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Die Weltwirtschaftskrise trifft China mit hohen
Exporteinbrüchen und massiv ansteigender Erwerbslosigkeit. Das Konjunkturprogramm der
Regierung sieht öffentliche Investitionen ohne Steigerung der Kaufkraft vor. Das wird
nicht ausreichen, die Krise aufzuhalten.
Das „Jahr des
Ochsen” fängt schlecht an für die chinesische Bevölkerung. Schon vor dem
Ausbruch der Weltwirtschaftskrise war China mit gewaltigen internen Problemen konfrontiert,
deren Ursache in einem explosiven, exportabhängigen Wirtschaftswachstum lag. Dieses
Wachstum hat zu ökologischen Katastrophen geführt und die soziale Ungleichheit
verschärft. Es äußerte sich in Überinvestitionen in zahlreichen
Industriesektoren; in einer spekulativen Immobilienblase infolge des hemmungslosen Baus von
Wohnungen für die Mittelschichten und die Neureichen; und in einer Spekulationsblase an
der Shanghaier Börse; gleichzeitig wurden zahlreiche grundlegende Bedürfnisse der
Bevölkerung nicht befriedigt.
Die Weltwirtschaftskrise hat
seit November 2008 zu einem Rückgang der Exporte geführt, wodurch die angespannte
interne Lage verschärft worden ist. Jetzt fürchtet die chinesische Regierung vor
allem ein zu abruptes Abflauen der chinesischen Wirtschaft — das wäre das
„Katastrophenszenario”, das zu einer Explosion der Erwerbslosigkeit führen
würde und eine soziale Revolte mit einer offenen und organisierten Infragestellung der
Macht auslösen könnte. Mehrere Elemente machen ein solches Szenario möglich.
Die jüngsten und vorsichtigsten Wirtschaftsprognosen schätzen, dass 2009 ein
Wachstum von mindestens 9% erforderlich wäre, um die Erwerbslosigkeit zu stabilisieren.
Sie rechnen jedoch mit einem Wachstum von 4—5%. Das mag von Europa aus betrachtet viel
erscheinen — hier ist die Rezession bereits angekommen und es stehen zahlreiche
Entlassungen an. In China aber, das eine Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen hat,
wird eine Halbierung des Wirtschaftswachstums eine Entlassungswelle ungeheuren Ausmaßes
zur Folge haben.
In einem freimütigen
Bericht kam die Chinesische Sozialwissenschaftliche Akademie kürzlich zur Ansicht, die
Erwerbslosigkeit könne 2009 auf 9,5% steigen — das wäre zweimal so viel, wie
die Regierung voraussagt. Entlassungen sind besonders häufig im Süden, in der Region
zwischen Shanghai und Hongkong, wo die für den Export produzierenden Betriebe
konzentriert sind.
In Dongguan, einem
industriellen Zentrum im Delta des Perlflusses, zwei Autostunden nördlich von Hongkong,
wurde schätzungsweise jede dritte bis vierte Fabrik geschlossen, die mit gering
qualifizierten Arbeitskräften und auf der Basis hoher Arbeitsintensität produziert
(z.B. Spielzeug oder Computermäuse). Weil es kein Insolvenzrecht gibt, und erst recht
keine Sozialpläne, schnappen sich die Eigentümer heimlich, was an Firmengeldern
übrig bleibt, und setzen sich nach Taiwan oder Hongkong ab. Sollten Gläubiger oder
Beschäftigte sie wieder ausfindig machen, haben sie ihre liebe Not damit, die ihnen
zustehenden Gelder zurückzubekommen.
Allein in der Stadt Dongguan
haben 800000 Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Job verloren. Manche werden dafür bekannt,
dass sie die 3000 Kilometer zurück in ihre Heimatprovinz auf dem Mofa zurücklegen.
Das erinnert an den Exodus von über 2 Millionen amerikanischer Farmer nach Kalifornien
während der Depression der 30er Jahre. Zurück in der Heimat treffen die
Arbeitsmigranten wieder die ländliche Armut an, der sie versucht hatten zu entfliehen. Es
gibt in den ländlichen Regionen nicht genügend Jobs; die Zahl der Arbeitsmigranten,
die sich illegal aus dem Land in die Stadt aufmachen, um dort von einer Baustelle zur
nächsten zu wechseln, wird auf 120—150 Millionen geschätzt.
Bei einer halbierten
Wachstumsrate wird eine große Zahl dieser Arbeitsmigranten ihren Arbeitsplatz verlieren,
aber auch die legalen städtischen Arbeiterinnen und Arbeiter. Das sind ebenso viele
potenzielle Demonstranten, die die Regierung nicht tolerieren will. Es gibt bereits sehr viele
soziale Konflikte in China, manchmal erheben sich ganze Dörfer oder mittlere Städte,
wenn Bauern von ihrem Land vertrieben werden, damit Fabriken oder Staudämme gebaut werden
können.
Es gibt auch Demonstrationen
von Arbeitern, die die Unternehmer vergaßen zu entlohnen, es gibt Proteste gegen Skandale
im Gefolge von Erdbeben oder Nahrungsmittelvergiftungen. Bislang schaffte es eine brutale und
gnadenlose Repression der Polizei und Armee, diese Konflikte einzudämmen. Aber die
Regierung weiß sehr wohl, dass Repression nicht die einzige Antwort sein kann, und dass
Erwerbslosigkeit nicht das einzige Motiv für die Unzufriedenheit ist.
Nach Angaben des Berichts der
Sozialwissenschaftlichen Akademie erklären 47% der befragten Chinesen, in zu kleinen, in
schlechten oder ungesunden Wohnungen zu wohnen; sie können auch keine Wohnungen kaufen,
denn die Regierung hat Wohnungen bauen lassen, die für die Mehrheit der Arbeiter viel zu
teuer sind. Diejenigen, die sich eine Wohnung gekauft haben, sind durch das Platzen der
Immobilienblase gezwungen, ihre Ausgaben in anderen Bereichen drastisch zu reduzieren. Soziale
Sicherheit gibt es nicht oder äußerst unzureichend, das zwingt die Haushalte, noch
mehr zu sparen.
Die Unzufriedenheit wird noch
dadurch verstärkt, dass die Neureichen und die Nomenklatura, die wesentliche soziale
Basis der Partei, ihren Konsum zur Schau tragen. China weist eine Fülle ultramoderner
Einkaufszentren auf, wo der letzte Schrei protzigster Luxusprodukte verkauft wird. 69% der
befragten Chinesen sind der Meinung, dass die Funktionäre in den letzten zehn Jahren zu
sehr vom Wachstum profitiert haben, während die Arbeiter, die Bauern und die Migranten
zuwenig davon hatten. Korruption empfindet die Bevölkerung als besonders übel, weil
sie weiß, dass sie im Herzen der Macht zu Hause ist.
Man kann kein Geschäft
betreiben, und schon gar kein privates Unternehmen gründen, ohne die inoffizielle
Begünstigung durch einen hohen Funktionär. Die Partei und die Armee sind selbst
gewaltige, vielfach verzweigte Industriekonglomerate. Ohne eine solide Stütze in ihren
Reihen ist es schwierig, Geschäfte zu machen.
Am 9.November 2008 hat die chinesische Regierung ein Konjunkturprogramm von ungefähr
600 Milliarden Dollar angekündigt, eine Summe, die dem Paulson-Plan in den USA nahe
kommt. Im Unterschied zu den USA will sie jedoch nicht den Banken unter die Arme greifen,
sondern direkt das Wachstum stützen — durch massive Ausgaben für den Bau von
Straßen, Eisenbahnlinien, Flughäfen, Stromnetzen, für den beschleunigten
Wiederaufbau der im Mai 2008 vom Erdbeben betroffenen Städte, für den Bau von
Sozialwohnungen und für Bildung und Gesundheit.
Bemerkenswert ist die
Ankündigung einer Unterstützung für den Gesundheitssektor und der Sanierung der
Schulen in den inneren Provinzen. Im Umweltbereich sind Investitionen für die
Abfallbehandlung, die Wasseraufbereitung und die Energiewirtschaft vorgesehen. Es vergeht kein
Tag, an dem die Regierung nicht Hilfsmaßnahmen für diesen oder jenen Sektor,
besonders die Landwirtschaft, ankündigt.
Es ist wahr, dass China hohe
Ausgaben in Infrastruktur benötigt und beim Bau von Sozialwohnungen, Schulen und
Krankenhäusern besondere Anstrengungen machen muss. Aber der Erfolg des
Konjunkturprogramms beruht letztlich auf der Belebung des Binnenkonsums, um den Rückgang
der Exporte zu kompensieren. Hier ist jedoch seine Achillesferse. Selbst wenn den Worten Taten
folgen, was sich noch erweisen muss, kann man in wenigen Monaten kein System der sozialen
Sicherheit schaffen, das den Namen verdient, und den Konsum kann man nur stimulieren, wenn die
Löhne deutlich und allgemein erhöht werden, wovor sich die Regierung hüten
wird.
Deshalb wird das
Konjunkturprogramm wahrscheinlich eine zwar spürbare, aber doch nur begrenzte Wirkung
haben: es wird geschätzt, dass das Wirtschaftswachstum sich dadurch um einen Prozentpunkt
erhöht. Ein Wachstum von 8% oder gar 9% scheint für 2009 nicht erreichbar, ein
starker Anstieg der Erwerbslosigkeit ist unvermeidlich.
Wird die Wirtschaftskrise zu
einer politischen Krise führen? Die Regierung tut alles, um Verbindungen lokaler
Kämpfe untereinander zu verhindern. Seit dem Massaker auf dem Tienanmen-Platz, das sich
am 4.Juni 2009 zum 20.Mal jährt und dessen Gedenken die Regierung sorgfältig zu
unterdrücken sucht, ist es nicht mehr gelungen, dass eine Massenbewegung auf nationaler
Ebene wieder entsteht und sich reorganisiert. Im Dezember 2008 haben 300 Intellektuelle ein
Aufruf, die „Charta 08”, veröffentlicht, die eine politische Demokratisierung
und soziale Reformen fordert. Aber eine Verbindung zwischen den Intellektuellen und der
werktätigen Bevölkerung hat bislang nicht stattgefunden.
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