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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2008, Seite 24

Mexikos „Narcocorridos"

Der Soundtrack zum Drogenkrieg

von ANTON HOLBERG

"Corridos” sind die traditionellen volkstümlichen Balladen in Mexiko. „Narcocorridos” sind „Drogenballaden” Doch der Drogenkrieg wütet so brutal, dass selbst die Sänger umgebracht werden.
In der nordmexikanischen Stadt Ciudad Juárez ermordeten am 10.Mai Killer mexikanischer Drogenkartelle — in diesem Fall wohl des Sinaloa-Kartells — den Polizeidirektor García, den sechsten hochrangigen Polizeioffizier innerhalb einer Woche. Seit Dezember 2006 nimmt die Zahl der Todesopfer im Zusammenhang mit dem Antidrogenkrieg gespenstisch zu. Damals wurde Staatspräsident Felipe Calderón in sein Amt eingeführt und die Militarisierung des Antidrogenkampfes deutlich verstärkt. Da es um ein Exportgeschäft in die USA geht, dessen Wert auf 20 Milliarden US-Dollar geschätzt wird, schlugen die Kartelle in bis dahin unbekannter Intensität zurück. In letzter Zeit fallen dem Krieg auf beiden Seiten nicht mehr nur das Fußvolk, sondern auch das Führungspersonal zum Opfer.
Dass Drogenkartelle in Mexiko in der Lage sind, bis in die Hauptstadt hinein höchste Vertreter der Staatsmacht zu treffen, ist ein Beweis für die breite soziale Basis, auf die sich Gewalt und Verbrechen — vor allem der Drogenhandel — in dieser sozial tief gespaltenen Gesellschaft stützen kann. Die korrupte und selbstsüchtige politische Elite bietet der Bevölkerung keine ökonomische Perspektive und ist selbst ein negatives Leitbild, Nährboden für eine wahre Drogenkultur. Viele Mexikaner hoffen nicht auf ein langes Leben im Elend, sondern auf ein kurzes und intensives mit schnellen Autos, schönen Frauen und schon bald pompösen Grabdenkmälern.
Dieses Klima schlägt sich auch kulturell in der populären Musik des Landes nieder. Im Dezember 2007 wurde in Michoacan der Sänger Sergio Gómez von der Gruppe „K-Paz de la Sierra” getötet — es war der vorläufige Höhepunkt einer Mordserie. Sie könnte das Ende eines der erfolgreichsten mexikanischen Musikstile seit den 70er Jahren einläuten. Im November des Vorjahres war bereits Valentín Elizade erschossen worden, wahrscheinlich weil sein über Youtube verbreitetes Lied „An meine Feinde” als eine vom Sinaloa-Kartell bezahlte Schmähung des konkurrierenden Golf-Kartells von Juárez verstanden wurde. Posthum belegte dieser Corrido in der Hitparade für Lateinamerikaner in den USA am 3.3.2007 die ersten beiden Plätze.

Balladen, die Nachrichten verbreiten

Das hierzulande wohl bekannteste mexikanische Volkslied dürfte „La Cucaracha” (Die Küchenschabe) sein. Das ist eine Ballade, ein „Corrido”, aus der Zeit der Revolution von 1910—1920. Der Corrido entstand im frühen 19.Jahrhundert und diente, angesichts des Fehlens von Radio, Fernsehen und Zeitungen, der Information der Bevölkerung über aktuelle Ereignisse. Nur die Wenigsten konnten damals lesen und schreiben. „La Cucaracha” ist einer der vielen Corridos der damaligen Zeit, die die Revolutionsereignisse zum Thema hat, die mit den Namen Emilio Zapata und Pancho Villa verbundenen sind.
Ab den 70er Jahren verbreitete sich rasant ein neues Genre von Corridos, das unter der Bezeichnung „Narcocorridos” zusammengefasst wird. In ihnen geht es um alles, was mit Drogen zu tun hat. Ihr Boom begann mit dem von Angel Gonzales komponierten Corrido „Contrabando y Traición” ("Schmuggel und Verrat"), der 1972 von „Los Tigres Del Norte” aufgenommen wurde. Die Gruppe Los Tigres hat über 50 Alben veröffentlicht und ist in einem Dutzend Filme aufgetreten. Ihre Alben verkaufen sich zu Millionen, und zu ihren Konzerten können gut über 100000 schreiende Fans auflaufen.
Andere berühmte Namen von Komponisten und Bands sind „El As de la Sierra” aus Sinaloa, Pedro Rivera und weitere Mitglieder seiner Familie aus Los Angeles, Los Tucanes de Tijuana oder der Komponist Paulino Vargas.
Der Corrido ist neben dem Salsa einer der populärsten lateinamerikanischen Musikstile in den USA, wo Mexikaner das Gros der lateinamerikanischen Bevölkerung stellen. Ein Großteil dieser Corridos sind heute „Narcocorridos”

Volksmusik

Musikalisch folgen sie überwiegend traditionellen Stilen der Volksmusik. Die Narcocorridos aus Mexikos Hauptdrogenprovinz Sinaloa an der Westküste werden meist von „Bandas” gespielt, von Bands mit Akkordeon und Bläsern, während die von der texanischen Grenze, wo der Corrido vermutlich entstanden ist, eher als auf Saiteninstrumenten gespielt werden und ohne Bläser auskommen. Akkordeon, Polka oder Walzerrhythmus verdankt die regionale Folklore auf beiden Seiten der Grenze vor allem deutschen Einwanderern. Die Moderne dringt in Form von Schlagzeugen, E-Bässen und Saxofonen und natürlich Texten in das Genre ein. Hin und wieder fließt — gerade bei mexikanischen Bands aus den USA — auch etwas Rap und HipHop ein. Die Verbindung zum Rap besteht in erster Linie im Inhalt — in den USA zwang der Rap der Popmusik die harte Realität der großstädtischen Straße auf.
Die Narcocorridos sind, auch wenn sie von der Musikindustrie verbreitet werden, authentische Volksmusik. Sie spiegeln eine Kultur wider, in der Gesetzlosigkeit und Gewalt als einer der wenigen Wege akzeptiert werden, die den Armen offen stehen, um ihrem Elend zu entkommen. Brutalste Gewalt, nicht nur strukturell, sondern ganz unverblümt von der herrschenden Klasse ausgehend, durchdringt seit jeher die mexikanische Gesellschaft. Schon in der mexikanischen Revolution entzogen sich, gerade im Norden des Landes, viele der Schuldknechtschaft durch Flucht, um von Schmuggel und Raub (besser) zu leben. Auch Pancho Villas Revolutionsarmee bestand zu einem erheblichen Teil aus Geächteten und Banditen. Die Grenze zwischen ihnen und Sozialrebellen war oft fließend.
Der Höhunkt des Narcocorrido-Booms lag in den 90er Jahren, trotz aller Versuche staatlicherseits, den Stil für illegal zu erklären. Die meisten Komponisten und Musiker haben stets auch andere Themen behandelt, bis hin zu Herz und Schmerz. Gerade die Gruppe „Los Tigres del Norte” hat auch viele gemäßigt sozialkritische Lieder über Korruption oder über die mehr als 300 Morde an jungen Arbeiterinnen in den Maquiladoras von Ciudad Juárez aufgenommen.
Populär sind Narcocorridos unter den Musikern auch deshalb, weil sie Geld einbringen. Ein normaler Auftritt bei einem Fest bringt 1000 Dollar, ein Corrido über einen Drogenboss 4000. Leider, so Julio Preciado, einer der berühmtesten Banda-Sänger Mexikos, nimmt die Gewalttätigkeit allmählich überhand. Er kritisiere zwar nicht die Kollegen, die auch wegen des Geldes als Chronisten der Drogenszene arbeiteten, denn nicht der Bote sei der Schuldige. Er aber werde in Zukunft vor allem Liebeslieder singen, „aus Respekt vor meiner Familie”
Die anfangs erwähnte Mordserie könnte diesen Trend verstärken, aber die Corridistas würden ihrer traditionellen Berufung nicht genügen, wenn sie hinfort in einer Gesellschaft, die von auswegloser Massenarmut gekennzeichnet ist, jenen anderen Teil der „Volkskultur” — den durch Drogengeschäfte generierten Reichtum und das damit einhergehende Ansehen — ignorierten.


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