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Unabhängig von der Bankenkrise kommen riesige Probleme auf uns zu. Die erläutert das
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie in seiner neuen Studie Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt*,
die in diesem Herbst vorgelegt wurde. Neben dramatischen Analysen enthält sie auch Szenarien einer lebenswerten Zukunft.
Wenn man davon ausgehen könnte, dass
Unternehmensleitungen, Politiker und Meinungsmacher gesellschaftlichen Vernunftargumenten folgen, genügte es, an jeden diese
Studie zu verschicken, ihnen Zeit zum Lesen zu geben — und die notwendige Zukunftsfähigkeit könnte beginnen. Leider
funktioniert die Welt nicht so.
So wird es viel gesellschaftliche und politische Bewegung brauchen,
um die in der Studie dringend angeratene Wende zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft bei uns einzuleiten.Zunächst besticht
der sachliche, aber drängende Ton der Studie. Diese beschäftigt sich erneut mit der Notwendigkeit, im Herzen der
kapitalistischen Länder mit der Änderung der Produktions- und Konsumweise anzufangen, um erhebliche Schäden bei
Umwelt, Lebensbedingungen, Klima und sozialer Gemeinschaft in Grenzen zu halten. Die Wuppertaler Wissenschaftler greifen alle
Bereiche der globalisierten Entwicklung auf, zeigen Klimakurven und Verbrauchsverhältnise, kulturelle und gesellschaftliche
Spaltungen. Sie nehmen Armut und Reichtum unter die Lupe, Energie-, Verkehrs- und Baupolitik als Schwerpunkte der Produktion in den
Industriegesellschaften, aber auch Arbeitsverhältnisse und Konsumbedingungen.
Viele Jahre lang wurde „Wachstum” als Heilmittel für alle Krisen der Welt gepriesen — Rezession,
Arbeitslosigkeit, Armut, Unterentwicklung. Es geht dabei nicht nur um die letzten zwanzig Jahre neoliberaler Vorstellungen, sondern um die
grundlegende Fehlorientierung einer Wirtschaft, deren Reichtum in marktgängigen Waren gemessen wird. Auch wenn die
Finanzkrise im Augenblick sehr viel überdeckt: die Basis der Wirtschaft bildet nach wie vor die materielle Produktion. Hier zeigt die
Studie: Schon jetzt verwenden wir dafür rund 1,2 mal soviel Ressourcen, wie die Erde hergibt. In ihren ersten beiden Teilen —
Ausgangslage und Bilanzen — wird dargelegt, wie wenig in den letzten Jahren für einen anderen Entwicklungspfad getan
wurde. Schon 1996 wurden in der Studie Zukunftsfähiges Deutschland die notwendigen Maßnahmen beschrieben und
Szenarien entwickelt, wie ein Klimadrama durch den massiven Rückgang der Emissionen verhindert werden könnte.
Die jetzige Untersuchung kommt zu einem vollkommen anderen Bild
als die Sprechblasen der Energiekonzerne und Politiker. Den führenden Industrienationen, insbesondere dem bisherigen
Exportweltmeister Deutschland, werden zu geringe Anstrengungen bescheinigt, eine grundlegende Wende bei Energiesparen,
Energieerzeugung, Verkehr und Bautätigkeit einzuleiten. Die „ökologische Raubökonomie” wird weiter
betrieben: der Anteil der reichen Länder an den Ressourcen soll steigen, während Länder wie China und Indien
aufschließen wollen und andere Länder völlig zurück bleiben. „Die ökologische Bilanz, zwölf
Jahre nach dem Erscheinen von Zukunftsfähiges Deutschland, fällt größtenteils negativ aus ... die notwendige
Kurswende zu mehr nachhaltigen Strukturen [ist] nicht absehbar ... Die Art und Weise, wie Deutsche ihre Grundbedürfnisse nach
Essen, Wohnen und Mobilität befriedigen, muss überdacht und von Grund auf geändert werden, das betrifft besonders
die gehobenen sozialen Milieus. In jedem einzelnen der drei genannten Bedürfnisfelder beansprucht Deutschland bereits so viel
globale Umwelt, wie ihm gerechterweise insgesamt zur Verfügung stünde."
Interessant ist, dass die Milieus mit der besten Bildung und
Einkommenslage zwar das höchste Umweltbewusstsein, aber auch den höchsten Verbrauch an „Umwelt”
haben.
Mitten im Buch taucht diese Überschrift auf. Ist höheres Einkommen, mehr Konsum, schnelleres Vorankommen, noch mehr
Fernsehen oder Kommunikation etwa nicht der Wohlstandsindikator, der in unserer Gesellschaft mit positiven Vorzeichen versehen wird?
Und dem die Schwellenländer sich möglichst annähern wollen? Fragen nach dem „Wohlbefinden”, der
„Zufriedenheit”, gar dem „Sinn” von Wirtschaft und Produktion gelten als abseitige philosophische
Betrachtungen, die sich den gesellschaftlichen Realitäten des Wachstums unterordnen müssen.
