SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2009, Seite 17

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Kehrt Keynes zurück?

von Ingo Schmidt

Wir sind jetzt alle Keynesianer, soll Richard Nixon zu Beginn der 70er Jahre gesagt haben. Am Ende des Jahrzehnts hatten sich dann fast alle, die in Wissenschaft und Politik etwas zu sagen hatten, zu Milton Friedman und Joseph Schumpeter bekannt. Zu Beginn der 90er Jahre waren endlich alle Neoliberale: Die Herrschenden aus Überzeugung, ihre Gefolgschaft in der Hoffnung, der Markt werde ihnen das lästige Denken und Streiten über politische Alternativen abnehmen, und viele Linke, weil sie auf eine Alternative nicht mehr zu hoffen wagten. Bestenfalls waren sie noch moralische Gegner, keinesfalls mehr historisch-materialistische Kritiker des Neoliberalismus.
Jüngst haben die Herrschenden Keynes wiederentdeckt, und die neoliberale Gefolgschaft zerstreut sich wie eine orientierungslose Meute. Dadurch verändern sich auch die Wirkungsbedingungen der Linken. Forderungen nach öffentlichen Investitionsprogrammen werden nicht mehr nur von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, von der IG Metall und von Ver.di aufgestellt, sondern von EU-Kommissionspräsident Barroso, vom französischen Präsidenten Sarkozy, vom IWF und von der OECD. Merkel und Steinbrück befinden sich in der Minderheit — nicht weil sie Konjunkturprogramme gänzlich ablehnten, sondern weil sie sich so knauserig zeigen.
Damit verliert der linke Keynesianismus sein Alleinstellungsmerkmal und steht vor der Frage, ob er seine über makroökonomische Steuerung hinaus weisenden sozialen und ökologischen Ziele in einen neuen keynesianischen Konsens einbringen kann, oder ob er diese Ziele aufgeben müsste, um sich im neuen Mainstream zu behaupten. Die radikale Linke, die den Keynesianismus theoretisch wegen seiner Fixierung auf Staat und Wirtschaftswachstum kritisiert hat, muss sich fragen lassen, ob sie mit praktischen Alternativen in die gegenwärtige Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik eingreifen kann.
Die Wiederentdeckung Keynes‘ durch die bürgerlichen Klassen hat noch lange nicht zu einer neuen Orthodoxie geführt. Sie zeugt vielmehr von deren Bemühen, sich jenseits des Neoliberalismus Handlungsoptionen zur Minimierung ihrer Verluste, zur Ingangsetzung eines neuen Akkumulationszyklus und zur ideologischen Neubegründung ihrer Herrschaft zu erschließen.
Diese Versuche einer Neuorientierung finden paradoxerweise in einer Zeit statt, in der linke Stimmen kaum vernehmbar sind. Noch vor wenigen Jahren sind aus der Kritik am Neoliberalismus sowie der neoliberalen Wende der Sozialdemokratie linke Protestbewegungen entstanden, die weit über die eigenen Aktivistenzirkel hinaus Gehör fanden.
Davon ist wenig übriggeblieben. Wer erwartet hätte, die Krise des neoliberalen Kapitalismus würde Lafontaines Linker, Attac oder kleineren linken Gruppierungen Zulauf verschaffen, sieht sich getäuscht. Verkehrte Welt: In den 70er Jahren gehörte es zum guten linken Ton, von aktuellen Krisentendenzen auf eine Wiederkehr der Großen Depression der 30er Jahre zu schließen. Hieran konnte der moralische Appell, durch keynesianisches Gegensteuern diesem Menetekel zu entgehen, ebenso geknüpft werden wie die Hoffnung auf spontane Massenkämpfe gegen die Verelendungstendenzen des Kapitalismus.
Nachdem weder das eine noch das andere eintrat, hat sich die Linke mit historischen Vergleichen zurückgehalten. Dafür stellen jetzt die Bürgerlichen ihre politisch-ideologischen Neuorientierungsbemühungen in Bezug zu den 30er Jahren. Grund genug, die gegenwärtigen Erfolgsaussichten keynesianischer Wirtschaftspolitik mit der Zeit der Großen Depression zu vergleichen.

Der Tod des Rentiers

Staatliche Ausgabenprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft wurden in den 30er Jahren erst aufgelegt, nachdem Jahre der Depression zu einer massiven Schuldendeflation (der Abschreibung uneintreibbarer Kredite also) und zur vollständigen Vernichtung fiktiver Vermögensbestände geführt hatte. Nachdem der finanzielle Überbau mit seinen Optionen, Schuldtiteln und sonstigen papiernen Ansprüchen auf die künftigen Früchte lebendiger Arbeit zusammengebrochen war, bedeutete privates Eigentum nichts anderes als Besitz und Verfügung über Grund und Boden und gegebenenfalls darauf installierter Produktionsmittel.
In seinem theoretischen Hauptwerk, der 1936 erschienenen Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, empfahl Keynes eine lockere Geldpolitik, die nur geringe Renditen auf Finanzvermögen zulasse und daher zu einem „sanften Tod des Rentiers” führen werde. Dadurch könne der industrielle Profit von den „abgeleiteten” Einkommenssprüchen auf Finanzrenditen befreit werden. Staatliche Ausgabenprogramme würden unter diesen Bedingungen nicht im finanziellen Überbau versickern, sondern voll auf den Profit durchschlagen. Als Folge einer politischen Initialzündung käme es daher zu einer privaten Investitionskonjunktur.
So schlüssig diese Argumentation theoretisch ist, musste sie bei ihrem Erscheinen als ein einigermaßen zynischer Kommentar auf das Schicksal einer Rentiersklasse verstanden werden, die ihr Vermögen im Börsenkrach unsanft verloren, gleichzeitig ein stabilisierendes Eingreifen seitens der Zentralbank abgelehnt hatte.
Das ist heute anders: Reinigungskrisen, die den industriellen Profit von den Einkommensansprüchen finanzieller Vermögen und von den Kosten von Überkapazitäten und technisch überholten Anlagen entlasten, sind seit den 30er Jahren politisch eingedämmt worden, im keynesianischen Nachkriegskapitalismus ebenso wie im nachfolgenden neoliberalen Kapitalismus. Monetaristischer Rhetorik zum Trotz haben US-Zentralbank und privates Finanzsystem die Weltwirtschaft spätestens seit Mitte der 80er Jahre mit billigem Geld versorgt.
Damit haben sie einerseits Unternehmen Liquidität zur Verfügung gestellt, um auch längst ausgediente Anlagen weiter zu betreiben. Andererseits haben sie zur Entstehung einer neuen Rentiersklasse beigetragen. Anders als Keynes sich vorstellen konnte und als es im damaligen Finanzsystem möglich gewesen wäre, hat eine Politik des billigen Geldes nicht zum Tod des Rentiers infolge geringer Zinseinkünfte geführt, sondern zu dessen Wiederauferstehung auf dem Boden von Finanzmärkten, die mit billigem Kredit aufgeblasen wurden.
Um dieser Rentiersgeneration den Krisentod ihrer Vorfahren zu ersparen — ökonomisch ausgedrückt: um eine Schuldendeflation einzudämmen und den Zusammenbruch der Geldzirkulation zu verhindern —, wurden jüngst alle Schleusen staatlicher Geldversorgung geöffnet. Das Geld fließt, anders als staatliche Investitionsprogramme, nicht in den produktiven Kapitalkreislauf, sondern in den finanziellen Überbau.
Dessen Fortbestand steht jedoch der von Keynes vorgesehenen Steigerung des industriellen Profits nach dem mehr oder weniger sanften Dahinscheiden der Rentiers im Wege. Darüber hinaus steht das zur Subventionierung des privaten Finanzsystems ausgegebene Geld auch nicht für öffentlich finanzierte Ausgabenprogramme zur Verfügung, mit denen Keynes den zum Erliegen gekommenen Wirtschaftskreislauf wieder in Gang setzen wollte.
Es ist daher anzunehmen, dass solche Programme, gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt, erstens kleiner ausfallen werden und zweitens geringere Wachstumseffekte haben werden als am Ende der 30er Jahre.

Wer hat die Führung?

