SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2009, Seite 12

Gerade in der Krise:

10 Euro gesetzlicher Mindestlohn

von Ilona Herrmann

Die Bundesregierung hat sich in den vergangenen Jahren damit gebrüstet, wie durch die Hartz-Gesetze die (offizielle) Arbeitslosigkeit gesunken sei. Keine Rede war ihr der steile Anstieg der Niedriglöhner und prekär Beschäftigten wert. Das Gespenst der Massenarbeitslosigkeit ist nicht verschwunden; es wächst am unteren Rand die Schicht derer, die „arm trotz Arbeit” sind.
2,1 Millionen Arbeitnehmer/innen müssen in Deutschland mit weniger als 50% des Durchschnittsverdienstes auskommen — also mit einem Armutslohn. Das betrifft nicht nur Mini-Jobs und ZeitarbeiterInnen, sondern auch 12% aller Vollzeitbeschäftigten!
Leider schützen auch Tarifverträge nicht vor Niedrigeinkommen. 1,35 Millionen Erwerbstätige beziehen ergänzendes Arbeitslosengeld II, das sind die sog. Aufstocker bzw. Kombilohnbezieher/innen. Von ihnen sind eine halbe Million Vollzeit beschäftigt — sie arbeiten 35 und mehr Stunden pro Woche mit durchschnittlichen Stundenlöhnen von 7 Euro im Westen und 6 Euro im Osten. 4,4 Milliarden Euro fließen dafür aus den Kassen der Bundesagentur für Arbeit — d.h. aus den Taschen der Beitragszahler. Sie gleichen aus, was die Unternehmer an Lohn einsparen.
Mini-Jobs und Zeitarbeit haben die Ausweitung des Niedriglohnsektors vorangetrieben. Allein im Einzelhandel haben nach einer Ver.di-Studie vom Dezember 2003 Mini-Jobs innerhalb eines Jahres 227000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze vernichtet und eine finanzielle Lücke in Höhe von 612 Mio. Euro in die Sozialkassen gerissen.
Mini- und Midi-Jobs (bis zu 400 bzw. 800 Euro) sind Arbeitszeitverkürzung mit erheblichem Lohnverlust. Den Beschäftigten in Minijobs wird häufig das Recht auf bezahlten Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vorenthalten, und sie bekommen Lohnabschläge. Bei Mini- Jobs wird der Unternehmer subventioniert: anstelle des regulären Arbeitgeberbeitrags zahlt er nur eine Pauschale in die Sozialkassen; der Arbeitslosenbeitrag entfällt ganz.
Rund 70% der Niedriglohnbeschäftigten sind Frauen. Der Anteil von unfreiwilliger Teilzeitarbeit von Frauen hat sich zwischen 1990 und 2006 von 4,2% auf 20% erhöht. Fast jede dritte Frau (30,5%) arbeitet für wenig Geld — 1995 galt das noch für ein Viertel. Auch bei vollzeitbeschäftigten Frauen liegt der Niedriglohnanteil mit ca. 22% fast doppelt so hoch wie unter vollzeitbeschäftigten Männern. Deutschland ist im EU-Vergleich Spitzenreiter in der Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern.
Damit wird die Dazuverdienerrolle von Frauen festgeschrieben; sie haben nach wie vor zum großen Teil keine ausreichende eigenständige Altersversorgung. Und sie bilden die Mehrzahl der „Armen trotz Arbeit": Über die Hälfte der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die zusätzlich zum Arbeitseinkommen ALG II benötigen, sind Frauen.

Die Höhe ist wichtig

Wenn nicht alle betriebliche und gewerkschaftliche Willens- und Widerstandskraft darauf konzentriert wird, dass krisenbedingte Entlassungen verboten werden und die Arbeitszeit verkürzt wird, dann wird die Welle der Massenarbeitslosigkeit, die auf uns zurollt, demnächst zu 6 Millionen Arbeitslosen und einer Aufblähung des Niedriglohnsektors führen. Dann kann sich die Anzahl der Niedriglöhner leicht verdoppeln.
— Deshalb muss auch und gerade in der Krise ein gesetzlicher, flächendeckender Mindestlohn her: die Mindestlöhne nach Branchen per Entsendegesetz gelten nie für die gesamte Wirtschaft und können deshalb Lohndumping nicht verhindern.
— Die Höhe des Mindestlohns ist von großer Bedeutung; ein zu niedrig bemessener Mindestlohn zwingt zu Arbeitszeitverlängerung, um den Lebensstandard zu halten.
— Ein Mindestlohn von 7,50 Euro, wie er von Ver.di, NGG und jetzt auch vom DGB gefordert wird, sichert trotz Vollzeitbeschäftigung keine menschenwürdigen Lebensbedingungen. Wer 38,5 Stunden in der Woche arbeitet und 7,50 Euro pro Stunde verdient, bekommt Brutto 1251,15 Euro im Monat. Nach Abzug von Sozialversicherungen und Lohnsteuer sind diese Personen berechtigt, ergänzend ALG II zu beantragen! Ein zu niedrig bemessener Mindestlohn ist ein Armuts- und Kombilohn.
— Im Jahr 2001 forderten Ver.di, NGG und IG BAU noch einen Monatslohn von mindestens 3000 Mark brutto. Das entspricht heute 1516 Euro brutto monatlich und wäre der Verdienst bei 10 Euro Stundenlohn mit einer 35-Stunden-Woche.
10 Euro pro Stunde gesetzlicher Mindestlohn setzt ein Zeichen gegen Lohndumping. Das ist die Mindestvoraussetzung für eine Arbeitszeitverkürzung mit Allgemeinverbindlichkeit — die gesetzliche Einführung der 35-Stunden-Woche als ersten Schritt. So kommen auch Erwerbslose wieder an reguläre Arbeitsplätze und können einen Beitrag in die „leeren” Sozialkassen einbringen.


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