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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2008, Seite 18

Wahlen in Tschechien

Null Bock auf Reformen, US-Basis und EU

von STEPAN STEIGER

Bei den Regionalwahlen und den Teilsenatswahlen am 18. und 25.Oktober haben sich die Sozialdemokraten unter der Führung von Jiri Paroubek in allen 13 Bezirken durchgesetzt und 22 von 27 zu wählenden Senatssitzen gewonnen. Alle zwei Jahre wird ein Drittel des Senats neu gewählt. Der erdrutschartige Erfolg kam selbst für die Sozialdemokraten unerwartet.
Bisher hatte die Bürgerlich Demokratische Partei (ODS, Liberale), die zusammen mit den Christdemokraten und Grünen das Land regiert, 12 der 13 Regionen verwaltet; die Christdemokraten hatten einen Hauptmann (so heißen die Vorsitzenden der Regionalverwaltung) gestellt. Jetzt haben die Sozialdemokraten überall gesiegt und könnten, würden sie die Kommunisten als Partner annehmen, die Regionen beherrschen.
Die Regierungsparteien haben sich nämlich in ihrem „Reformeifer” von der realen Situation der Wähler soweit entfernt, dass sie dem Volk ihr sog. Reformprogramm nicht mehr vermitteln können. Alle drei Koalitionsparteien bestanden vor den Wahlen darauf, es gehe bei den Regionalwahlen um rein lokale Themen seien, die über die Zentralregierung nichts aussagten. Die Sozialdemokraten und die Kommunistische Partei von Böhmen und Mähren (KSCM) betonten hingegen vor allem die Themen, welche die Wähler am meisten bedrücken und keineswegs nur lokale Bedeutung haben.

Praxisgebühr

An erster Stelle sei die Gebühr von 30 Kronen (1,20 Euro) genannt, die bei jedem Arztbesuch zu zahlen, derselbe Betrag ist in der Apotheke für jedes verschriebene Arzneimittel zu entrichten. Auch im Krankenhaus muss nun jeder Behandelte eine Gebühr und einen Zuschuss zum Essen zahlen. Diese Gebühren, als Teil der sog. Gesundheitsreform seit Anfang 2008 eingeführt und vom höchst ungeliebten Gesundheitsminister zum „Erfolg” erklärt, sind in der Bevölkerung verhasst und zudem verfassungswidrig. In der Verfassung steht, dass Gesundheitspflege „unentgeltlich” ist. Sozialdemokraten und Kommunisten führen derzeit vor dem Verfassungsgericht dagegen Klage.
Im Rahmen der Gesundheits"reform” haben die bisherigen, von der ODS geführten, Regionalvertretungen die Krankenhäuser, die meist in Regionalbesitz waren, in Aktiengesellschaften umgewandelt — mit dem Ziel, sie später zu privatisieren. (An dieser Stelle gäbe es viel über die Machenschaften zu berichten, die bei jeder Privatisierung öffentlichen Eigentums in den Ländern des früheren Ostblocks auftreten, doch das würde zu weit führen.)
Es gibt noch weitere Gründe für die allgemeine Unzufriedenheit; man kann sie auch als einen moralischen Protest betrachten. Immer wieder werden Fälle von Arroganz der Macht publik: Ein Abgeordneter versucht, belastendes Material gegen Kollegen seiner eigenen Partei zu sammeln; ein stellvertretender Premier baut seine Karriere auf rassistischem Vorgehen gegen Roma-Mitbürger seiner Stadt auf; der Vorsitzende der Grünen schleust vor dem Parteikongress neue Mitglieder in seine Partei, sodass seine Wiederwahl garantiert ist; wo „Mächtige” vor Gericht erscheinen müssen, wird alles getan, damit es zu keiner Anklage kommt, usw.
Auch die amerikanische Radarbasis spielt eine Rolle: Obwohl seit einem Jahr Umfragen immer wieder bestätigen, dass rd. 70% der Bevölkerung die Basis ablehnen, tut die Regierung — nachdem sie erfolglos versucht hat, die Öffentlichkeit von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen — so als gäbe es diese Stimmung nicht; sie enthält der parlamentarischen Opposition sogar Informationen über die Verträge vor. Dabei verdankt die Regierung ihre Mehrheit in der Abgeordnetenkammer nur zwei sozialdemokratischen Überläufern. Dies alles macht die drei Koalitionsparteien der Zentralregierung (neben der ODS noch die KDU und die Grünen) höchst unbeliebt, nur noch ein Viertel der Wähler sprach ihnen im Oktober das Vertrauen aus.
Die Zusammenarbeit mit den Kommunisten ist für die CSSD (die Tschechische Sozialdemokratische Partei) ein Knoten, den sie nur zögerlich bereit ist zu durchhauen. Ein Teil der öffentlichen Meinung — niemand vermag zu sagen wie groß er ist — ist gegen die Kommunisten. Die Medien, übrigens zum großen Teil in deutschem Besitz, sind mit wenigen Ausnahmen kommunistenfeindlich. Aus den 90er Jahren stammt ein Beschluss eines sozialdemokratischen Parteitags, der die Zusammenarbeit mit der KSCM auf Regierungsebene verbietet.
Drei Wochen nach den jetzigen Wahlen haben die Sozialdemokraten jedoch in zwei Regionen die Kommunisten als vollwertige Partner anerkannt, in anderen Regionen haben sie sich darauf verständigt, dass die KSCM eine sozialdemokratische Alleinverwaltung unterstützen wird. In den Augen der Rechten wächst hier eine „rote Gefahr”, dagegen glauben viele Linke an eine langfristige Perspektive für eine Linksregierung.