Gegen allzu hohe Erwartungen an einen neuen Keynesianismus des Bürgertums spricht auch der internationale Kontext. Auch wenn linke wie liberale Kritiker Keynesianismus oft mit einer staatszentrierten und ausschließlich binnenwirtschaftlichen Theorie und Politik identifizieren, war sich dessen Namensgeber der Bedeutung des Weltmarkts für den Erfolg seiner geld- und fiskalpolitischen Vorstellungen sehr bewusst. In der Großen Depression hatte ein Abwertungswettlauf zur Zerstörung des Weltmarkts geführt; die Zerstörung vormals bestehender Wertschöpfungsketten verfestigte die realwirtschaftliche Stagnation.
Um eine Wiederholung dieser außenwirtschaftlichen Krisendynamik zu verhindern, empfahl er ein System fester Wechselkurse, das Unternehmen Planungssicherheit bieten und sie dadurch zum Knüpfen internationaler Geschäftsbeziehungen ermuntern würde.
Das 1943 ausgehandelte Bretton-Woods-System entsprach zwar nicht ganz seinen Vorstellungen, trug aber dennoch wesentlich zur Wiederherstellung des Weltmarkts in den Nachkriegsjahrzehnten bei. Keynesianismus und Weltmarktintegration gingen unter Führung der USA Hand in Hand.
Das Bretton-Woods-System mit seinen festen Wechselkursen und Kapitalverkehrskontrollen wurde ab den 70er Jahren von flexiblen Wechselkursen und unkontrollierten Kapitalflüssen abgelöst. Beides trug zur Aufblähung fiktiver Vermögenswerte bei, deren Kursverfall die gegenwärtige Krise ausgelöst hat.
Zudem haben die USA ihre Führungsrolle verloren. Aufgrund ihrer Größe haben wirtschaftliche und politische Entwicklungen in den USA zwar immer noch entscheidende Auswirkungen auf Weltwirtschaft und -politik. Sie sind aber nicht mehr in der Lage — die festgefahrenen Doha-Verhandlungen der WTO zeugen davon —, ein außenwirtschaftliches Regime durchzusetzen, von dem sich zumindest die herrschenden Klassen dieser Welt gleichermaßen Vorteile erhoffen können.
Ohne internationale Führungsmacht oder entsprechende Kooperation könnte ein neuer Keynesianismus, selbst wenn dies nicht beabsichtigt ist, zu einer Vernachlässigung außenwirtschaftlicher Beziehungen führen, in deren Folge der ohnedies fragile Weltmarkt zerbrechen könnte. Hierdurch würden in viel größerem Umfang als in den 30er Jahren Geldzirkulation und Wertschöpfungsketten negativ betroffen und die aktuelle Krise weiter verschärft.
Ob der Keynesianismus wieder zum Leitbild der Wirtschaftspolitik wird, ist deshalb nicht nur eine technokratische Frage geld- und finanzpolitischer Nachfragesteuerung, es ist auch mehr als eine Frage internationaler Wirtschaftsdiplomatie. Entscheidend ist, ob es gelingt, zwischen den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie einen Konsens herzustellen, und den subalternen Klassen die jeweils verfolgte Politik als Allgemeininteresse zu präsentieren.
Keynes hat sich zu diesen klassenpolitischen Grundlagen der Wirtschaftspolitik sehr zurückhaltend geäußert. Da seine politischen Vorstellungen in Richtung Klassenversöhnung gingen, wollte er wohl kein ideologisches Öl ins Feuer des Klassenkampfes gießen. Zudem hatte er als Wirtschaftsdiplomat gelernt, sich nicht zu Fragen internationaler Großmachtkonkurrenz zu äußern.
Dennoch besteht kein Zweifel, dass die Eindämmung der Sowjetunion und die Integration der Arbeiterklasse ebenso unverzichtbare Bausteine des US-Imperiums seit dem Zweiten Weltkrieg waren wie Keynesianismus und Weltmarktintegration.
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums ist es jedoch schwierig geworden, eine äußere Bedrohung zur Durchsetzung innerer Gefolgschaft heranzuziehen. Mangels Herausforderung durch die Systemkonkurrenz oder die Arbeiterbewegung gibt es für die herrschenden Klassen gar keinen politischen Grund, den Keynesianismus als Projekt der Klassenversöhnung wiederzubeleben.
Allerdings könnte der linke Keynesianismus zu einer Wiederbelebung von Klassenauseinandersetzungen führen, wenn er seine Forderungen nach öffentlichen Investitionen, ökologischem Umbau und angemessen bezahlter Arbeit nicht mit einem technokratischen Appell an die gesamtwirtschaftliche Vernunft begründet, sondern an der Herausbildung einer Arbeiterbewegung mitwirkt, die solche Forderungen auch gegen den Widerstand der Herrschenden durchsetzt.
Ohne Klassenkampf ist heute nicht einmal mehr Keynesianismus zu haben. Eine ganz andere Frage ist, ob sich Teilerfolge, beispielsweise die Ausweitung öffentlicher Beschäftigung, absichern lassen, ohne über Keynes hinaus zu gehen. Die Ausarbeitung einer sozialistischen Wirtschaftspolitik könnte der Linken jedenfalls nicht schaden.


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