SoZ - Sozialistische Zeitung |
"Corridos” sind die traditionellen volkstümlichen Balladen in Mexiko. „Narcocorridos” sind
„Drogenballaden” Doch der Drogenkrieg wütet so brutal, dass selbst die Sänger umgebracht werden.
In der nordmexikanischen Stadt Ciudad Juárez ermordeten am
10.Mai Killer mexikanischer Drogenkartelle — in diesem Fall wohl des Sinaloa-Kartells — den Polizeidirektor García,
den sechsten hochrangigen Polizeioffizier innerhalb einer Woche. Seit Dezember 2006 nimmt die Zahl der Todesopfer im
Zusammenhang mit dem Antidrogenkrieg gespenstisch zu. Damals wurde Staatspräsident Felipe Calderón in sein Amt
eingeführt und die Militarisierung des Antidrogenkampfes deutlich verstärkt. Da es um ein Exportgeschäft in die USA
geht, dessen Wert auf 20 Milliarden US-Dollar geschätzt wird, schlugen die Kartelle in bis dahin unbekannter Intensität
zurück. In letzter Zeit fallen dem Krieg auf beiden Seiten nicht mehr nur das Fußvolk, sondern auch das
Führungspersonal zum Opfer.
Dass Drogenkartelle in Mexiko in der Lage sind, bis in die Hauptstadt
hinein höchste Vertreter der Staatsmacht zu treffen, ist ein Beweis für die breite soziale Basis, auf die sich Gewalt und
Verbrechen — vor allem der Drogenhandel — in dieser sozial tief gespaltenen Gesellschaft stützen kann. Die korrupte
und selbstsüchtige politische Elite bietet der Bevölkerung keine ökonomische Perspektive und ist selbst ein negatives
Leitbild, Nährboden für eine wahre Drogenkultur. Viele Mexikaner hoffen nicht auf ein langes Leben im Elend, sondern auf ein
kurzes und intensives mit schnellen Autos, schönen Frauen und schon bald pompösen Grabdenkmälern.
Dieses Klima schlägt sich auch kulturell in der populären
Musik des Landes nieder. Im Dezember 2007 wurde in Michoacan der Sänger Sergio Gómez von der Gruppe „K-Paz
de la Sierra” getötet — es war der vorläufige Höhepunkt einer Mordserie. Sie könnte das Ende eines
der erfolgreichsten mexikanischen Musikstile seit den 70er Jahren einläuten. Im November des Vorjahres war bereits Valentín
Elizade erschossen worden, wahrscheinlich weil sein über Youtube verbreitetes Lied „An meine Feinde” als eine vom
Sinaloa-Kartell bezahlte Schmähung des konkurrierenden Golf-Kartells von Juárez verstanden wurde. Posthum belegte dieser
Corrido in der Hitparade für Lateinamerikaner in den USA am 3.3.2007 die ersten beiden Plätze.
Das hierzulande wohl bekannteste mexikanische Volkslied dürfte „La Cucaracha” (Die Küchenschabe)
sein. Das ist eine Ballade, ein „Corrido”, aus der Zeit der Revolution von 1910—1920. Der Corrido entstand im
frühen 19.Jahrhundert und diente, angesichts des Fehlens von Radio, Fernsehen und Zeitungen, der Information der
Bevölkerung über aktuelle Ereignisse. Nur die Wenigsten konnten damals lesen und schreiben. „La Cucaracha”
ist einer der vielen Corridos der damaligen Zeit, die die Revolutionsereignisse zum Thema hat, die mit den Namen Emilio Zapata und
Pancho Villa verbundenen sind.
Ab den 70er Jahren verbreitete sich rasant ein neues Genre von
Corridos, das unter der Bezeichnung „Narcocorridos” zusammengefasst wird. In ihnen geht es um alles, was mit Drogen zu
tun hat. Ihr Boom begann mit dem von Angel Gonzales komponierten Corrido „Contrabando y Traición”
("Schmuggel und Verrat"), der 1972 von „Los Tigres Del Norte” aufgenommen wurde. Die Gruppe Los Tigres hat
über 50 Alben veröffentlicht und ist in einem Dutzend Filme aufgetreten. Ihre Alben verkaufen sich zu Millionen, und zu ihren
Konzerten können gut über 100000 schreiende Fans auflaufen.
