SoZ - Sozialistische Zeitung |
Bei den Regionalwahlen und den
Teilsenatswahlen am 18. und 25.Oktober haben sich die Sozialdemokraten
unter der Führung von Jiri Paroubek in allen 13 Bezirken
durchgesetzt und 22 von 27 zu wählenden Senatssitzen gewonnen.
Alle zwei Jahre wird ein Drittel des Senats neu gewählt. Der
erdrutschartige Erfolg kam selbst für die Sozialdemokraten
unerwartet.
Bisher
hatte die Bürgerlich Demokratische Partei (ODS, Liberale), die
zusammen mit den Christdemokraten und Grünen das Land regiert, 12
der 13 Regionen verwaltet; die Christdemokraten hatten einen Hauptmann
(so heißen die Vorsitzenden der Regionalverwaltung) gestellt.
Jetzt haben die Sozialdemokraten überall gesiegt und
könnten, würden sie die Kommunisten als Partner annehmen,
die Regionen beherrschen.
Die
Regierungsparteien haben sich nämlich in ihrem
„Reformeifer” von der realen Situation der Wähler
soweit entfernt, dass sie dem Volk ihr sog. Reformprogramm nicht mehr
vermitteln können. Alle drei Koalitionsparteien bestanden vor den
Wahlen darauf, es gehe bei den Regionalwahlen um rein lokale Themen
seien, die über die Zentralregierung nichts aussagten. Die
Sozialdemokraten und die Kommunistische Partei von Böhmen und
Mähren (KSCM) betonten hingegen vor allem die Themen, welche die
Wähler am meisten bedrücken und keineswegs nur lokale
Bedeutung haben.
An erster Stelle sei die Gebühr von 30 Kronen (1,20 Euro)
genannt, die bei jedem Arztbesuch zu zahlen, derselbe Betrag ist in
der Apotheke für jedes verschriebene Arzneimittel zu entrichten.
Auch im Krankenhaus muss nun jeder Behandelte eine Gebühr und
einen Zuschuss zum Essen zahlen. Diese Gebühren, als Teil der
sog. Gesundheitsreform seit Anfang 2008 eingeführt und vom
höchst ungeliebten Gesundheitsminister zum „Erfolg”
erklärt, sind in der Bevölkerung verhasst und zudem
verfassungswidrig. In der Verfassung steht, dass Gesundheitspflege
„unentgeltlich” ist. Sozialdemokraten und Kommunisten
führen derzeit vor dem Verfassungsgericht dagegen Klage.
Im
Rahmen der Gesundheits"reform” haben die bisherigen, von der
ODS geführten, Regionalvertretungen die Krankenhäuser, die
meist in Regionalbesitz waren, in Aktiengesellschaften umgewandelt
— mit dem Ziel, sie später zu privatisieren. (An dieser
Stelle gäbe es viel über die Machenschaften zu berichten,
die bei jeder Privatisierung öffentlichen Eigentums in den
Ländern des früheren Ostblocks auftreten, doch das
würde zu weit führen.)
Es
gibt noch weitere Gründe für die allgemeine Unzufriedenheit;
man kann sie auch als einen moralischen Protest betrachten. Immer
wieder werden Fälle von Arroganz der Macht publik: Ein
Abgeordneter versucht, belastendes Material gegen Kollegen seiner
eigenen Partei zu sammeln; ein stellvertretender Premier baut seine
Karriere auf rassistischem Vorgehen gegen Roma-Mitbürger seiner
Stadt auf; der Vorsitzende der Grünen schleust vor dem
Parteikongress neue Mitglieder in seine Partei, sodass seine
Wiederwahl garantiert ist; wo „Mächtige” vor Gericht
erscheinen müssen, wird alles getan, damit es zu keiner Anklage
kommt, usw.
