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Israel ist entschlossen, jede eigenständige
palästinensische Führung zu zerstören. Sein Ziel ist, jeder nicht
willfährigen palästinensischen Führung die Ausübung der politischen Macht
zu verunmöglichen.
Was ist der Grund für den Krieg gegen Gaza und warum ist er jetzt
ausgebrochen?
Wie gewöhnlich in solchen Situationen gibt es mehr als einen Grund. Als erstes sind
da die kommenden Wahlen in Israel — die Koalitionsparteien Kadima und Arbeitspartei
konkurrieren mit dem Likud, der von Binyamin Netanyahu geführten größten
Oppositionspartei. Aber dies ist wirklich der oberflächlichste Grund. Die Weihnachtszeit
war für Israel ein günstiger Zeitpunkt, weil die Weltöffentlichkeit, vor allem
im Westen, abgelenkt ist. Und dann ist da noch der Übergang der US-
Präsidentschaft.Zentral ist etwas anderes: Alle großen israelischen Parteien sind
sich darin einig, dass die Palästinenser überall dort von ihren Territorien zu
entfernen sind, wo sie in konzentrierter Form auftreten. Das langfristige Ziel ist also eine
ethnische Säuberung. Ein Zwischenschritt zu diesem Ziel ist mittelfristig, die
Palästinenser in nicht miteinander verbundene Ghettos aufzusplittern. Das schlimmste
dieser Ghettos ist der Gazastreifen — er wurde als das der Welt größte
Gefängnis unter freiem Himmel bezeichnet. Dort leben anderthalb Millionen Menschen mit
einer sehr schwachen ökonomischen Infrastruktur. Was sich dort regt, ist
regelmäßig Zielscheibe israelischer Militäraktionen; Israel kontrolliert und
blockiert oft jeden Zugang zu diesem Gebiet. Für die Palästinenser ist es die
Hölle.
Es ist wichtig, daran zu
erinnern, dass Israel in alledem von Ägypten unterstützt wird. Der Gazastreifen hat
eine gemeinsame Grenze mit Ägypten — die ist geschlossen und wird von
ägyptischem Militär stark bewacht.
Kurz- oder mittelfristig ist
Israel entschlossen, jede palästinensische Führung zu zerstören. Dafür
haben die Israelis zwei Methoden: Sie wenden massive militärische Gewalt an, um die
Palästinenser physisch zu vernichten; und sie akzeptieren eine palästinensische
Führung nur, wenn sie so eingeschüchtert ist, dass sie wie die Führung der
Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) aus Quislingen besteht, die vor Israel und
den USA kapituliert haben. Auf diese Art und Weise wird eine politische Führung moralisch
zerstört.
Dasselbe versuchen die Israelis jetzt mit Hamas. Der leichteste Weg, die Führung der
Palästinenser zu zerstören, ist die Anwendung physischer Gewalt. Natürlich
können die Israelis nicht darauf hoffen, Hamas als Bewegung loszuwerden. Sie können
letztlich Hamas nicht besiegen, aber sie können es Hamas erschweren, wenn nicht gar
unmöglich machen, die politische Macht in Gaza auszuüben.
Ihre militärischen
Attacken zielen deshalb besonders auf die einfachen Instrumente der politischen
Machtausübung, die Hamas zur Verfügung stehen. Hamas ist eine Art Quasistaat in
Gaza. Die erste Militäraktion der Israelis bestand deshalb darin, mit einer einzigen
Bombe 40 Polizisten bewusst zu töten — nach dem Völkerrecht sind das
Zivilisten. Dann zielten sie auf mehrere politisch wichtige Gebäude:
Verwaltungsgebäude, Schulen, die Universität, Moscheen.
Die Moscheen sind besonders
bedeutend. Hamas ist eine politisch-religiöse Bewegung. Sie organisiert ihre Massenbasis
über die Moscheen. Israel redete sich damit heraus, in den Moscheen würden Waffen
gelagert. Ich glaube, das ist ein Märchen. Die politische Bedeutung der Moschee liegt
woanders. Dort organisiert Hamas ihre Massenbasis, deshalb hat Israel die Moscheen zur
Zielscheibe genommen. Dasselbe gilt für die Schulen und die islamische Universität.
Mit den Angriffen auf diese Einrichtungen soll es Hamas unmöglich gemacht werden, die
politische Macht auszuüben — es sei denn, Hamas kapituliert und verpflichtet sich,
Israel gute Dienste zu leisten.
Die PA in Ramallah hat genau
diesen Prozess durchgemacht. Die Israelis wandten erst massiven Zwang gegen sie an. Die PA
kapitulierte, aber für die Israelis ging sie nicht weit genug; Arafat widerstand dem
letzten Schritt der Kapitulation. Dann ermordeten sie ihn — das ist mittlerweile
weitgehend als Tatsache akzeptiert, obwohl unmittelbare Beweise fehlen.
Israels Plan besteht also
darin, es einer nicht willfährigen palästinensischen Führung unmöglich zu
machen, irgendeine Macht auszuüben.
Natürlich macht es für die Israelis keinen Unterschied, dass Hamas durch
Wahlen an die Macht kam?
Genau. Die Wahlen fanden vor drei Jahren auf dem gesamten Palästinensergebiet statt
und waren laut allen Beobachtern gesetzeskonform und fair verlaufen. Hamas siegte. Dann gab es
im Juni 2007 einen Komplott, um Hamas zu stürzen. Die PA akzeptierte das Wahlergebnis und
den demokratischen Sieg von Hamas nicht und plante einen Putsch in Gaza, der Hauptbasis von
Hamas. Hamas entdeckte den Plan und kam ihm durch einen Gegenputsch zuvor. Deshalb gibt es
heute zwei palästinensische Gebiete, die von zwei verschiedenen Regierungen kontrolliert
werden. Die Leute vergessen das. Es gibt die Tendenz, von Hamas als einer Art illegitimen
Macht, einem diktatorischen Regime zu sprechen. Aber was man auch immer von der Politik von
Hamas halten mag, das ist nicht wahr.
Genau deshalb muss Hamas eine enge Beziehung zu ihrer Massenbasis unterhalten. Die
Raketenangriffe sind vermutlich eine Geste gegenüber dieser Massenbasis — um
Widerstand gegen Israel zu zeigen, auch wenn dieser weitgehend ineffektiv und symbolisch
ist.
Ehrlich gesagt, hat Hamas kaum militärische Optionen. Sie ist auch strategisch recht
ungeschickt. Die Raketen sind moralisch schwer zu verteidigen, weil sie unterschiedslos
treffen; sie stellen somit ein Spiegelbild von Israels Taktik der kollektiven Bestrafung dar,
wenngleich in weitaus geringerem Ausmaß.
Aber sie verschaffen Israel
einen großen Propagandavorteil. Der Welt wird vorgemacht, die Raketen seien irgendwie das
militärische Äquivalent zu Israels Bombardierungen. Das ist lächerlich; das ist
eine Differenz von fünf Größenordnungen. Das zeigt ein einfacher Blick auf die
Zahl der Opfer.
Was für eine Strategie
verfolgt Hamas? Welchen politischen Vorteil erreicht sie? Im Wesentlichen sind ihre Raketen
Ausdruck von Frustration und Verzweiflung. Hamas hat nur wenige Optionen. Sie ist von
israelischem Militär umzingelt. Sie ist auch stark von israelischen Agenten infiltriert.
Im Vergleich zu den verzweifelt armen Palästinensern und ihren politischen Organisationen
verfügt Israel über enormen Ressourcen. Es kann großen Druck auf Menschen
ausüben, damit sie kollaborieren.
Es ist auch wichtig, noch
einmal die Abfolge der Ereignisse in Erinnerung zu rufen, um die realen Machtverhältnisse
zu verstehen. Nicht Hamas hat nach sechs Monaten den Waffenstillstand gebrochen, sondern
Israel, und zwar wiederum zu einem günstigen Zeitpunkt, als die Aufmerksamkeit der Welt
auf etwas anderes gerichtet war, nämlich am 4./5.November auf die US-Wahlen. An diesem
Tag drangen israelische Soldaten in den Gazastreifen und töteten eine Gruppe von Hamas-
Aktivisten, die dabei waren, einen Tunnel zu graben; sie hätten den Tunnel für
Angriffe in Israel nutzen können. Außerdem hatte Israel während der
sechsmonatigen Feuerpause die Belagerung nicht gelockert und die Blockade fortgesetzt, was an
sich schon eine Kriegshandlung ist. Somit hatte Hamas keine große Veranlassung, eine
Feuerpause fortzusetzen, die sehr einseitig war.
Die israelischen Behörden
wussten, dass Hamas das einzige tun würde, wozu sie in der Lage war, nämlich einige
Raketen abzufeuern. Israel hat sich schon vor sechs Monaten auf die jetzige Invasion
vorbereitet, seit Beginn des Waffenstillstands. Israels Krieg gegen Gaza ist keine Reaktion
auf Provokationen der Hamas, sondern war sorgfältig organisiert und geplant.
Du sagst, die israelische Armee hatte Gaza umzingelt, und Hamas hat die Raketen mehr
aus Verzweiflung abgeschossen. Offensichtlich hat sich die Situation mit der Invasion
geändert. Ist es möglich, dass Israel sich festbeißt und sich eine blutige Nase
holt — ähnlich wie im Libanon 2006?
Im Libanon wurde Israel in gewisser Hinsicht besiegt, seine Armee kam sehr schlecht weg.
Ein solcher Ausgang ist in Gaza überhaupt nicht wahrscheinlich. Die Bedingungen dort
waren jedoch ganz andere. Der günstigste Ausgang, auf den wir hoffen können, ist,
dass Israel sein Ziel, jede Form des palästinensischen Widerstands zunichte zu machen,
nicht erreicht.
Hat die Popularität von Hamas zugenommen?
Ja, alle Berichte bestätigen das, und das steht in direktem Widerspruch zu dem, wie
sich die Israelis den Prozess vorgestellt haben. Sie haben diese Taktik viele Male angewandt
und stets ist sie gescheitert. Sie glauben, wenn man der Zivilbevölkerung das Leben
unerträglich macht, machen diese ihre eigenen Führer dafür verantwortlich und
werden sie stürzen. Sie haben das im Libanon gegenüber verschiedenen schiitischen
Organisationen, einschließlich der Hizbollah, versucht. Sie versuchten es in den
besetzten Palästinensergebieten. Sie sind jedesmal gescheitert. Die Menschen sind nicht
so dumm.
Die PA ist gewiss
diskreditiert — aber wegen ihrer Haltung gegenüber Israel und den USA, den Wurzeln
des Elends der Menschen. Der gesamte bewaffnete Flügel der PA, die verschiedenen Milizen
und Polizeieinheiten — sie alle werden von der CIA kontrolliert. Politisch hat die PA
derart kapituliert — und fast nichts dafür bekommen —, dass die Leute eine
unglaubliche Verachtung für sie hegen. Und diese Verachtung hegt auch Israel, weil es so
billig war, diese Organisation zu kaufen.
Das einzige, was zugestanden
wurde, sind einige erbärmliche Privilegien für die Spitzenfunktionäre der PA.
Sie haben die Sondererlaubnis, auf Wegen zu reisen, die sonst nur Israelis vorbehalten sind.
Sie haben einige ökonomische Vorteile, aber politisch haben ihnen die Israelis nichts
gegeben.
Wo bleibt die Linke?
In Gaza gibt es einige Gruppen, aber sie werden kaum offen aktiv sein. Sie arbeiten
gewissermaßen im Untergrund. In Israel, worüber ich mehr weiß, hat es einige
große Antikriegsdemonstrationen gegeben. In Tel Aviv sollen es am 3.Januar 10000
Demonstranten gewesen sein, in den palästinensischen Städten innerhalb Israels gab
es sogar noch größere Demos, hauptsächlich von Palästinensern, aber auch
von einigen israelischen Juden, die sich ihnen anschlossen. Die überwältigende
Mehrheit der israelischen Bevölkerung unterstützt die Regierung. Aber es ist
ermutigend, dass es eine gewisse Opposition gibt.
Das Schweigen der Führungen der arabischen Staaten war ohrenbetäubend. Wird
es diese Staaten destabilisieren?
Die Hauptverbrecher waren die politisch Verantwortlichen Ägyptens. Sie haben nicht
nur geschwiegen: sie waren aktive Komplizen bei der Belagerung Gazas. Ich hoffe, dass sich die
USA verrechnen. Die Existenz einiger dieser Regime ist bedroht. Es wäre idiotisch, in
Ägypten keine Umwälzung zu erwarten. Die Arbeiterklasse hat eine Menge Gründe
zur Unruhe, und wir haben hier 2008 einige gewaltige Demonstrationen erlebt. Die
Palästinafrage hat dabei immer eine Rolle gespielt. Sie ist für die Arbeiterklasse
ein zusätzlicher Anklagepunkt gegen die Regierung. Wenn ich mir die Region anschaue, so
glaube ich: Kein arabisches Regime ist vollständig sicher.
Darin liegt sicher die Lösung. Wenn wir die Dynamik der Beziehung zwischen Israel
und Gaza oder der Westbank von der Gemengelage in der ganzen Region abkoppeln, gibt es keine
Hoffnung.
Ja, absolut. Ich glaube, dass ist der Grund, warum alle Debatten über einen Staat
oder zwei Staaten nutzlos sind, solange sie die Verhältnisse in der Region ignorieren. Im
rein israelisch-palästinensischen Rahmen gibt es weder ein kurz-, noch eine langfristige
Lösung — das Kräfteverhältnis erlaubt sie einfach nicht. Die einzige
Chance liegt im Kontext einer tiefgreifenden sozialen Transformation der gesamten Region.
Diese kann sowohl das Zuckerbrot als auch die Peitsche sein, die die israelischen Massen davon
überzeugt, eine gerechte Lösung zu akzeptieren — und aktiv zu wollen.
Leider bedeutet dies, dass wir
uns kurzfristig auf defensive Aktionen beschränken müssen. Das bedeutet nicht, dass
wir nichts tun können, bevor die arabische sozialistische Revolution am Horizont
auftaucht. Wir können Solidarität mobilisieren, damit den Palästinensern nicht
das Schlimmste passiert. Und das Schlimmste ist die ethnische Säuberung — die droht
ständig. H
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