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Am 6.Dezember erschoss der Polizist Epaminondas Korkoneas den 15-jährigen Schüler Alexis Grigoropoulos und löste damit eine wochenlange Welle von Aufständen und Protesten unter der Jugend aus. Die Polizeikugel zerfetzte auch das Image des „modernen Hellas”
Der Todesschütze Korkoneas, Beamter einer Sondereinheit, ließ nach seiner Tat eine
schriftliche Erklärung verbreiten, in der er dem Opfer Alexis Grigoropoulos ein sozial
auffälliges Verhalten unterstellte und behauptete, dieser sei von der Schule verwiesen
worden. Ein Wort des Bedauerns fand Korkoneas nicht.
Nichts von seinen Behauptungen
trifft freilich zu: Grigoropoulos war nur zufällig mit einem Freund am Tatort, er hatte
keine Beziehungen zu politischen Gruppen, schon gar nicht zu anarchistischen.
Warum der Todesschütze
überhaupt seine Waffe gezogen hat, um — nach eigenen Angaben — drei
Warnschüsse abzugeben, ist bisher ungeklärt. Ebenso ist unklar, wie ein Warnschuss
in die Luft zu einem Querschläger werden kann. Jede der gut zwanzig Zeugenaussagen von
Anwohnern und von Nikos R., der Grigoropoulos begleitet hat, sagt aus, Korkoneas habe den
Schüler aus 20 Metern Entfernung niedergeschossen. Das Video, das ein Anwohner
aufgenommen hat, zeigt, wie die beiden Polizisten nach den Schüssen in aller Ruhe zu
ihrem Dienstwagen zurückgehen. Auf eine unübersichtliche Situation, gar auf eine der
vermeintlichen Notwehr, gibt es keinerlei Hinweise.
Der Proteststurm, den
Korkoneas Erklärung auslöste, lässt sich in der Aussage zusammenfassen,
nun sei Alexis Grigoropoulos zum zweiten Mal erschossen worden. Die „dreiste” und
„provokative” Stellungnahme des Polizisten (so die linksliberale Tageszeitung To
Ethnos) hätte jedoch nicht treffender zum Ausdruck bringen können, mit welcher
Ignoranz und Realitätsverweigerung Regierung und Behörden auf die gesellschaftlichen
Verwerfungen des heutigen Griechenland reagieren: Wer sich nicht konform verhält, und sei
es nur durch den Aufenthalt im „falschen” Stadtteil, offenbart ein abnormes
Verhalten, ist ein potenzieller Chaot und Staatsfeind. Gegen ihn muss die Staatsmacht mit
aller Härte vorgehen, um die Normalität zu sichern.
Die Forderung nach
Normalität war freilich immer fragwürdig, mittlerweile sind jedoch die
gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, längst Geschichte. Den
Jugendlichen von heute ist die Möglichkeit, sich durch Bildung einen Platz in der
Gesellschaft zu erobern, längst genommen worden. Die Mehrheit der griechischen
Schülerinnen und Schüler steckt in einer Tretmühle zwischen Schule und privatem
Nachhilfeunterricht, für die manche Eltern bis zu 500 Euro im Monat aufbringen. Dass sich
viele Eltern für die Ausbildung ihrer Kinder verschulden, ebnet diesen jedoch immer
weniger den Weg in eine auskömmliche Zukunft. Selbst wer die Universität, die im
Rahmen des Bologna-Prozesses immer stärker verschult wird, durchläuft, findet
oftmals nur Aushilfsjobs.
Mittlerweile kursiert der
Begriff der „700-Euro-Generation” Es ist deshalb auch nicht ein veraltetes
Bildungssystem, das Schüler und Studierende auf die Barrikaden treibt, wie Christiane
Schlötzer in der Süddeutschen Zeitung mutmaßt, sondern im Gegenteil dessen
zunehmende „Modernisierung” unter den europäischen Maßgaben.
Diese Entwicklung ist in ihrer
Grundstruktur keineswegs spezifisch griechisch; das Phänomen der Prekarisierung ist ein
Kennzeichen des globalen Kapitalismus. Die strukturelle Arbeitslosigkeit ist die Knute, mit
der überall die Rechte der lohnabhängigen Mehrheit der Bevölkerung demontiert
werden und systemkonformes Verhalten erzwungen wird. Dies ist ein Grund dafür, warum die
Aufstände in Griechenland weltweit Besorgnis in den Oberschichten ausgelöst haben.
