SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2009, Seite 04

Totaler Staat

und gläserner Bürger

von Anja Köhler

Nach Bayern plant nun auch Baden-Württemberg ein eigenes Versammlungsgesetz, und es ist der politischen Großwetterlage geschuldet, dass ein solches nur auf einen massiven Abbau des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit hinauslaufen kann.
BKA-Gesetz, biometrischer Reisepass, Luftsicherheitsgesetz, verschärfte Polizeigesetze, Debatten über eine Aufweichung des Folterverbots und den Einsatz der Bundeswehr im Inneren — längst ist der Umbau des bürgerlichen Rechtsstaats in einen Obrigkeitsstaat in vollem Gange. Dieser ist jedoch keinesfalls auf den politischen Bereich beschränkt, vielmehr ging der Aushöhlung bürgerlicher Freiheiten ein rabiaterer und diskriminierender Umgang des Staates mit sozial Schwachen sowie die fortschreitende Entrechtung der abhängig Beschäftigten voraus. Der Staat soll der Wirtschaft billige Arbeitskräfte bereitstellen und gleichzeitig die damit unvermeidlich verbundenen verstärkten sozialen Verwerfungen durch polizeiliche Repression in Schach halten. Hartz-IV-Gesetze und die De- facto-Abschaffung des Asylrechts und die neuen Versammlungsgesetze sind zwei Seiten einer Medaille.
Der Staat sieht sich in der Aufgabe, den gläsernen Bürger zu verwalten und durch unmittelbaren Zwang in den Produktionsprozess zu drängen bzw. Revolten zu vermeiden. Er erhält als reines Vollzugsinstrument der Wirtschaft eine neue Qualität. Seine veränderte Rolle resultiert aus dem Wandel der Nachfrage- zur Angebotsökonomie. Es ist nicht mehr entscheidend, wie umfangreich die Bürger eines Staates konsumieren können, sondern wo sich am billigsten und ungestörtesten produzieren lässt. Was Lidl vermittels Überwachungskameras im eigenen Konzern veranstaltet, übernimmt im Fall von Arbeitslosigkeit die Arge. Vom mündigen Bürger fehlt in diesem Konzept jede Spur.
Dabei tragen bereits die aktuellen Verhältnisse nicht eben zur Emanzipation der Bevölkerung bei. Ein Mensch, über den verfügt wird, wird sich kaum als Gestalter seiner Gesellschaft erleben. Wachsende soziale Ängste sowie Vereinzelungstendenzen, die durch Ausgrenzung und den Verfall tradierter Arbeitsverhältnisse hervorgerufen sind, haben in vielen Menschen ein Bedürfnis nach mehr Sicherheit geweckt, an das die forcierten gesetzlichen Verschärfungen anknüpfen können. Gerade in den Ländern, in denen der wenigste Widerstand zu erwarten war, wurden die neuen Versammlungsgesetze folglich als erste eingeführt. Die Bestimmungen beider Gesetze ähneln sich weitgehend. Sowohl in Bayern als auch in Baden-Württemberg kann die Versammlungsbehörde demnächst einen Versammlungsleiter oder Ordner ablehnen, wenn dieser „nicht zuverlässig” erscheint, also Vorstrafen in relevanten Bereichen aufweist. Die persönlichen Daten der OrdnerInnen sind der Polizei im Voraus mitzuteilen, die Anmeldefrist wird auf 72 Stunden vor Beginn der Mobilisierung heraufgesetzt.
Wie das Bayrische Versammlungsgesetz auch, verbietet das Baden-Württembergische Gesetz „Militanz”, worunter neben dem Tragen einheitlicher Kleidung auch „militantes Auftreten” verstanden wird — darunter fällt beispielsweise, dass von einer Demonstration eine „einschüchternde Wirkung” ausgeht. Der Paragraf ist so schwammig, dass er der Polizei weitreichende Befugnisse verleiht, gewaltsam einzuschreiten. Versammlungen in geschlossenen Räumen sind künftig anzeigenpflichtig. Die Polizei kann Teilnehmende, von denen eine Gefahr ausgehen könnte, die zur Auflösung der Versammlung führen würde, kontrollieren und ihre Identität feststellen. Zur Abwehr einer Gefahr kann sie im Vorfeld andere Beteiligte befragen. Kontrolle durch den Staat rangiert nunmehr vor dem Recht auf ungestörtes Wahrnehmen der Versammlungsfreiheit.
Die Einschränkung des Versammlungsrechts in Bayern und Baden-Württemberg ist ebenso eine Niederlage im Klassenkampf wie die Hartz-Gesetze, Lohndumping oder die Auslandseinsätze von Bundeswehr und Bundespolizei, die in Afghanistan ohne Einschränkungen durch hinderliche Grundrechte die Aufstandsbekämpfung üben. Dieses demokratische Recht muss verteidigt werden!


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