? Der nationalkeynesianische Ansatz ignoriert, dass sich inzwischen supranationale Strukturen und Regulationen entwickelt haben, die neue Machtzentren bilden. Das aktuellste atemberaubende Beispiel ist, wie sich jetzt, wo es um die Domestizierung der Selbstdestruktionskräfte des Kapitalismus geht, binnen Wochen globale Handlungsstrukturen der Regierungen und Finanzzentren herausbilden. Von der EU-Präsidentschaft angetrieben kristallisiert sich eine institutionalisierte, europäische Wirtschafts- und Industriepolitik heraus; der IWF soll im Sinne eines Weltfinanzministeriums weiterentwickelt werden; man denkt über globale Steuern und Steuerregeln nach, und es ist gut möglich, dass Keynes' alte Idee einer Weltzentralbank, die er 1944 in Bretton Woods nicht durchsetzen konnte, jetzt Realität wird.
Solche Reaktionszeiten auf geänderte Rahmenbedingungen würde man sich von den Gewerkschaften wünschen!

Gewerkschaften neu aufstellen

Die Gewerkschaften werden sich von ihrem alten Selbstverständnis und dem Politikmuster einer nationalkeynesianischen Wirtschaftspolitik lösen müssen. Sie müssen sich neu aufstellen. Sie dürfen nicht nur anklagen, sie müssen Gegenmacht organisieren. Wieviel Verbesserung bei Löhnen und Arbeitszeit, auch bei Mindestlohn oder Konjunkturprogramm möglich ist, hängt letztlich immer von der gewerkschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit mit der ultima ratio des Streiks ab.
— Die einzige Chance, sich aus der Defensive herauszuwinden, besteht in der Politisierung der Tarifauseinandersetzungen, in der Herstellung einer Verbindung zur Wirtschaftskrise.
— Ähnlich wie die Eliten des Realsozialismus, müssen die Verantwortlichen für die Krise zur Rechenschaft gezogen werden. Die Hauptprotagonisten der Agenda-Politik zum neuen Führungsduo der SPD zu machen, ist kein Zeichen von Umkehr oder Einsicht. Es ist ein Skandal, dass die Wirtschaftsforschungsinstitute, die großen Lehrstühle an den Unis personell und inhaltlich neoliberal ausgerichtet bleiben, dass Bahnprivatisierer Mehdorn einfach weiter machen kann, dass die Kommentatoren, die uns jahrelang mit neoliberalem Trommelfeuer belegt haben, weiter die Zeitungsseiten und Bildschirme bevölkern.
— Es muss eine gewerkschaftliche Globalisierung von unten stattfinden: Strukturen wie Eurobetriebsräte, Koordinationsstrukturen, gewerkschaftliche Netzwerke in der Sozialforumsbewegung usw. müssen entwickelt werden. Gemeinsame Forderungen, gemeinsame, zumindest gleichzeitige Demos und politische Streiks — europaweit und weltweit!


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang