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Wir sind jetzt alle Keynesianer, soll Richard Nixon zu Beginn
der 70er Jahre gesagt haben. Am Ende des Jahrzehnts hatten sich dann fast alle, die in
Wissenschaft und Politik etwas zu sagen hatten, zu Milton Friedman und Joseph Schumpeter
bekannt. Zu Beginn der 90er Jahre waren endlich alle Neoliberale: Die Herrschenden aus
Überzeugung, ihre Gefolgschaft in der Hoffnung, der Markt werde ihnen das lästige
Denken und Streiten über politische Alternativen abnehmen, und viele Linke, weil sie auf
eine Alternative nicht mehr zu hoffen wagten. Bestenfalls waren sie noch moralische Gegner,
keinesfalls mehr historisch-materialistische Kritiker des Neoliberalismus.
Jüngst haben die
Herrschenden Keynes wiederentdeckt, und die neoliberale Gefolgschaft zerstreut sich wie eine
orientierungslose Meute. Dadurch verändern sich auch die Wirkungsbedingungen der Linken.
Forderungen nach öffentlichen Investitionsprogrammen werden nicht mehr nur von der
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, von der IG Metall und von Ver.di aufgestellt,
sondern von EU-Kommissionspräsident Barroso, vom französischen Präsidenten
Sarkozy, vom IWF und von der OECD. Merkel und Steinbrück befinden sich in der Minderheit
— nicht weil sie Konjunkturprogramme gänzlich ablehnten, sondern weil sie sich so
knauserig zeigen.
Damit verliert der linke
Keynesianismus sein Alleinstellungsmerkmal und steht vor der Frage, ob er seine über
makroökonomische Steuerung hinaus weisenden sozialen und ökologischen Ziele in einen
neuen keynesianischen Konsens einbringen kann, oder ob er diese Ziele aufgeben müsste, um
sich im neuen Mainstream zu behaupten. Die radikale Linke, die den Keynesianismus theoretisch
wegen seiner Fixierung auf Staat und Wirtschaftswachstum kritisiert hat, muss sich fragen
lassen, ob sie mit praktischen Alternativen in die gegenwärtige Neuausrichtung der
Wirtschaftspolitik eingreifen kann.
Die Wiederentdeckung
Keynes durch die bürgerlichen Klassen hat noch lange nicht zu einer neuen
Orthodoxie geführt. Sie zeugt vielmehr von deren Bemühen, sich jenseits des
Neoliberalismus Handlungsoptionen zur Minimierung ihrer Verluste, zur Ingangsetzung eines
neuen Akkumulationszyklus und zur ideologischen Neubegründung ihrer Herrschaft zu
erschließen.
Diese Versuche einer
Neuorientierung finden paradoxerweise in einer Zeit statt, in der linke Stimmen kaum
vernehmbar sind. Noch vor wenigen Jahren sind aus der Kritik am Neoliberalismus sowie der
neoliberalen Wende der Sozialdemokratie linke Protestbewegungen entstanden, die weit über
die eigenen Aktivistenzirkel hinaus Gehör fanden.
Davon ist wenig
übriggeblieben. Wer erwartet hätte, die Krise des neoliberalen Kapitalismus
würde Lafontaines Linker, Attac oder kleineren linken Gruppierungen Zulauf verschaffen,
sieht sich getäuscht. Verkehrte Welt: In den 70er Jahren gehörte es zum guten linken
Ton, von aktuellen Krisentendenzen auf eine Wiederkehr der Großen Depression der 30er
Jahre zu schließen. Hieran konnte der moralische Appell, durch keynesianisches
Gegensteuern diesem Menetekel zu entgehen, ebenso geknüpft werden wie die Hoffnung auf
spontane Massenkämpfe gegen die Verelendungstendenzen des Kapitalismus.
Nachdem weder das eine noch
das andere eintrat, hat sich die Linke mit historischen Vergleichen zurückgehalten.
Dafür stellen jetzt die Bürgerlichen ihre politisch-ideologischen
Neuorientierungsbemühungen in Bezug zu den 30er Jahren. Grund genug, die
gegenwärtigen Erfolgsaussichten keynesianischer Wirtschaftspolitik mit der Zeit der
Großen Depression zu vergleichen.
Staatliche Ausgabenprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft wurden in den 30er Jahren erst
aufgelegt, nachdem Jahre der Depression zu einer massiven Schuldendeflation (der Abschreibung
uneintreibbarer Kredite also) und zur vollständigen Vernichtung fiktiver
Vermögensbestände geführt hatte. Nachdem der finanzielle Überbau mit
seinen Optionen, Schuldtiteln und sonstigen papiernen Ansprüchen auf die künftigen
Früchte lebendiger Arbeit zusammengebrochen war, bedeutete privates Eigentum nichts
anderes als Besitz und Verfügung über Grund und Boden und gegebenenfalls darauf
installierter Produktionsmittel.