Andere berühmte Namen von Komponisten und Bands sind
„El As de la Sierra” aus Sinaloa, Pedro Rivera und weitere Mitglieder seiner Familie aus Los Angeles, Los Tucanes de
Tijuana oder der Komponist Paulino Vargas.
Der Corrido ist neben dem Salsa einer der populärsten
lateinamerikanischen Musikstile in den USA, wo Mexikaner das Gros der lateinamerikanischen Bevölkerung stellen. Ein
Großteil dieser Corridos sind heute „Narcocorridos”
Musikalisch folgen sie überwiegend traditionellen Stilen der Volksmusik. Die Narcocorridos aus Mexikos Hauptdrogenprovinz
Sinaloa an der Westküste werden meist von „Bandas” gespielt, von Bands mit Akkordeon und Bläsern,
während die von der texanischen Grenze, wo der Corrido vermutlich entstanden ist, eher als auf Saiteninstrumenten gespielt werden
und ohne Bläser auskommen. Akkordeon, Polka oder Walzerrhythmus verdankt die regionale Folklore auf beiden Seiten der Grenze
vor allem deutschen Einwanderern. Die Moderne dringt in Form von Schlagzeugen, E-Bässen und Saxofonen und natürlich
Texten in das Genre ein. Hin und wieder fließt — gerade bei mexikanischen Bands aus den USA — auch etwas Rap und
HipHop ein. Die Verbindung zum Rap besteht in erster Linie im Inhalt — in den USA zwang der Rap der Popmusik die harte
Realität der großstädtischen Straße auf.
Die Narcocorridos sind, auch wenn sie von der Musikindustrie verbreitet
werden, authentische Volksmusik. Sie spiegeln eine Kultur wider, in der Gesetzlosigkeit und Gewalt als einer der wenigen Wege akzeptiert
werden, die den Armen offen stehen, um ihrem Elend zu entkommen. Brutalste Gewalt, nicht nur strukturell, sondern ganz
unverblümt von der herrschenden Klasse ausgehend, durchdringt seit jeher die mexikanische Gesellschaft. Schon in der
mexikanischen Revolution entzogen sich, gerade im Norden des Landes, viele der Schuldknechtschaft durch Flucht, um von Schmuggel
und Raub (besser) zu leben. Auch Pancho Villas Revolutionsarmee bestand zu einem erheblichen Teil aus Geächteten und
Banditen. Die Grenze zwischen ihnen und Sozialrebellen war oft fließend.
Der Höhunkt des Narcocorrido-Booms lag in den 90er Jahren,
trotz aller Versuche staatlicherseits, den Stil für illegal zu erklären. Die meisten Komponisten und Musiker haben stets auch
andere Themen behandelt, bis hin zu Herz und Schmerz. Gerade die Gruppe „Los Tigres del Norte” hat auch viele
gemäßigt sozialkritische Lieder über Korruption oder über die mehr als 300 Morde an jungen Arbeiterinnen in den
Maquiladoras von Ciudad Juárez aufgenommen.
Populär sind Narcocorridos unter den Musikern auch deshalb,
weil sie Geld einbringen. Ein normaler Auftritt bei einem Fest bringt 1000 Dollar, ein Corrido über einen Drogenboss 4000. Leider, so
Julio Preciado, einer der berühmtesten Banda-Sänger Mexikos, nimmt die Gewalttätigkeit allmählich
überhand. Er kritisiere zwar nicht die Kollegen, die auch wegen des Geldes als Chronisten der Drogenszene arbeiteten, denn nicht
der Bote sei der Schuldige. Er aber werde in Zukunft vor allem Liebeslieder singen, „aus Respekt vor meiner Familie”
Die anfangs erwähnte Mordserie könnte diesen Trend
verstärken, aber die Corridistas würden ihrer traditionellen Berufung nicht genügen, wenn sie hinfort in einer
Gesellschaft, die von auswegloser Massenarmut gekennzeichnet ist, jenen anderen Teil der „Volkskultur” — den
durch Drogengeschäfte generierten Reichtum und das damit einhergehende Ansehen — ignorierten.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |