SoZ - Sozialistische Zeitung |
Wer wird in den nächsten Jahren die Folgen der Krise zu
tragen haben? Während das Kapital sich in Windeseile neue Instrumente der internationalen
Krisenbewältigung schafft, sind die Gewerkschaften wie gelähmt. Ein
Diskussionsbeitrag des AK Weltwirtschaftskrise in Ver.di Baden-Württemberg.
Hilflos, kopflos, wehrlos
— diesen Eindruck gewinnt man vom bisherigen Agieren bzw. Schweigen der Gewerkschaften
angesichts der Krise. Wirtschaftsinteressen diktieren unangefochten das globale
Krisenmanagement, in dem jetzt die Weichen neu gestellt werden.
Arbeitnehmer und
Gewerkschaften erwarten vielfältige Risiken: Rationalisierungen und
Firmenzusammenbrüche im Finanzdienstleistungssektor; Arbeitsplatzabbau im
Öffentlichen Dienst, weil die öffentlichen Haushalte in Folge der Explosion der
Ausgaben für die Stabilisierung der Krise unter starken Druck geraten werden;
Steuerausfälle durch die Rezession und, wenn's ganz verrückt wird, auch noch durch
Steuersenkungen; geringere Einnahmen der Sozialkassen, daher weitere Sparmaßnahmen bei
der Daseinsvorsorge sowie Kürzungen in sozialen und kulturellen Bereichen; Kurzarbeit,
Personalabbau und Restrukturierungen in den exportabhängigen Wirtschaftsbereichen wegen
der Kreditklemme und dem globalen Nachfragerückgang; Rückgang der öffentlichen
Investitionen; eine stark rückläufige private Binnennachfrage, auch
größere „Marktbereinigungen” (Firmenzusammenbrüche) in Branchen,
die vom privaten Konsum abhängen, wie der Einzelhandel; ein erheblicher Anstieg der
Erwerbslosigkeit. Schon jetzt sind befristet Beschäftigte und Leiharbeiter die ersten
Opfer der Krise.
In allen Wirtschaftssektoren
wird es einen Konzentrationsprozess geben, der über die kapitalistische Konkurrenz
stattfindet, d.h. zu einem wesentlichen Teil über die Konkurrenz um den Preis der
Arbeitskraft. Mit dem Argument des ökonomischen Überlebens werden Lohnabhängige
in allen Branchen und weltweit in eine neue Runde von Lohnraub und Arbeitsplatzvernichtung
getrieben.
Die Gewerkschaften stehen dem Geschehen eher gelähmt gegenüber. Ist es schon in
der Zeit des Aufschwungs nicht gelungen, die Gewerkschaften neu aufzustellen, damit sie den
neuen kapitalistischen Strategien standhalten können, und neue Kampfformen zu entwickeln,
kann dieser Mangel in der nun aufziehenden Krise zum Fiasko werden. Viele Vergleiche mit 1929
sind fragwürdig, nur die Parallele hinsichtlich des Reaktionsmusters der Gewerkschaften
ist leider höchst plausibel.
Bleiben wir bei Ver.di. Die
Organisation betreibt im wesentlichen Business as usual. Wie gehabt Riesendebatten bei
kleinsten Eingriffen in die innergewerkschaftliche Macht- und Ressourcenverteilung — ein
Déjá-vu für jeden, der einmal Protokolle von Gewerkschaftssitzungen oder
Gewerkschaftszeitungen aus 1929 und 1930 gelesen hat.
In den ersten Wochen nach dem
Crash gab es keine politische Reaktion der Organisation als Ganzes, nur wenige
Pressemitteilungen aus der Abteilung Finanzdienstleistungen, in denen eine stärkere
Kontrolle der Finanzmärkte gefordert wird — Ansätze, die inzwischen von vielen
Regierungen und dem IWF längst getoppt werden.
Wirtschaftspolitisch
beschränkt sich Ver.di auf die Aussage: Mit unserem 40-Milliarden-Konjunkturprogramm
wäre das nicht passiert.
Aus der Sozialforumsbewegung
zieht sich Ver.di, Anzeichen gibts auch bei der IG Metall — eher zurück;
für das ESF in Malmö gab es trotz Beschluss des Gewerkschaftsrats fast keine
Unterstützung.
Von dezentralen Initiativen
abgesehen gibt es keine Ansätze für Mobilisierungsstrategien und keine erkennbaren
Interventionen für die unmittelbaren Interessen der Lohnabhängigen in der aktuellen
Debatte, unwidersprochen sind die Börsenkurse der öffentliche Indikator für die
Angst. Als schützenswerte Opfer stehen im Rampenlicht der Öffentlichkeit nach wie
vor „die Wirtschaft” — Handwerksbetriebe und Mittelstand — und die
Sparer — nicht aber die abhängig Beschäftigten.
Die gewerkschaftliche
Tarifpolitik droht vollends in die Defensive geraten. Die ersten Kollateralschäden der
Krise haben wir bei der IG Metall in der Tarifrunde erlebt [siehe Seite 7], oder im
Bankenbereich, wo Ver.di aus ähnlichen Motiven eine Art Moratorium für die
Gehaltstarifrunde angeboten hat. Zu befürchten ist, dass wieder betriebliche
Standortbündnisse zulasten der Lohnabhängigen in anderen Betrieben und Ländern
geschlossen werden.
Gewerkschaften, denen man zwar
abnimmt, das Richtige zu wollen, die aber keine andere Antwort haben, als mit
korporatistischen Bündnissen den Rückzug abzusichern, werden Mitglieder verlieren.
Die Apparate werden in eine dramatische Krise geraten — auch das ist eine Parallele zu
den 30er Jahren, als der ADGB zwischen 1929 und 1930 ein Drittel seiner Mitglieder verlor,
Personal abbauen und die Gehälter der Beschäftigten um 20% kürzen musste und
die Ausgaben für Arbeitskämpfe drastisch reduzierte. Die Zahl der Streikaktionen
sank von 1929 bis 1931 um ein Drittel, die Zahl der Streikbeteiligten um 75%.
Es gelingt den Gewerkschaften
nicht, der affirmativen ideologische Kriseninterpretation, nach dem Muster „Ein paar
charakterlose Gesellen im Finanzbereich” oder „Nur eine Vertrauenskrise auf den
Märkten” etwas Eigenes entgegenzusetzen. Die große, sich jetzt entscheidende
Frage ist, wer in den nächsten Jahren die Folgen dieser Krise zu tragen haben wird.
Die fast einzige Ebene, wo Gewerkschaften derzeit argumentieren und handeln, ist ihre
Einmischung in die Diskussion über die Wirtschaftspolitik. Hier beschränken sie sich
aber darauf, dem Kapital „Versäumnisse” vorzuwerfen; versäumt worden sei
vor allem eine Nachfrage stärkende nationale Wirtschaftspolitik. Der gigantische
Börsencrash sei nicht der eigentliche Krisengrund, sondern nur zusätzlich dazu
gekommen, er diene der Politik jetzt als Ausrede für ihr eigentliches Verschulden, das
darin besteht, im Aufschwung kein Konjunkturprogramm aufgelegt zu haben.
Der Vorwurf richtet sich an
Arbeitgeber und Staat. Zum Beleg wird immer wieder auf die Grafik verwiesen, die zeigt, wie
der private Konsum notorisch weniger steigt als das Bruttoinlandsprodukt.
Natürlich ist es das Ziel
von Gewerkschaften, die Einkommen der Beschäftigten zu verbessern. Gewerkschaften
dürfen sich aber nicht davon abhängig machen, ob Arbeitgeber oder Regierungen sich
ihrer Auffassung anschließen und eine Politik der Nachfragesteigerung akzeptieren. Sie
tun es nicht, und aus ihrer Interessenlage haben sie auch gute Gründe, den
gewerkschaftlichen Standpunkt nicht einzusehen. Denn Tarifdumping und Agenda-Politik haben die
Wettbewerbsbedingungen des deutschen Kapitals enorm verbessert und eine Umverteilungsorgie von
unten nach oben möglich gemacht. Das alles hätte die Gegenseite nicht gehabt, wenn
sie sich von den Gewerkschaften eine nachfrageorientierte Politik hätte aufdrängen
lassen.