Europa

Nach den Wahlen ist in der ODS ein innerparteilicher Streit ausgebrochen, der auch die Zentralregierung erschüttern könnte. Der langjährige Rivale des Partei- und Regierungschefs Mirek Topolanek (ODS), der Prager Bürgermeister Pavel Bem — von Staatspräsident und ODS-Gründervater Vaclav Klaus hoch geachtet, während der für Topolanek nur Verachtung übrig hat — rief zu einer gründlichen Analyse des „Wahlarmageddons” auf. Auch die abgewählten ODS-Regionalhauptleute sind natürlich höchst unzufrieden. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob diese „Analyse” sofort oder erst auf dem für Anfang Dezember geplanten Parteikongress erfolgen sollte. Als Zusatzproblem erschien die Frage, ob im Fall eines neuen Parteivorsitzenden dieser auch zugleich zum Regierungsoberhaupt gewählt werden sollte — was höchstwahrscheinlich eine neue Regierung bedeuten würde. Mit Rücksicht auf die labile Position der Koalitionsregierung im Parlament wäre dies für die Koalitionsparteien eine sehr „gefährliche” Situation.
Diese Frage scheint im Moment jedoch nicht ganz akut zu sein, vor allem weil die CR am 1.Januar den Vorsitz der EU übernimmt; da wollen weder Regierung noch Opposition „den Ruf” des Staates in Zweifel ziehen. Ein Gerücht ist in diesem Zusammenhang allerdings erwähnenswert: Der, gelinde ausgedrückt, „Euroskeptiker” Klaus könnte, sollte sein Günstling Bém nicht nur Partei-, sonder auch Regierungschef werden, etwas im Schilde führen, was nicht nur einem Teil seiner Partei, sondern auch allen anderen Schwierigkeiten bereiten würde. Mit der Ausnahme der KSCM sind nämlich alle anderen Parteien sehr „proeuropäisch”
Allerdings, am Lissabon-Vertrag scheiden sich die Geister: So versprach Regierungschef Topolanek Angela Merkel zwar, der Vertrag würde noch in diesem Jahr angenommen, doch er musste wenige Tage später zugeben, dies werde kaum zu realisieren sein. Der Grund: Die Kommunisten legten Einspruch beim Verfassungsgericht ein, und das Gericht konnte bisher noch nicht entscheiden. Das Staatsoberhaupt wurde zweimal als Zeuge vorgeladen, doch jedes Mal entschuldigte sich Herr Klaus — er reiste ins Ausland und war daher verhindert zu erscheinen. Als endgültiger Termin steht nun der 25.November fest. Klaus sagte in einem Fernsehinterview wörtlich: „Ich betrachte den Lissabon-Vertrag als einen tragischen Irrtum — ich habe nie etwas anderes gesagt."
Selbst wenn das Parlament den Vertrag annimmt, kann es geschehen, dass der Präsident seine Unterschrift verweigert. Es steht nicht fest, ob dann die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit zustande gebracht werden kann. Wichtig, wenn auch nicht entscheidend in diesem Zusammenhang sind die neuesten Umfragen (vom September/Oktober): 55% der Befragten sprachen sich gegen den Vertrag aus, 2% mehr als im Juni; 75% gaben an, sie verstünden nicht, was seine Annahme für Folgen hätte.

Rezession

Den Misserfolg der Regierungsparteien bei den Herbstwahlen könnte man auch als ein Zeichen des Aufbrechens der bisherigen Parteienlandschaft ansehen. Die Christlich-Sozialen (KDU-CSL) vegetieren einige Zeit ohne ein klares Profil vor sich hin. In der letzten Zeit haben sie nur mit einer Gesetzesvorlage von sich reden gemacht, wonach die christliche Kirchen, besonders die katholische, enorme Entschädigungen für ihren durch die Kommunisten seit 1948 enteigneten Besitz erhalten sollen — die Zahlungen würden sich zwei Generationen lang hinziehen. Dank dem Widerstand auch einiger ODS-Abgeordneten ist die Vorlage jedoch im Parlament stecken geblieben. Bei den nächsten Parlamentswahlen 2010 könnte die Partei in die Bedeutungslosigkeit absinken.
Die Grünen, die ohnehin mit sechs Abgeordneten nur ein Koalitionsanhängsel darstellen, blicken auf eine sehr schmale Mitgliederbasis. Ihr jetziger Vorsitzender ist ein politischer Macher, dem nichts einfällt, außer wie er sich an der Macht halten kann.
Mag die CR wirtschaftlich unter den mitteleuropäischen Ländern auch am besten dastehen, sie wird einer Rezession kaum entgehen. Die ersten Anzeichen sind schon da. Die Firmen der Textil- oder Glasindustrie — die traditionellen tschechischen Industrien — entlassen derzeit Tausende von Arbeitern. Es wird erwartet, dass die Arbeitslosenquote durchschnittlich von den jetzt 5,4% auf 6,2% klettern wird (in absoluten Zahlen sind das 40000—50000 Erwerbslose).
Auch die Automobilindustrie fängt an, die Produktion zu drosseln. Die Skoda-Werke — im Besitz von Volkswagen — haben eben für eine Woche ihren Betrieb unterbrochen. Sie sind der größte Exporteur des Landes und, wenn man ihre Zulieferer einrechnet, einer der wichtigsten Arbeitgeber überhaupt. Da zugleich der Einzelhandel die schlechtesten Ergebnisse seit zehn Jahren verzeichnet, hofft man in dieser Branche nur noch auf die Weihnachtskäufe.
Die Verlangsamung des Wachstums wird dem Rückgang des Verbrauchs zugeschrieben — u.a. wegen der Anhebung der Mehrwertsteuer, der kontinuierlichen Erhöhung der Mieten und der Einführung der Arzt- und Krankenhausgebühren.
Nach der neuesten Statistik haben 63,5% der tschechischen Haushalte Probleme, mit ihrem Monatsgehalt auszukommen. Das betrifft besonders Familien mit mehreren Kindern. 93600 Haushalte mit 280400 Personen leben unter dem Existenzminimum.


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