Aber das steigende Bewusstsein über die Verschwendung von
Ressourcen bringt genau diese Fragen in Gegensatz zur herrschenden Auffassung von „Wohlstand = Wohlfahrt”
Zufriedenheit und Wohlbefinden haben mehr mit sozialer und politischer Teilhabe zu tun als mit der absoluten Menge der produzierten
Güter. Arbeitslosigkeit, Zukunftssorgen, soziale Ungleichheit, Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Chancen und Einkommen sind
die Faktoren für mangelnde Zufriedenheit.
Die Studie plädiert für einen Wechsel der Leitbilder und
stellt das „Gastrecht für alle” in den Mittelpunkt. Allen Menschen steht die ganze Erde zur Verfügung —
nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Industrialisierung und Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung hat zu einer
völlig einseitigen Ausnutzung der natürlichen Ressourcen geführt, Unterentwicklung und Armut steht auf der anderen
Seite Überentwicklung und Reichtum gegenüber. „Gastrecht” heißt, dass alle zu Gast sind bei dem, was
alle zusammen zu bieten haben. Hier gibt es ganz konkrete Forderungen nach Schuldenstreichung und politischer Beschränkung
der Freihandelsbestimmungen.
Die Autoren der Studie stellen die wirtschaftlichen und ökologischen Probleme in einen gesellschaftlichen Zusammenhang und
stellen bei den Leitbildern einer zukunftsfähigen Gesellschaft die Beteiligung aller Menschen an Entscheidungen, Bildung und
Tätigkeit sowie an sozialer Sicherheit in den Mittelpunkt. Kritisch wird daher die Armuts-Reichtums-Entwicklung weltweit, aber auch in
Deutschland betrachtet. Kritisiert werden die Arbeitsmarktreformen, der Niedriglohnsektor, die Privatisierung öffentlicher und sozial
notwendiger Dienstleistungen sowie die Betonung der Eigenverantwortlichkeit gegenüber der gesellschaftlichen Solidarität.
Zudem kritisieren sie zu Recht die deutsche Ausländerpolitik.
Sie fordern Gegenmaßnahmen: z.B. die Verkürzung der
Arbeitszeit, Verteilung aller Tätigkeiten (also nicht nur der bezahlten Arbeit) auf beide Geschlechter, den Erhalt von Infrastrukturen zur
sozialen Absicherung und Entwicklung, dazu Mindestlohn und Grundsicherung. Bei manchen Vorstellungen einer „Aufwertung der
Lebensweltwirtschaft” oder „lebensdienlichen Marktwirtschaft” in der Studie merkt man die evangelischen
Auftraggeber, und man mag gern anderer oder radikalerer Meinung sein — es war sicher nicht ihr Ziel, eine marxistische
Gesellschaftskritik zu ersetzen. Die überzeugende Gesamtsicht auf die Ausbeutung der Lebensgrundlagen des Planeten durch die
herrschende Wirtschafts(un)ordnung zeichnet jedoch die Studie aus.
Die Studie nennt viele Beispiele für das Engagement vor Ort, Inspiration für alle, die nicht auf den großen Wurf durch
eine vernünftige Politik warten wollen.
Eine Strategie des Umsteuerns ist die Solarwirtschaft. Die
Sonneneinstrahlung und ihre ausbeutbaren Energieformen auf der Erdoberfläche entsprechen dem 3000fachen des
jährlichen Weltenergieverbrauchs. Kein Öl, Kohle oder Uran müsste mehr verbraucht werden, wenn diese Energiequelle
entsprechend verwertet und verteilt werden würde! Die Studie zitiert gelungene praktische Beispiele, wie es anders laufen
könnte. So wird z.B. die Solarstadt erläutert, die mit dem „Dächerscan” in Osnabrück begonnen
wurde, wobei alle für Sonnenkollektoren infrage kommenden Dachflächen erkannt und berechnet wurden; die ganze Stadt
könnte man auf diese Weise mit Elektrizität versorgen.
Oder das Beispiel eines Bioenergiedorfs (Jünde bei
Göttingen), das seit einiger Zeit den Energiebedarf in Nahversorgung aus nachwachsenden Rohstoffen deckt. Oder die
Straßenbeleuchtung mit Leuchtdioden: sie bedeutet erheblich weniger Stromverbrauch, längere Lebensdauer und weniger
Lichtverschmutzung. Dazu wird empfohlen, Fahrleistung statt Autos zu verkaufen, d.h. rund um die Uhr an allen wichtigen Stellen Autos
hinzustellen, die jeder per Mobiltelefon orten und per Chipkarte mieten kann. Positive Bezugspunkte sind zudem die
Elektrizitätswerke Schönau, autofreie Viertel, die Verhinderung von Kohlekraftwerken, Nullenergiehäuser, bis hin zu
Tauschringen, Bürgersolaranlagen, Kraft-Wärme-Kopplung und Radfahren.
Die Studie sei Bürgerinitiativen, fortschrittlichen Projekten,
Agenda-21-Veranstaltungen, Redaktionen und Aktivisten wärmstens ans Herz gelegt.
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