Wenn aber die Ökonomie im
Sturzflug ist und es für das Kapital ans Eingemachte geht, kann dessen
Interessenabwägung zu einem anderen Ergebnis kommen. Nachfrageorientierte Programme
können nun auf einmal auch für die Gegenseite interessant werden, ja sie können
geradezu zu einem Standortvorteil in der Krise werden. Da ist das Kapital ganz pragmatisch und
auf einmal gar nicht mehr ideologisch.
Mitten in der Krise geht es
also weniger um das Ob, als um das Wie von Konjunkturprogrammen, d.h. um die Frage: Wer zahlt
und wer profitiert? Der nationalkeynesianische Ansatz ignoriert, dass sich inzwischen
supranationale Strukturen und Regulationen entwickelt haben, die neue Machtzentren bilden. Das
aktuellste atemberaubende Beispiel ist, wie sich jetzt, wo es um die Domestizierung der
Selbstdestruktionskräfte des Kapitalismus geht, binnen Wochen globale Handlungsstrukturen
der Regierungen und Finanzzentren herausbilden. Von der EU-Präsidentschaft angetrieben
kristallisiert sich eine institutionalisierte, europäische Wirtschafts- und
Industriepolitik heraus; der IWF soll im Sinne eines Weltfinanzministeriums weiterentwickelt
werden; man denkt über globale Steuern und Steuerregeln nach, und es ist gut
möglich, dass Keynes' alte Idee einer Weltzentralbank, die er 1944 in Bretton Woods nicht
durchsetzen konnte, jetzt Realität wird.
Solche Reaktionszeiten auf
geänderte Rahmenbedingungen würde man sich von den Gewerkschaften wünschen!
Die Gewerkschaften werden sich von ihrem alten Selbstverständnis und dem Politikmuster
einer nationalkeynesianischen Wirtschaftspolitik lösen müssen. Sie müssen sich
neu aufstellen. Sie dürfen nicht nur anklagen, sie müssen Gegenmacht organisieren.
Wieviel Verbesserung bei Löhnen und Arbeitszeit, auch bei Mindestlohn oder
Konjunkturprogramm möglich ist, hängt letztlich immer von der gewerkschaftlichen
Durchsetzungsfähigkeit mit der ultima ratio des Streiks ab.
— Die einzige Chance,
sich aus der Defensive herauszuwinden, besteht in der Politisierung der
Tarifauseinandersetzungen, in der Herstellung einer Verbindung zur Wirtschaftskrise.
— Ähnlich wie die
Eliten des Realsozialismus, müssen die Verantwortlichen für die Krise zur
Rechenschaft gezogen werden. Die Hauptprotagonisten der Agenda-Politik zum neuen
Führungsduo der SPD zu machen, ist kein Zeichen von Umkehr oder Einsicht. Es ist ein
Skandal, dass die Wirtschaftsforschungsinstitute, die großen Lehrstühle an den Unis
personell und inhaltlich neoliberal ausgerichtet bleiben, dass Bahnprivatisierer Mehdorn
einfach weiter machen kann, dass die Kommentatoren, die uns jahrelang mit neoliberalem
Trommelfeuer belegt haben, weiter die Zeitungsseiten und Bildschirme bevölkern.
— Es muss eine
gewerkschaftliche Globalisierung von unten stattfinden: Strukturen wie Eurobetriebsräte,
Koordinationsstrukturen, gewerkschaftliche Netzwerke in der Sozialforumsbewegung usw.
müssen entwickelt werden. Gemeinsame Forderungen, gemeinsame, zumindest gleichzeitige
Demos und politische Streiks — europaweit und weltweit!
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