Denn obwohl sich die Weltökonomie erst am Beginn einer langen Depression befindet, ist
die soziale Krise längst da. Es ist nicht der „griechische Sonderweg”, der
sich in der Revolte zeigt. Vielmehr handelt es sich bei der Rebellion um einen Ausdruck der
griechischen Form der neoliberalen „Modernisierung”
Die Heftigkeit, mit der die griechischen Jugendlichen auf den Tod von Alexis Grigoropoulos
reagiert haben, speist sich aus spezifisch griechischen Traditionen. Der dem
umgangssprachlichen deutschen „Bulle” entsprechende griechische Ausdruck
„Batsos” bedeutet soviel wie „Schläger” Die türkische Wurzel
des Wortes verweist nicht nur auf die jahrhundertealte Erfahrung der Fremdherrschaft, sondern
auch auf den Klassencharakter des Staates: Es sind die Schläger einer Obrigkeit, die
keine Legitimität beanspruchen kann, sondern die Privilegien einer schmalen Oberschicht
gegen die Mehrheit der Bevölkerung sichern muss. Willkürliche Gewalt staatlicher
Organe hat in Griechenland eine lange Tradition.
Das autoritäre
Nachkriegsregime fußte auf dem Terror der faschistischen Sicherheitsbataillone (Tagmata
Asfalias) gegen die Linke, die im Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 aufgrund der britischen-
amerikanischen Intervention eine traumatische Niederlage erlitten hatte. Der Versuch einer
Demokratisierung des Nachkriegsregimes auf parlamentarischem Wege in den 60er Jahren
scheiterte am Putsch der Obristen, die sich der Rückendeckung durch die USA und
Westeuropa sicher sein konnten. Die linksliberale Zentrumsunion hatte ihre Wahlerfolge auf die
außerparlamentarischen Kämpfen der sog. Iouliana 1965 gegründet, die ebenso wie
jede andere demokratisch-soziale Bewegung gnadenlos von der Polizei verfolgt wurde. Vassilis
Vassilikos hat in seinem von Costa-Gavras verfilmten Roman Z über die Ermordung des
linken Parlamentsabgeordneten Grigoris Lambrakis den Geist jener Jahre treffend eingefangen.
Die Junta der Obristen von
1967 bis 1974 stellt eine der dunkelsten Perioden der neueren griechischen Geschichte dar. Das
Regime konnte sich nur durch exzessiven Polizeiterror gegen alle innenpolitischen Gegner
behaupten. Ein Großteil der griechischen Kultur fiel der Zensur zum Opfer und wurde durch
Marschmusik und einen dumpfen Antikommunismus ersetzt, der sich gegen jegliche soziale oder
politische Abweichung richtete.
Das Ende der Diktatur
läutete der Aufstand der Studenten an der Polytechnischen Hochschule ein, der schnell auf
die gesamte Hauptstadt übergriff und von den Obristen mit Panzern blutig niedergeschlagen
wurde. Zur Erinnerung an dieses Ereignis ziehen jedes Jahr am 17.November Tausende von
Menschen von der Polytechnischen Hochschule zur US-Botschaft. Es ist auch ein Erbe dieser
Erfahrungen, dass die Polizei bis heute das Universitätsgelände außer bei
unmittelbarer Verfolgung von schweren Straftaten nicht betreten darf.
Dieses universitäre Asyl war insbesondere in den letzten Jahren wieder hart
umkämpft, wurde es doch bei Demonstrationen dazu genutzt, vor der Polizei Zuflucht zu
suchen. Doch solange die Erfahrungen mit der Junta tief im kollektiven Gedächtnis
verankert sind, wird es kaum eine Abschaffung dieses Rechts geben. Die Ohnmacht, mit der die
Regierung auf die Unruhen nach dem 5.Dezember reagierte, war der Unmöglichkeit
geschuldet, die Revolte ohne Blutvergießen zu unterdrücken. Eine offensive
Repression hätte die Unruhen weiter eskaliert und den unmittelbaren Zerfall des
politischen Systems eingeleitet.
Keine griechische Regierung
hätte den exzessiven Einsatz der Sondereinheiten der Polizei (der MAT) oder gar der Armee
gegen die eigene Bevölkerung riskieren können, ohne ihr eigenes Ende und eine
Systemkrise heraufzubeschwören. Dennoch kam es zu einem selten dagewesenen
Polizeieinsatz. In den Tagen nach dem Todesschuss wurden vier Tonnen Tränengas und
Blendgranaten gegen die revoltierende Jugend eingesetzt.
