SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2009, Seite 10

China

Angst vor neuer Massenbewegung - Regierung versucht, der sozialen Folgen der Krise Herr zu werden

von Jean Sanuk

Die Weltwirtschaftskrise trifft China mit hohen Exporteinbrüchen und massiv ansteigender Erwerbslosigkeit. Das Konjunkturprogramm der Regierung sieht öffentliche Investitionen ohne Steigerung der Kaufkraft vor. Das wird nicht ausreichen, die Krise aufzuhalten.
Das „Jahr des Ochsen” fängt schlecht an für die chinesische Bevölkerung. Schon vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise war China mit gewaltigen internen Problemen konfrontiert, deren Ursache in einem explosiven, exportabhängigen Wirtschaftswachstum lag. Dieses Wachstum hat zu ökologischen Katastrophen geführt und die soziale Ungleichheit verschärft. Es äußerte sich in Überinvestitionen in zahlreichen Industriesektoren; in einer spekulativen Immobilienblase infolge des hemmungslosen Baus von Wohnungen für die Mittelschichten und die Neureichen; und in einer Spekulationsblase an der Shanghaier Börse; gleichzeitig wurden zahlreiche grundlegende Bedürfnisse der Bevölkerung nicht befriedigt.
Die Weltwirtschaftskrise hat seit November 2008 zu einem Rückgang der Exporte geführt, wodurch die angespannte interne Lage verschärft worden ist. Jetzt fürchtet die chinesische Regierung vor allem ein zu abruptes Abflauen der chinesischen Wirtschaft — das wäre das „Katastrophenszenario”, das zu einer Explosion der Erwerbslosigkeit führen würde und eine soziale Revolte mit einer offenen und organisierten Infragestellung der Macht auslösen könnte. Mehrere Elemente machen ein solches Szenario möglich.

Entlassungswelle

Die jüngsten und vorsichtigsten Wirtschaftsprognosen schätzen, dass 2009 ein Wachstum von mindestens 9% erforderlich wäre, um die Erwerbslosigkeit zu stabilisieren. Sie rechnen jedoch mit einem Wachstum von 4—5%. Das mag von Europa aus betrachtet viel erscheinen — hier ist die Rezession bereits angekommen und es stehen zahlreiche Entlassungen an. In China aber, das eine Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen hat, wird eine Halbierung des Wirtschaftswachstums eine Entlassungswelle ungeheuren Ausmaßes zur Folge haben.
In einem freimütigen Bericht kam die Chinesische Sozialwissenschaftliche Akademie kürzlich zur Ansicht, die Erwerbslosigkeit könne 2009 auf 9,5% steigen — das wäre zweimal so viel, wie die Regierung voraussagt. Entlassungen sind besonders häufig im Süden, in der Region zwischen Shanghai und Hongkong, wo die für den Export produzierenden Betriebe konzentriert sind.
In Dongguan, einem industriellen Zentrum im Delta des Perlflusses, zwei Autostunden nördlich von Hongkong, wurde schätzungsweise jede dritte bis vierte Fabrik geschlossen, die mit gering qualifizierten Arbeitskräften und auf der Basis hoher Arbeitsintensität produziert (z.B. Spielzeug oder Computermäuse). Weil es kein Insolvenzrecht gibt, und erst recht keine Sozialpläne, schnappen sich die Eigentümer heimlich, was an Firmengeldern übrig bleibt, und setzen sich nach Taiwan oder Hongkong ab. Sollten Gläubiger oder Beschäftigte sie wieder ausfindig machen, haben sie ihre liebe Not damit, die ihnen zustehenden Gelder zurückzubekommen.
Allein in der Stadt Dongguan haben 800000 Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Job verloren. Manche werden dafür bekannt, dass sie die 3000 Kilometer zurück in ihre Heimatprovinz auf dem Mofa zurücklegen. Das erinnert an den Exodus von über 2 Millionen amerikanischer Farmer nach Kalifornien während der Depression der 30er Jahre. Zurück in der Heimat treffen die Arbeitsmigranten wieder die ländliche Armut an, der sie versucht hatten zu entfliehen. Es gibt in den ländlichen Regionen nicht genügend Jobs; die Zahl der Arbeitsmigranten, die sich illegal aus dem Land in die Stadt aufmachen, um dort von einer Baustelle zur nächsten zu wechseln, wird auf 120—150 Millionen geschätzt.
Bei einer halbierten Wachstumsrate wird eine große Zahl dieser Arbeitsmigranten ihren Arbeitsplatz verlieren, aber auch die legalen städtischen Arbeiterinnen und Arbeiter. Das sind ebenso viele potenzielle Demonstranten, die die Regierung nicht tolerieren will. Es gibt bereits sehr viele soziale Konflikte in China, manchmal erheben sich ganze Dörfer oder mittlere Städte, wenn Bauern von ihrem Land vertrieben werden, damit Fabriken oder Staudämme gebaut werden können.
Es gibt auch Demonstrationen von Arbeitern, die die Unternehmer vergaßen zu entlohnen, es gibt Proteste gegen Skandale im Gefolge von Erdbeben oder Nahrungsmittelvergiftungen. Bislang schaffte es eine brutale und gnadenlose Repression der Polizei und Armee, diese Konflikte einzudämmen. Aber die Regierung weiß sehr wohl, dass Repression nicht die einzige Antwort sein kann, und dass Erwerbslosigkeit nicht das einzige Motiv für die Unzufriedenheit ist.
Nach Angaben des Berichts der Sozialwissenschaftlichen Akademie erklären 47% der befragten Chinesen, in zu kleinen, in schlechten oder ungesunden Wohnungen zu wohnen; sie können auch keine Wohnungen kaufen, denn die Regierung hat Wohnungen bauen lassen, die für die Mehrheit der Arbeiter viel zu teuer sind. Diejenigen, die sich eine Wohnung gekauft haben, sind durch das Platzen der Immobilienblase gezwungen, ihre Ausgaben in anderen Bereichen drastisch zu reduzieren. Soziale Sicherheit gibt es nicht oder äußerst unzureichend, das zwingt die Haushalte, noch mehr zu sparen.
Die Unzufriedenheit wird noch dadurch verstärkt, dass die Neureichen und die Nomenklatura, die wesentliche soziale Basis der Partei, ihren Konsum zur Schau tragen. China weist eine Fülle ultramoderner Einkaufszentren auf, wo der letzte Schrei protzigster Luxusprodukte verkauft wird. 69% der befragten Chinesen sind der Meinung, dass die Funktionäre in den letzten zehn Jahren zu sehr vom Wachstum profitiert haben, während die Arbeiter, die Bauern und die Migranten zuwenig davon hatten. Korruption empfindet die Bevölkerung als besonders übel, weil sie weiß, dass sie im Herzen der Macht zu Hause ist.
Man kann kein Geschäft betreiben, und schon gar kein privates Unternehmen gründen, ohne die inoffizielle Begünstigung durch einen hohen Funktionär. Die Partei und die Armee sind selbst gewaltige, vielfach verzweigte Industriekonglomerate. Ohne eine solide Stütze in ihren Reihen ist es schwierig, Geschäfte zu machen.

Konjunkturprogramm

Am 9.November 2008 hat die chinesische Regierung ein Konjunkturprogramm von ungefähr 600 Milliarden Dollar angekündigt, eine Summe, die dem Paulson-Plan in den USA nahe kommt. Im Unterschied zu den USA will sie jedoch nicht den Banken unter die Arme greifen, sondern direkt das Wachstum stützen — durch massive Ausgaben für den Bau von Straßen, Eisenbahnlinien, Flughäfen, Stromnetzen, für den beschleunigten Wiederaufbau der im Mai 2008 vom Erdbeben betroffenen Städte, für den Bau von Sozialwohnungen und für Bildung und Gesundheit.
Bemerkenswert ist die Ankündigung einer Unterstützung für den Gesundheitssektor und der Sanierung der Schulen in den inneren Provinzen. Im Umweltbereich sind Investitionen für die Abfallbehandlung, die Wasseraufbereitung und die Energiewirtschaft vorgesehen. Es vergeht kein Tag, an dem die Regierung nicht Hilfsmaßnahmen für diesen oder jenen Sektor, besonders die Landwirtschaft, ankündigt.
Es ist wahr, dass China hohe Ausgaben in Infrastruktur benötigt und beim Bau von Sozialwohnungen, Schulen und Krankenhäusern besondere Anstrengungen machen muss. Aber der Erfolg des Konjunkturprogramms beruht letztlich auf der Belebung des Binnenkonsums, um den Rückgang der Exporte zu kompensieren. Hier ist jedoch seine Achillesferse. Selbst wenn den Worten Taten folgen, was sich noch erweisen muss, kann man in wenigen Monaten kein System der sozialen Sicherheit schaffen, das den Namen verdient, und den Konsum kann man nur stimulieren, wenn die Löhne deutlich und allgemein erhöht werden, wovor sich die Regierung hüten wird.
Deshalb wird das Konjunkturprogramm wahrscheinlich eine zwar spürbare, aber doch nur begrenzte Wirkung haben: es wird geschätzt, dass das Wirtschaftswachstum sich dadurch um einen Prozentpunkt erhöht. Ein Wachstum von 8% oder gar 9% scheint für 2009 nicht erreichbar, ein starker Anstieg der Erwerbslosigkeit ist unvermeidlich.
Wird die Wirtschaftskrise zu einer politischen Krise führen? Die Regierung tut alles, um Verbindungen lokaler Kämpfe untereinander zu verhindern. Seit dem Massaker auf dem Tienanmen-Platz, das sich am 4.Juni 2009 zum 20.Mal jährt und dessen Gedenken die Regierung sorgfältig zu unterdrücken sucht, ist es nicht mehr gelungen, dass eine Massenbewegung auf nationaler Ebene wieder entsteht und sich reorganisiert. Im Dezember 2008 haben 300 Intellektuelle ein Aufruf, die „Charta 08”, veröffentlicht, die eine politische Demokratisierung und soziale Reformen fordert. Aber eine Verbindung zwischen den Intellektuellen und der werktätigen Bevölkerung hat bislang nicht stattgefunden.

Aus: Rouge, Nr.2283, 22.1.2009 (Übersetzung: Hans-Günter Mull).


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang