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Während Peer Steinbrück über das Ende der US-Hegemonie spekuliert, um die EU als
Machtfaktor wieder ins Spiel zu bringen, könnte sich in den USA nach der Wahl von Obama eine fortschrittliche Bewegung
entwickeln, die ganz andere Entwicklungen möglich macht.
Im September verkündete Finanzminister Steinbrück das
Ende der Finanzmacht USA. Zu der Zeit befanden sich Wall-Street-Banken und Börsenkurse im freien Fall und warteten darauf, mit
Steuergeldern aufgefangen zu werden. Dass in Steinbrücks Ministerium über die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Rolle
von Dollar und Wall Street im internationalen Finanzsystem nachgedacht wird, ist selbstverständlich, die undiplomatische Art, in der
er den Abgesang auf die amerikanischen Freunde anstimmte, war es weniger. Mit Erstaunen wurden diese Äußerungen
deshalb in der internationalen Presse verbreitet.
Offen blieb Steinbrücks Absicht. Um die Angst der Deutschen
einzudämmen, dass sie ihre Ersparnisse verlieren könnten, hätte es gereicht, die Krise als ein rein amerikanisches
Problem darzustellen. So haben es die Regierungen vieler anderer Länder gemacht. Offen blieb insbesondere die Frage, wer an die
frei werdende Stelle der Finanzsupermacht treten könnte oder ob dieser Posten in einer multipolaren Zukunft gestrichen wird.
In der Vergangenheit haben europäische Regierungen sich
immer wieder an der Sonderstellung der USA im kapitalistischen Weltsystem abgearbeitet, um ihre nationalen oder europäischen
Pläne voranzubringen. Ende der 60er Jahre wurde Die amerikanische Herausforderung (eine Streitschrift des französischen
Nationalisten Jean-Jacques Servan-Schreiber) in der Öffentlichkeit debattiert, in den 70er Jahren begann der Aufbau einer
europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie. In den 90er Jahren wurden die Schrecken eines ungezügelten US-Kapitalismus an
die Wand gemalt, um das europäische Sozialmodell in einem besonders positiven Licht erscheinen zu lassen. Praktisch endete die
Gegenüberstellung von neoliberalem Amerika und sozialem Europa mit der im Jahr 2000 verkündeten Lissabon-Strategie, die
die EU zur dynamischsten und produktivsten Weltregion machen sollte.
Als die europäische Währungsunion eingeführt
wurde, kehrten sich dann die Verhältnisse gegenüber den 60er Jahren um: Nunmehr warnten US-Ökonomen und -
Diplomaten vor einer europäischen Herausforderung für das Dollar-Wall-Street-Regime.
Allerdings waren weder Industrieprojekte wie Airbus oder Galileo, noch
Binnenmarkt und Euro jemals als Bestandteile einer europäischen Alternative zum amerikanischen Imperium gedacht —
jedenfalls nicht von den tonangebenden Kräften in der EU. In der EU konnte immer gerade soviel Konsens und Bündelung der
Kräfte erzielt werden, um sich als Juniorpartner der USA zu behaupten. Mehr war nicht drin, weil das postmoderne Europa, das
amerikanische Konservative wie Robert Kagan verspotten und europäische Sozialliberale wie Jürgen Habermas
beschwören, doch nur eine diskursive Hülle um zwischenstaatlich ausgehandelte Machtbalancen ist.
Weit davon entfernt, Klassenkampf und Staatenkonkurrenz entwachsen
zu sein, muss sich die EU genau wie im 19.Jahrhundert um ein Gleichgewicht im Konzert europäischer Mächte
bemühen. Einigkeit besteht nur dahingehend, dass die gemeingefährlichen Bestrebungen der unteren Volksklassen
eingedämmt werden müssen. Insofern stellt die EU mehr eine Heilige Allianz zur Niederhaltung sozialistischer oder
sozialstaatlicher Bestrebungen dar, als ein Projekt europäischer Weltherrschaft.
Dass Weltpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg in Washington und
Moskau statt in London, Paris und Berlin gemacht wurde, war für die europäischen Kapitalisten- und Diplomatenklassen
schwer zu verdauen. Deren Kinder hingegen — darunter Steinbrück, zu dessen Urahnen der Deutsche-Bank-
Mitbegründer Adalbert Delbrück gehört — sind unter dem Eindruck amerikanischer Hegemonie groß
geworden. Aus der realistischen Einschätzung, dass die EU weder die politischen noch wirtschaftlichen Voraussetzungen mitbringt,
um die USA aus ihrer Führungsposition zu verdrängen, haben sie mittlerweile eine Tugend gemacht.
Dabei bleibt freilich unklar, ob Steinbrück und andere darauf
spekulieren, dass auf den Niedergang des Pentagon-Wall-Street-Kapitalismus samt dem darum errichteten Imperium ein auf
internationalen Verhandlungen und Kompromissen beruhendes Weltsystem folgen könnte. Erst recht ist unklar, ob sie für
diesen Fall die Rolle des Verhandlungsführers anstreben. Die Voraussetzungen dafür sind jedenfalls kaum gegeben.
Nicht nur hat der Versuch, den Neoliberalismus in Europa als
Sozialmodell zu verkaufen, zu einer dramatischen Legitimationskrise geführt, wie die gescheiterten Volksabstimmungen über
eine EU-Verfassung anschaulich belegen. Das alte Europa wird auch von der Finanzkrise ganz ebenso erfasst wie Amerika,
während Teile des neuen Europa bereits den Gang zum IWF antreten mussten.
Und drittens: Kaum dass die Krise dem amerikanischen Herrn für
einen Augenblick die Sprache verschlagen hat, ist unter den Juniorpartnern ein Streit darüber ausgebrochen, welches der
europäischen Kapitalismusmodelle der Welt denn als Alternative zu Wall Street und Pentagon empfohlen werden soll. Schlägt
Sarkozy die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und eine europäische Wirtschaftsregierung als Gegengewicht zur
Europäischen Zentralbank vor, wirft ihm Merkel Dirigismus vor und bringt stattdessen die soziale Marktwirtschaft ins Spiel. Davon
unbeeindruckt hat Gordon Brown ein Rettungspaket für die Londoner City entworfen, das in Teilen von den USA übernommen
wurde. Ein Übergang vom amerikanischen zu einem europäischen Jahrhundert ist also mehr als fraglich.
Die Welt wartet nicht auf eine Neuauflage europäischer Hegemonie. Noch vor dem Ausbruch der Krise sind die WTO-
Verhandlungen am Widerstand der neuen Regionalmächte Brasilien, Indien und verbündeter Staaten gescheitert. Im Norden
Lateinamerikas hat das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion isolierte Kuba in Venezuela, Bolivien, Ecuador und Nikaragua neue
Verbündete gewonnen. In Russland sehen Medwedew und Putin gelassen dem Ruin der Finanzoligarchie zu, die Jelzin und der IWF
als Speerspitze des Neoliberalismus in Russland gefördert hatten.
Der von der russischen Führung verfolgte Übergang zum
Staatskapitalismus könnte schließlich auch China inspirieren, dessen neoliberale Kompradorenbourgeoisie ebenfalls in den
Strudel der Krise gerät. Gleichzeitig verschaffen die chinesischen Devisenreserven der politischen Führung des Landes
Gewicht bei internationalen Verhandlungen über die Zukunft des Weltfinanzsystems. Gleiches gilt für Russland.
Und sogar der US-Vasall Saudi-Arabien könnte seine Dollar-
Reserven nutzen, um sich etwas Spielraum zu verschaffen. Brown, mit der Geschichte imperialen Niedergangs besser vertraut als die
herrschende Klasse der USA, hat bei den Saudis schon um Finanzhilfe für den IWF nachgefragt. Letzterer verfügt bei weitem
nicht über ausreichend Mittel, um krisengeschüttelten Ländern das neoliberale Programm der kapitalistischen Zentren
aufzuherrschen — die im übrigen inzwischen selber daran zweifeln, ob dieses Programm ihren Macht- und Profitinteressen
dient.
Unter diesen Umständen ist der glatte Übergang von einem
kapitalistischen Hegemonialmodell zu einem anderem höchst unwahrscheinlich. Er ist auch nicht wünschenswert. Die
überwältigende Mehrheit, mit der Obama zum US-Präsidenten gewählt wurde, zeigt, dass in den USA ein weit
verbreitetes Bedürfnis nach wirtschaftlichem und sozialem Wandel besteht. Das eröffnet auch Chancen für die Linke. Die
augenblicklich noch an den künftigen Präsidenten geknüpften Hoffnungen werden schnell verfliegen. Schon vor den
Wahlen hat Obama die Rettung der Wall Street auf Kosten des Staatshaushalts unterstützt und erklärt, dass für soziale
Reformen wie eine umfassende Krankenversicherung nicht genügend Geld da sein werde.
Enttäuschte Hoffnungen können zu Resignation oder
reaktionären Bewegungen führen, sie können aber auch den Aufschwung fortschrittlicher Bewegungen auslösen.
Eine progressive Bewegung in den USA könnte auf Verbündete in allen Ländern der Welt rechnen und wäre den
von den EU-Staaten vorgetragenen Beschwörungen eines Europäischen Sozialmodells samt multilateraler Außenpolitik
allemal vorzuziehen.
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