Die in bundesdeutschen Medien
vertretene These, die griechische Polizei hätte den „Anarchisten” nur
konsequent entgegentreten müssen, um die Revolte zu verhindern, ist daher abwegig.
Generell ist diese These ohnehin falsch, von einer nachgiebigen Polizei kann in Griechenland
keine Rede sein. Das Gegenteil ist der Fall. In den letzten Jahren hat es eine ganze Reihe von
Toten durch die immer hemmungsloser operierende Polizei gegeben.
Äußerst militante
Zusammenstöße zwischen der MAT und protestierenden Arbeitern, Schülern,
Studenten oder Bauern gehören mittlerweile wieder zur politischen Kultur Griechenlands.
Einheiten der MAT sind 1995 sogar einmal gegen protestierende Rentner mit Schlagstöcken
vorgegangen. Der damalige Innenminister Papathemelis rechtfertigte das Vorgehen seinerzeit mit
der grotesken Behauptung, die Rentner hätten eine Polizeikette durchbrechen wollen, und
machte sich damit zum Gespött der Öffentlichkeit.
Unter dem Eindruck der Revolte
verurteilen nun auch Teile des Establishments wie der Senat der Panteion-Universität die
„Willkür der Polizeiorgane” und fordern eine „Demokratisierung der
staatlichen Institutionen” und eine „gesellschaftliche Kontrolle” der
Polizei.
Die Berichterstattung im Großteil der bundesdeutschen Medien kennzeichnete im
Wesentlichen desinteressierte Fehlinformation. Nirgendwo tauchte die Frage auf, warum es diese
große Wut auf die Polizei gibt. Allein der zahlenmäßige Umfang der
Protestierenden und die Heftigkeit der spontanen Proteste selbst in Provinzstädten wie
Ioannina, Mytilini oder Kosani hätte nahegelegt, die Urheber der Revolte nicht nur unter
Anarchisten zu suchen.
Es waren zuerst Jugendliche
auf Korfu, die eine Polizeiwache attackierten, und in Athen versammelten sich protestierende
Schüler auch in zentrumsfernen Stadtteilen vor Polizeiwachen, auch dort kam es zu
Ausschreitungen. Da wurde der an die Polytechnische Hochschule grenzende Stadtteil Exarchia
als rechtsfreie Zone bezeichnet, während in der griechische Presse von einem
„kathestos stratokratias” (wörtlich: Regime Militärherrschaft) die Rede
ist.
Seit längerem fordert
eine lokale Bürgerinitiative den Abzug der Sondereinheiten der Polizei, weil diese
für die ständige Unruhe im Stadtteil verantwortlich gemacht wird. Die Regierung
Karamanlis hat polizeilicher Willkür bis hin zum Einsatz von Schusswaffen bedenkenlos
Tür und Tor geöffnet, sodass Elevtherotypia,die wichtigste linksliberale
Tageszeitung, in Bezug auf die tödliche Polizeikugel von einem „statistisch zu
erwartenden Ereignis” sprach. Die These von einer schlecht ausgebildeten Polizei ist
daher mehr als schief; vielmehr ist die Polizei durchaus „professionell” der Logik
der Eskalation der Regierung gefolgt.
Medienvertreter und Politiker
haben versucht, aus dem Polizeiopfer einen Anarchisten zu machen; der Umstand, dass Alexis
Grigoropoulos Mutter ein Juweliergeschäft hat und vom Vater getrennt lebt, wurde
herangezogen, der Revolte ihren sozialen Charakter abzusprechen und die
„Anarchisten” zu einem Phänomen überdrüssiger Kinder aus
Mittelschichtfamilien umzudeuten. Schon Mitte der 90er Jahre kursierten derartige Thesen.
Ironisierend unterschrieb eine
anarchistische Gruppe ihre Flugzettel daher mit „Kinder aus kaputten Familien” Nun
sind alle Versuche, die gesellschaftlichen Widersprüche zuzudecken, gescheitert: Es sind
keine Migrantenkinder wie in Frankreich oder fehlgeleitete subkulturelle Minderheiten, sondern
ganz normale Jugendliche aus der Arbeiter- und Mittelschicht, die dagegen rebellieren, dass
man ihnen die Zukunft raubt.
"Die ersten Toten,
Dünger der Freiheit” — diese Zeile aus einem von Mikis Theodorakis vertonten
Gedicht von Alekos Panagoulis klingt beim ersten Hören brutal, reflektiert aber eine
griechische Erfahrung — und bewahrt die Hoffnung, dass die Toten nicht umsonst gestorben
sind.
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