Auch
die amerikanische Radarbasis spielt eine Rolle: Obwohl seit einem Jahr
Umfragen immer wieder bestätigen, dass rd. 70% der
Bevölkerung die Basis ablehnen, tut die Regierung — nachdem
sie erfolglos versucht hat, die Öffentlichkeit von ihrer
Notwendigkeit zu überzeugen — so als gäbe es diese
Stimmung nicht; sie enthält der parlamentarischen Opposition
sogar Informationen über die Verträge vor. Dabei verdankt
die Regierung ihre Mehrheit in der Abgeordnetenkammer nur zwei
sozialdemokratischen Überläufern. Dies alles macht die drei
Koalitionsparteien der Zentralregierung (neben der ODS noch die KDU
und die Grünen) höchst unbeliebt, nur noch ein Viertel der
Wähler sprach ihnen im Oktober das Vertrauen aus.
Die
Zusammenarbeit mit den Kommunisten ist für die CSSD (die
Tschechische Sozialdemokratische Partei) ein Knoten, den sie nur
zögerlich bereit ist zu durchhauen. Ein Teil der
öffentlichen Meinung — niemand vermag zu sagen wie
groß er ist — ist gegen die Kommunisten. Die Medien,
übrigens zum großen Teil in deutschem Besitz, sind mit
wenigen Ausnahmen kommunistenfeindlich. Aus den 90er Jahren stammt ein
Beschluss eines sozialdemokratischen Parteitags, der die
Zusammenarbeit mit der KSCM auf Regierungsebene verbietet.
Drei
Wochen nach den jetzigen Wahlen haben die Sozialdemokraten jedoch in
zwei Regionen die Kommunisten als vollwertige Partner anerkannt, in
anderen Regionen haben sie sich darauf verständigt, dass die KSCM
eine sozialdemokratische Alleinverwaltung unterstützen wird. In
den Augen der Rechten wächst hier eine „rote Gefahr”,
dagegen glauben viele Linke an eine langfristige Perspektive für
eine Linksregierung.
Nach den Wahlen ist in der ODS ein innerparteilicher Streit
ausgebrochen, der auch die Zentralregierung erschüttern
könnte. Der langjährige Rivale des Partei- und
Regierungschefs Mirek Topolanek (ODS), der Prager Bürgermeister
Pavel Bem — von Staatspräsident und ODS-Gründervater
Vaclav Klaus hoch geachtet, während der für Topolanek nur
Verachtung übrig hat — rief zu einer gründlichen
Analyse des „Wahlarmageddons” auf. Auch die
abgewählten ODS-Regionalhauptleute sind natürlich
höchst unzufrieden. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob diese
„Analyse” sofort oder erst auf dem für Anfang
Dezember geplanten Parteikongress erfolgen sollte. Als Zusatzproblem
erschien die Frage, ob im Fall eines neuen Parteivorsitzenden dieser
auch zugleich zum Regierungsoberhaupt gewählt werden sollte
— was höchstwahrscheinlich eine neue Regierung bedeuten
würde. Mit Rücksicht auf die labile Position der
Koalitionsregierung im Parlament wäre dies für die
Koalitionsparteien eine sehr „gefährliche” Situation.
Diese
Frage scheint im Moment jedoch nicht ganz akut zu sein, vor allem weil
die CR am 1.Januar den Vorsitz der EU übernimmt; da wollen weder
Regierung noch Opposition „den Ruf” des Staates in Zweifel
ziehen. Ein Gerücht ist in diesem Zusammenhang allerdings
erwähnenswert: Der, gelinde ausgedrückt,
„Euroskeptiker” Klaus könnte, sollte sein
Günstling Bém nicht nur Partei-, sonder auch Regierungschef
werden, etwas im Schilde führen, was nicht nur einem Teil seiner
Partei, sondern auch allen anderen Schwierigkeiten bereiten
würde. Mit der Ausnahme der KSCM sind nämlich alle anderen
Parteien sehr „proeuropäisch”
Allerdings, am Lissabon-Vertrag scheiden sich die Geister: So
versprach Regierungschef Topolanek Angela Merkel zwar, der Vertrag
würde noch in diesem Jahr angenommen, doch er musste wenige Tage
später zugeben, dies werde kaum zu realisieren sein. Der Grund:
Die Kommunisten legten Einspruch beim Verfassungsgericht ein, und das
Gericht konnte bisher noch nicht entscheiden. Das Staatsoberhaupt
wurde zweimal als Zeuge vorgeladen, doch jedes Mal entschuldigte sich
Herr Klaus — er reiste ins Ausland und war daher verhindert zu
erscheinen. Als endgültiger Termin steht nun der 25.November
fest. Klaus sagte in einem Fernsehinterview wörtlich: „Ich
betrachte den Lissabon-Vertrag als einen tragischen Irrtum — ich
habe nie etwas anderes gesagt."
