SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2009, Seite 07

Zur Lage an der Tariffront

Deutschland ist ein Negativmodell

von Jochen Gester

Mit 0,8% Reallohnverlust seit der Jahrtausendwende sticht Deutschland innerhalb der EU negativ hervor.
Unter dem Slogan „Wir bezahlen nicht für eure Krise” rufen linke GewerkschafterInnen, Sozialinitiativen sowie politische Organisatoren der radikalen Linken am 28.3. zu Großdemonstrationen auf. Diese notwendigen Aktionen werden jedoch nicht mehr verhindern können, dass viele Rechnungen schon ausgestellt wurden. Nach Berechnung des WSI haben die abhängig Beschäftigten in Deutschland 2008 bereits im fünften Jahr hintereinander eine Reallohnsenkung hinnehmen müssen. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hat es eine so lange Phase von Reallohnverlusten gegeben.
Das Statistische Bundesamt hatte für 2008 eine durchschnittliche Inflationsrate von 2,6% berechnet. Für Geringverdiende liegt sie natürlich höher, da hier der Anstieg der Energiepreise (+9,6%) und der Lebensmittel (+6,4%) viel stärker ins Gewicht fällt. Auch für 2009 wird mit einer Inflationsrate über 2% gerechnet.
Für den Großteil der Beschäftigten, deren Einkommen unmittelbar durch Tarifverhandlungen bestimmt wird, liegen bereits Abschlüsse vor. Für sie wird 2009 Friedenspflicht herrschen. Der Abschluss in der Metall- und Elektroindustrie endet erst im April 2010. Der im letzten Jahr von Ver.di unterzeichnete Vertrag für Beschäftigte in Bund und Kommunen läuft bis zum 31.12.2009. Auch in den größten Bereichen der Chemie- und Grundstoffindustrie gibt es schon Abschlüsse, so z.B. aktuell in der Papierindustrie. Im Steinkohlenbergbau kam dieser im Mai 2008 zustande, und er gilt bis Mai 2011. Bei RWE und Vattenfall wurden 2009 24- monatige Haustarifverträge abgeschlossen. In der Kiste ist auch der Tarifvertrag aller Bahngewerkschaften, dessen Laufzeit am 31.7.2010 endet.
Anstehende Tarifauseinandersetzungen gibt es noch für die Beschäftigten der Länder (Ver.di), die Druckindustrie (Ver.di), die Lehrer (GEW), das Baugewerbe (IG BAU), und den Nahrungs- und Lebensmittelbereich (NGG). Die GEW und Ver.di rufen ihre Mitglieder seit Januar zu Kundgebungen und Warnstreiks auf. Ein schneller Abschluss ist nicht in Sicht.
Ein Blick auf die erreichten Bruttolohnerhöhungen zeigt, dass es nur in den genannten Haustarifverträgen (Abschluss 2009) Tariferhöhungen über 3% gab. Im Öffentlichen Dienst (Abschluss 2008) liegt sie bei über 2,9%, in der Metallindustrie (Abschluss 2008) bei 2,8%. Die Bahnbeschäftigten und die papiererzeugende Industrie erhielten gut 2,3%. Ver.di erkämpfte für Zeitschriftenredakteure, die Zeitungsredaktionen und die Kinobeschäftigten Zuwächse zwischen 1,6 und 2% (alle Abschlüsse 2009). Es ist davon auszugehen, dass die nicht von Tarifverträgen erfasste Arbeitswelt deutlich unter diesem Niveau liegt und den Gesamtdurchschnitt noch einmal drückt, so dass es zu dem oben erwähnten WSI-Ergebnis kommt.
Das „Modell Deutschland”, das lange auch ein Exportschlager von Gewerkschaftsfunktionären war, zeichnet sich heute vor allem durch seine abschreckende Sonderrolle aus: In keinem anderen europäischen Land kam es in den letzten Jahren zu so massiven Reallohnverlusten. Im Gegenteil: Während die Reallöhne seit der Jahrtausendwende in Deutschland um 0,8% zurückgingen, stiegen sie in Frankreich um kapp 10%, in den Niederlanden um mehr als 12%, in Schweden um 18% und in Großbritannien sogar um 26%. Thorsten Schulte vom WSI verweist auf Ursachen und Folgen dieser Entwicklung: „Die negative Lohndrift hat wiederum viel mit den Veränderungen im deutschen Tarifvertragssystem zu tun, wo zwei Trends zu beobachten sind. Einerseits ist die Tarifbindung seit Ende der 90er Jahre kontinuierlich zurückgegangen, so dass heute gerade mal etwas mehr als 60% aller Beschäftigten durch einen Tarifvertrag erfasst werden. Andererseits nutzen immer mehr Unternehmen die Möglichkeit, im Zuge der Dezentralisierung der Tarifpolitik auf betrieblicher Ebene von vereinbarten Tarifstandards nach unten hin abzuweichen. Im Ergebnis werden die Lohnunterschiede zwischen den Beschäftigtengruppen immer größer, und es kommt zu einer rasanten Ausdehnung des Niedriglohnsektors, der mittlerweile in Europa seines gleichen sucht."


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