In seinem theoretischen
Hauptwerk, der 1936 erschienenen Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und
des Geldes, empfahl Keynes eine lockere Geldpolitik, die nur geringe Renditen auf
Finanzvermögen zulasse und daher zu einem „sanften Tod des Rentiers”
führen werde. Dadurch könne der industrielle Profit von den
„abgeleiteten” Einkommenssprüchen auf Finanzrenditen befreit werden.
Staatliche Ausgabenprogramme würden unter diesen Bedingungen nicht im finanziellen
Überbau versickern, sondern voll auf den Profit durchschlagen. Als Folge einer
politischen Initialzündung käme es daher zu einer privaten Investitionskonjunktur.
So schlüssig diese
Argumentation theoretisch ist, musste sie bei ihrem Erscheinen als ein einigermaßen
zynischer Kommentar auf das Schicksal einer Rentiersklasse verstanden werden, die ihr
Vermögen im Börsenkrach unsanft verloren, gleichzeitig ein stabilisierendes
Eingreifen seitens der Zentralbank abgelehnt hatte.
Das ist heute anders:
Reinigungskrisen, die den industriellen Profit von den Einkommensansprüchen finanzieller
Vermögen und von den Kosten von Überkapazitäten und technisch überholten
Anlagen entlasten, sind seit den 30er Jahren politisch eingedämmt worden, im
keynesianischen Nachkriegskapitalismus ebenso wie im nachfolgenden neoliberalen Kapitalismus.
Monetaristischer Rhetorik zum Trotz haben US-Zentralbank und privates Finanzsystem die
Weltwirtschaft spätestens seit Mitte der 80er Jahre mit billigem Geld versorgt.
Damit haben sie einerseits
Unternehmen Liquidität zur Verfügung gestellt, um auch längst ausgediente
Anlagen weiter zu betreiben. Andererseits haben sie zur Entstehung einer neuen Rentiersklasse
beigetragen. Anders als Keynes sich vorstellen konnte und als es im damaligen Finanzsystem
möglich gewesen wäre, hat eine Politik des billigen Geldes nicht zum Tod des
Rentiers infolge geringer Zinseinkünfte geführt, sondern zu dessen
Wiederauferstehung auf dem Boden von Finanzmärkten, die mit billigem Kredit aufgeblasen
wurden.
Um dieser Rentiersgeneration
den Krisentod ihrer Vorfahren zu ersparen — ökonomisch ausgedrückt: um eine
Schuldendeflation einzudämmen und den Zusammenbruch der Geldzirkulation zu verhindern
—, wurden jüngst alle Schleusen staatlicher Geldversorgung geöffnet. Das Geld
fließt, anders als staatliche Investitionsprogramme, nicht in den produktiven
Kapitalkreislauf, sondern in den finanziellen Überbau.
Dessen Fortbestand steht
jedoch der von Keynes vorgesehenen Steigerung des industriellen Profits nach dem mehr oder
weniger sanften Dahinscheiden der Rentiers im Wege. Darüber hinaus steht das zur
Subventionierung des privaten Finanzsystems ausgegebene Geld auch nicht für
öffentlich finanzierte Ausgabenprogramme zur Verfügung, mit denen Keynes den zum
Erliegen gekommenen Wirtschaftskreislauf wieder in Gang setzen wollte.
Es ist daher anzunehmen, dass
solche Programme, gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt, erstens kleiner ausfallen
werden und zweitens geringere Wachstumseffekte haben werden als am Ende der 30er Jahre.
Gegen allzu hohe Erwartungen an einen neuen Keynesianismus des Bürgertums spricht auch
der internationale Kontext. Auch wenn linke wie liberale Kritiker Keynesianismus oft mit einer
staatszentrierten und ausschließlich binnenwirtschaftlichen Theorie und Politik
identifizieren, war sich dessen Namensgeber der Bedeutung des Weltmarkts für den Erfolg
seiner geld- und fiskalpolitischen Vorstellungen sehr bewusst. In der Großen Depression
hatte ein Abwertungswettlauf zur Zerstörung des Weltmarkts geführt; die
Zerstörung vormals bestehender Wertschöpfungsketten verfestigte die
realwirtschaftliche Stagnation.
Um eine Wiederholung dieser
außenwirtschaftlichen Krisendynamik zu verhindern, empfahl er ein System fester
Wechselkurse, das Unternehmen Planungssicherheit bieten und sie dadurch zum Knüpfen
internationaler Geschäftsbeziehungen ermuntern würde.
Das 1943 ausgehandelte
Bretton-Woods-System entsprach zwar nicht ganz seinen Vorstellungen, trug aber dennoch
wesentlich zur Wiederherstellung des Weltmarkts in den Nachkriegsjahrzehnten bei.
Keynesianismus und Weltmarktintegration gingen unter Führung der USA Hand in Hand.
Das Bretton-Woods-System mit
seinen festen Wechselkursen und Kapitalverkehrskontrollen wurde ab den 70er Jahren von
flexiblen Wechselkursen und unkontrollierten Kapitalflüssen abgelöst. Beides trug
zur Aufblähung fiktiver Vermögenswerte bei, deren Kursverfall die gegenwärtige
Krise ausgelöst hat.
Zudem haben die USA ihre
Führungsrolle verloren. Aufgrund ihrer Größe haben wirtschaftliche und
politische Entwicklungen in den USA zwar immer noch entscheidende Auswirkungen auf
Weltwirtschaft und -politik. Sie sind aber nicht mehr in der Lage — die festgefahrenen
Doha-Verhandlungen der WTO zeugen davon —, ein außenwirtschaftliches Regime
durchzusetzen, von dem sich zumindest die herrschenden Klassen dieser Welt gleichermaßen
Vorteile erhoffen können.
Ohne internationale
Führungsmacht oder entsprechende Kooperation könnte ein neuer Keynesianismus, selbst
wenn dies nicht beabsichtigt ist, zu einer Vernachlässigung außenwirtschaftlicher
Beziehungen führen, in deren Folge der ohnedies fragile Weltmarkt zerbrechen könnte.
Hierdurch würden in viel größerem Umfang als in den 30er Jahren Geldzirkulation
und Wertschöpfungsketten negativ betroffen und die aktuelle Krise weiter verschärft.
Ob der Keynesianismus wieder
zum Leitbild der Wirtschaftspolitik wird, ist deshalb nicht nur eine technokratische Frage
geld- und finanzpolitischer Nachfragesteuerung, es ist auch mehr als eine Frage
internationaler Wirtschaftsdiplomatie. Entscheidend ist, ob es gelingt, zwischen den
verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie einen Konsens herzustellen, und den subalternen
Klassen die jeweils verfolgte Politik als Allgemeininteresse zu präsentieren.
Keynes hat sich zu diesen
klassenpolitischen Grundlagen der Wirtschaftspolitik sehr zurückhaltend
geäußert. Da seine politischen Vorstellungen in Richtung Klassenversöhnung
gingen, wollte er wohl kein ideologisches Öl ins Feuer des Klassenkampfes gießen.
Zudem hatte er als Wirtschaftsdiplomat gelernt, sich nicht zu Fragen internationaler
Großmachtkonkurrenz zu äußern.
Dennoch besteht kein Zweifel,
dass die Eindämmung der Sowjetunion und die Integration der Arbeiterklasse ebenso
unverzichtbare Bausteine des US-Imperiums seit dem Zweiten Weltkrieg waren wie Keynesianismus
und Weltmarktintegration.
Nach dem Zusammenbruch des
Sowjetimperiums ist es jedoch schwierig geworden, eine äußere Bedrohung zur
Durchsetzung innerer Gefolgschaft heranzuziehen. Mangels Herausforderung durch die
Systemkonkurrenz oder die Arbeiterbewegung gibt es für die herrschenden Klassen gar
keinen politischen Grund, den Keynesianismus als Projekt der Klassenversöhnung
wiederzubeleben.
Allerdings könnte der
linke Keynesianismus zu einer Wiederbelebung von Klassenauseinandersetzungen führen, wenn
er seine Forderungen nach öffentlichen Investitionen, ökologischem Umbau und
angemessen bezahlter Arbeit nicht mit einem technokratischen Appell an die
gesamtwirtschaftliche Vernunft begründet, sondern an der Herausbildung einer
Arbeiterbewegung mitwirkt, die solche Forderungen auch gegen den Widerstand der Herrschenden
durchsetzt.
Ohne Klassenkampf ist heute
nicht einmal mehr Keynesianismus zu haben. Eine ganz andere Frage ist, ob sich Teilerfolge,
beispielsweise die Ausweitung öffentlicher Beschäftigung, absichern lassen, ohne
über Keynes hinaus zu gehen. Die Ausarbeitung einer sozialistischen Wirtschaftspolitik
könnte der Linken jedenfalls nicht schaden.
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