Selbst
wenn das Parlament den Vertrag annimmt, kann es geschehen, dass der
Präsident seine Unterschrift verweigert. Es steht nicht fest, ob
dann die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit zustande gebracht werden
kann. Wichtig, wenn auch nicht entscheidend in diesem Zusammenhang
sind die neuesten Umfragen (vom September/Oktober): 55% der Befragten
sprachen sich gegen den Vertrag aus, 2% mehr als im Juni; 75% gaben
an, sie verstünden nicht, was seine Annahme für Folgen
hätte.
Den Misserfolg der Regierungsparteien bei den Herbstwahlen
könnte man auch als ein Zeichen des Aufbrechens der bisherigen
Parteienlandschaft ansehen. Die Christlich-Sozialen (KDU-CSL)
vegetieren einige Zeit ohne ein klares Profil vor sich hin. In der
letzten Zeit haben sie nur mit einer Gesetzesvorlage von sich reden
gemacht, wonach die christliche Kirchen, besonders die katholische,
enorme Entschädigungen für ihren durch die Kommunisten seit
1948 enteigneten Besitz erhalten sollen — die Zahlungen
würden sich zwei Generationen lang hinziehen. Dank dem Widerstand
auch einiger ODS-Abgeordneten ist die Vorlage jedoch im Parlament
stecken geblieben. Bei den nächsten Parlamentswahlen 2010
könnte die Partei in die Bedeutungslosigkeit absinken.
Die
Grünen, die ohnehin mit sechs Abgeordneten nur ein
Koalitionsanhängsel darstellen, blicken auf eine sehr schmale
Mitgliederbasis. Ihr jetziger Vorsitzender ist ein politischer Macher,
dem nichts einfällt, außer wie er sich an der Macht halten
kann.
Mag
die CR wirtschaftlich unter den mitteleuropäischen Ländern
auch am besten dastehen, sie wird einer Rezession kaum entgehen. Die
ersten Anzeichen sind schon da. Die Firmen der Textil- oder
Glasindustrie — die traditionellen tschechischen Industrien
— entlassen derzeit Tausende von Arbeitern. Es wird erwartet,
dass die Arbeitslosenquote durchschnittlich von den jetzt 5,4% auf
6,2% klettern wird (in absoluten Zahlen sind das 40000—50000
Erwerbslose).
Auch
die Automobilindustrie fängt an, die Produktion zu drosseln. Die
Skoda-Werke — im Besitz von Volkswagen — haben eben
für eine Woche ihren Betrieb unterbrochen. Sie sind der
größte Exporteur des Landes und, wenn man ihre Zulieferer
einrechnet, einer der wichtigsten Arbeitgeber überhaupt. Da
zugleich der Einzelhandel die schlechtesten Ergebnisse seit zehn
Jahren verzeichnet, hofft man in dieser Branche nur noch auf die
Weihnachtskäufe.
Die
Verlangsamung des Wachstums wird dem Rückgang des Verbrauchs
zugeschrieben — u.a. wegen der Anhebung der Mehrwertsteuer, der
kontinuierlichen Erhöhung der Mieten und der Einführung der
Arzt- und Krankenhausgebühren.
Nach
der neuesten Statistik haben 63,5% der tschechischen Haushalte
Probleme, mit ihrem Monatsgehalt auszukommen. Das betrifft besonders
Familien mit mehreren Kindern. 93600 Haushalte mit 280400 Personen
leben unter dem Existenzminimum.
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