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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2008, Seite 22

(Kein) Zukunftsfähiges Deutschland

Ein hoffnungsvoller „Anstoß zur gesellschaftlichen Debatte"

von ROLF EULER

Unabhängig von der Bankenkrise kommen riesige Probleme auf uns zu. Die erläutert das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie in seiner neuen Studie Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt*, die in diesem Herbst vorgelegt wurde. Neben dramatischen Analysen enthält sie auch Szenarien einer lebenswerten Zukunft.
Wenn man davon ausgehen könnte, dass Unternehmensleitungen, Politiker und Meinungsmacher gesellschaftlichen Vernunftargumenten folgen, genügte es, an jeden diese Studie zu verschicken, ihnen Zeit zum Lesen zu geben — und die notwendige Zukunftsfähigkeit könnte beginnen. Leider funktioniert die Welt nicht so.
So wird es viel gesellschaftliche und politische Bewegung brauchen, um die in der Studie dringend angeratene Wende zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft bei uns einzuleiten.Zunächst besticht der sachliche, aber drängende Ton der Studie. Diese beschäftigt sich erneut mit der Notwendigkeit, im Herzen der kapitalistischen Länder mit der Änderung der Produktions- und Konsumweise anzufangen, um erhebliche Schäden bei Umwelt, Lebensbedingungen, Klima und sozialer Gemeinschaft in Grenzen zu halten. Die Wuppertaler Wissenschaftler greifen alle Bereiche der globalisierten Entwicklung auf, zeigen Klimakurven und Verbrauchsverhältnise, kulturelle und gesellschaftliche Spaltungen. Sie nehmen Armut und Reichtum unter die Lupe, Energie-, Verkehrs- und Baupolitik als Schwerpunkte der Produktion in den Industriegesellschaften, aber auch Arbeitsverhältnisse und Konsumbedingungen.

Grenzenloses Wachstum geht nicht

Viele Jahre lang wurde „Wachstum” als Heilmittel für alle Krisen der Welt gepriesen — Rezession, Arbeitslosigkeit, Armut, Unterentwicklung. Es geht dabei nicht nur um die letzten zwanzig Jahre neoliberaler Vorstellungen, sondern um die grundlegende Fehlorientierung einer Wirtschaft, deren Reichtum in marktgängigen Waren gemessen wird. Auch wenn die Finanzkrise im Augenblick sehr viel überdeckt: die Basis der Wirtschaft bildet nach wie vor die materielle Produktion. Hier zeigt die Studie: Schon jetzt verwenden wir dafür rund 1,2 mal soviel Ressourcen, wie die Erde hergibt. In ihren ersten beiden Teilen — Ausgangslage und Bilanzen — wird dargelegt, wie wenig in den letzten Jahren für einen anderen Entwicklungspfad getan wurde. Schon 1996 wurden in der Studie Zukunftsfähiges Deutschland die notwendigen Maßnahmen beschrieben und Szenarien entwickelt, wie ein Klimadrama durch den massiven Rückgang der Emissionen verhindert werden könnte.
Die jetzige Untersuchung kommt zu einem vollkommen anderen Bild als die Sprechblasen der Energiekonzerne und Politiker. Den führenden Industrienationen, insbesondere dem bisherigen Exportweltmeister Deutschland, werden zu geringe Anstrengungen bescheinigt, eine grundlegende Wende bei Energiesparen, Energieerzeugung, Verkehr und Bautätigkeit einzuleiten. Die „ökologische Raubökonomie” wird weiter betrieben: der Anteil der reichen Länder an den Ressourcen soll steigen, während Länder wie China und Indien aufschließen wollen und andere Länder völlig zurück bleiben. „Die ökologische Bilanz, zwölf Jahre nach dem Erscheinen von Zukunftsfähiges Deutschland, fällt größtenteils negativ aus ... die notwendige Kurswende zu mehr nachhaltigen Strukturen [ist] nicht absehbar ... Die Art und Weise, wie Deutsche ihre Grundbedürfnisse nach Essen, Wohnen und Mobilität befriedigen, muss überdacht und von Grund auf geändert werden, das betrifft besonders die gehobenen sozialen Milieus. In jedem einzelnen der drei genannten Bedürfnisfelder beansprucht Deutschland bereits so viel globale Umwelt, wie ihm gerechterweise insgesamt zur Verfügung stünde."
Interessant ist, dass die Milieus mit der besten Bildung und Einkommenslage zwar das höchste Umweltbewusstsein, aber auch den höchsten Verbrauch an „Umwelt” haben.

Wieviel Geld braucht das Glück?

Mitten im Buch taucht diese Überschrift auf. Ist höheres Einkommen, mehr Konsum, schnelleres Vorankommen, noch mehr Fernsehen oder Kommunikation etwa nicht der Wohlstandsindikator, der in unserer Gesellschaft mit positiven Vorzeichen versehen wird? Und dem die Schwellenländer sich möglichst annähern wollen? Fragen nach dem „Wohlbefinden”, der „Zufriedenheit”, gar dem „Sinn” von Wirtschaft und Produktion gelten als abseitige philosophische Betrachtungen, die sich den gesellschaftlichen Realitäten des Wachstums unterordnen müssen.
Aber das steigende Bewusstsein über die Verschwendung von Ressourcen bringt genau diese Fragen in Gegensatz zur herrschenden Auffassung von „Wohlstand = Wohlfahrt” Zufriedenheit und Wohlbefinden haben mehr mit sozialer und politischer Teilhabe zu tun als mit der absoluten Menge der produzierten Güter. Arbeitslosigkeit, Zukunftssorgen, soziale Ungleichheit, Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Chancen und Einkommen sind die Faktoren für mangelnde Zufriedenheit.
Die Studie plädiert für einen Wechsel der Leitbilder und stellt das „Gastrecht für alle” in den Mittelpunkt. Allen Menschen steht die ganze Erde zur Verfügung — nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Industrialisierung und Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung hat zu einer völlig einseitigen Ausnutzung der natürlichen Ressourcen geführt, Unterentwicklung und Armut steht auf der anderen Seite Überentwicklung und Reichtum gegenüber. „Gastrecht” heißt, dass alle zu Gast sind bei dem, was alle zusammen zu bieten haben. Hier gibt es ganz konkrete Forderungen nach Schuldenstreichung und politischer Beschränkung der Freihandelsbestimmungen.

Gegenmaßnahmen

Die Autoren der Studie stellen die wirtschaftlichen und ökologischen Probleme in einen gesellschaftlichen Zusammenhang und stellen bei den Leitbildern einer zukunftsfähigen Gesellschaft die Beteiligung aller Menschen an Entscheidungen, Bildung und Tätigkeit sowie an sozialer Sicherheit in den Mittelpunkt. Kritisch wird daher die Armuts-Reichtums-Entwicklung weltweit, aber auch in Deutschland betrachtet. Kritisiert werden die Arbeitsmarktreformen, der Niedriglohnsektor, die Privatisierung öffentlicher und sozial notwendiger Dienstleistungen sowie die Betonung der Eigenverantwortlichkeit gegenüber der gesellschaftlichen Solidarität. Zudem kritisieren sie zu Recht die deutsche Ausländerpolitik.
Sie fordern Gegenmaßnahmen: z.B. die Verkürzung der Arbeitszeit, Verteilung aller Tätigkeiten (also nicht nur der bezahlten Arbeit) auf beide Geschlechter, den Erhalt von Infrastrukturen zur sozialen Absicherung und Entwicklung, dazu Mindestlohn und Grundsicherung. Bei manchen Vorstellungen einer „Aufwertung der Lebensweltwirtschaft” oder „lebensdienlichen Marktwirtschaft” in der Studie merkt man die evangelischen Auftraggeber, und man mag gern anderer oder radikalerer Meinung sein — es war sicher nicht ihr Ziel, eine marxistische Gesellschaftskritik zu ersetzen. Die überzeugende Gesamtsicht auf die Ausbeutung der Lebensgrundlagen des Planeten durch die herrschende Wirtschafts(un)ordnung zeichnet jedoch die Studie aus.

Solarstädte, Bioenergiedörfer

Die Studie nennt viele Beispiele für das Engagement vor Ort, Inspiration für alle, die nicht auf den großen Wurf durch eine vernünftige Politik warten wollen.
Eine Strategie des Umsteuerns ist die Solarwirtschaft. Die Sonneneinstrahlung und ihre ausbeutbaren Energieformen auf der Erdoberfläche entsprechen dem 3000fachen des jährlichen Weltenergieverbrauchs. Kein Öl, Kohle oder Uran müsste mehr verbraucht werden, wenn diese Energiequelle entsprechend verwertet und verteilt werden würde! Die Studie zitiert gelungene praktische Beispiele, wie es anders laufen könnte. So wird z.B. die Solarstadt erläutert, die mit dem „Dächerscan” in Osnabrück begonnen wurde, wobei alle für Sonnenkollektoren infrage kommenden Dachflächen erkannt und berechnet wurden; die ganze Stadt könnte man auf diese Weise mit Elektrizität versorgen.
Oder das Beispiel eines Bioenergiedorfs (Jünde bei Göttingen), das seit einiger Zeit den Energiebedarf in Nahversorgung aus nachwachsenden Rohstoffen deckt. Oder die Straßenbeleuchtung mit Leuchtdioden: sie bedeutet erheblich weniger Stromverbrauch, längere Lebensdauer und weniger Lichtverschmutzung. Dazu wird empfohlen, Fahrleistung statt Autos zu verkaufen, d.h. rund um die Uhr an allen wichtigen Stellen Autos hinzustellen, die jeder per Mobiltelefon orten und per Chipkarte mieten kann. Positive Bezugspunkte sind zudem die Elektrizitätswerke Schönau, autofreie Viertel, die Verhinderung von Kohlekraftwerken, Nullenergiehäuser, bis hin zu Tauschringen, Bürgersolaranlagen, Kraft-Wärme-Kopplung und Radfahren.
Die Studie sei Bürgerinitiativen, fortschrittlichen Projekten, Agenda-21-Veranstaltungen, Redaktionen und Aktivisten wärmstens ans Herz gelegt.

*Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt. Ein Anstoß zur gesellschaftlichen Debatte. Eine Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie (Hg. BUND u.a.), Frankfurt: S.Fischer, 2008.






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