SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2009, Seite 17

Rette sich, wer kann

In der Krise wird der Konkurrenzkampf verschärft fortgesetzt

von Ingo Schmidt

Die Krise begann nicht mit dem Finanzkrach, eher war der Finanzkrach eine der ersten Folgen der einsetzenden Krise.
Firmenzusammenbrüche, staatliche Finanzhilfen, Streit um Wechselkurse, Konjunkturprogramme und Marktanteile, Proteste, Streiks und Regierungsumbildungen: Schien der Kapitalismus vor der Krise noch ein Naturgesetz zu sein, das man beklagen, aber nicht ändern konnte, herrscht nunmehr schwer durchschaubares Chaos. Um die Möglichkeiten, die sich in der Krise auftun, zu nutzen, darf man sich freilich davon nicht erschlagen lassen.
Über die Pleiten von AIG, Lehman Brothers, Washington Mutual und die Übernahme der Investmentbanken Morgan Stanley und Goldman Sachs durch reguläre Geschäftsbanken im September 2008 vergisst man leicht, dass die gegenwärtige Krise eine Vorgeschichte hat, die bis ins Jahr 2004 zurückreicht.
In jenem Jahr erreichte der Wirtschaftsaufschwung in den USA, nach einer milden Rezession 2001, seinen Höhepunkt. Seither sind die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten rückläufig. Die Zunahme der Investitionen setzte sich noch bis 2006 fort, erst danach sanken auch sie. Der Verkauf von privaten Häusern erreichte seinen Höhepunkt 2005, die hierfür durchschnittlich gezahlten Preise ihren Spitzenwert ein Jahr später.
Das nachlassende Wachstum der Nachfrage, das von einem Rückgang der Unternehmensgewinne begleitet war, führte zusammen mit sinkenden Dollarkursen ab 2006 zu einer Verringerung des amerikanischen Handelsbilanzdefizits. Damit übertrug sich die Wachstumsschwäche in den USA auf die große Zahl der Länder, deren Wirtschaft in hohem Maße von Exporten in die USA abhängig sind. Der Weg in eine zyklische Rezession war demnach seit 2004 vorgezeichnet und seit 2006 kaum noch zu übersehen.

Rolle der Rohstoffpreise

Ganz gewiss haben die Anlagestrategen bei den Investmentbanken, Pensionsfonds und Hedgefonds die kleineren Margen im Immobiliengeschäft wahrgenommen und Kapital in großem Umfang umgeschichtet. An die Stelle der Immobilienblase trat nun eine Rohstoff- und Lebensmittelblase.
Besonders prominent war hierbei die Entwicklung des Ölpreises. 1999 wurde ein Barrel noch für kaum mehr als 10 Dollar verkauft, Mitte 2006 war der Preis auf rund 80 Dollar gestiegen, Anfang 2007 fiel er noch einmal auf knapp über 50 Dollar und schoss danach auf einen Höchstwert von 145 Dollar im Sommer 2008.
Das führte nicht nur zu Rekordgewinnen der Ölindustrie, sondern beflügelte die Investitionsneigung des privaten Kapitals insgesamt, wie die Kursentwicklung des Dow-Jones-Index eindrucksvoll zeigt. Er kletterte von rund 11000 Punkten im Jahre 2006 — als Investoren und Ökonomen die nächste Rezession bereits hätten absehen können — auf knapp 14000 im Sommer 2007. Die Entwicklung der Börsenkurse verlief damals konträr zu realwirtschaftlichen Indikatoren wie Sozialprodukt, Investitionen oder Unternehmensgewinne.
In den Medien wurde freilich das Bild eines ungebremsten Wachstums gezeichnet, das bestenfalls durch den Energie- und Rohstoffhunger aufstrebender Regionalmächte unter Führung Chinas bedroht werden könnte. Diese Darstellung überging nicht nur die bereits wirkenden Krisentendenzen, sondern auch die Tatsache, dass die steigenden Energie-, Rohstoff- und Lebensmittelpreise durch einen Zustrom von anlagesuchendem Finanzkapital verursacht war und die Armen dieser Welt auf Hungerration setzte.
Hohe Öl- und Rohstoffpreise sind freilich auch ein Problem für jene, denen es nur auf die Vermehrung von Tauschwert ankommt. Aller Finanzzirkulation zum Trotz können sie sich nicht aus ihrer Abhängigkeit von lebendiger Arbeitskraft und natürlichen Ressourcen befreien. Steigende Rohstoffpreise verhelfen zwar den Unternehmen in diesem Sektor zu riesigen Gewinnen, in allen anderen Sektoren wirken sie jedoch als Kostenfaktor bzw. sie verringern die reale Kaufkraft privater Haushaltseinkommen.
Der zyklische Nachfragerückgang seit 2004 wurde deshalb durch die kurze, aber heftige Rohstoffspekulation 2006—2008 verstärkt. Im September konnte der Widerspruch zwischen den Einkommensansprüchen aus Wertpapierbesitz und der zur Verteilung anstehender Mehrwertmasse auch durch noch so kreative Buchführung und Schaffung fiktiver Vermögenstitel nicht mehr überbrückt werden. Der Finanzsektor, dem diese Aufgabe im Finanzmarktkapitalismus zugefallen war, strauchelte und wurde nur mit Hilfe staatlicher Liquiditäts- und Finanzhilfen sowie vereinzelter Verstaatlichungen vor dem Zusammenbruch gerettet.
Die Finanzkrise und die staatlichen Rettungsaktionen hatten zwei Effekte: Erstens beschleunigte sich der realwirtschaftliche Abschwung, zweitens schaltete der Staat von einer Politik der Marktöffnung auf Eingriffe in Eigentumsverhältnisse, Unternehmensfinanzierung und auf Nachfragemanagement um. So ist die Auslastung der Produktionskapazitäten in den USA von 78,3% im August auf 75% im September und 73,6% im Dezember 2008 gesunken. Umgekehrt schnellte die Arbeitslosigkeit von August an von 6,2% auf 7,6% im Januar hoch.
Die sinkende Investitions- und Konsumgüternachfrage hat auch zu einem Rückgang des Welthandelsvolumens geführt. Das amerikanische Handelsbilanzdefizit hat einen Rückgang erlebt wie seit der Wirtschaftskrise zu Beginn der 90er Jahre nicht mehr; das hat dazu geführt, dass die Krise sich in den exportabhängigen Ländern ausgebreitet hat.

Das Ruder wird herumgerissen

Durch massive Zentralbankinterventionen, staatliche Geldspritzen und Bürgschaften konnte ein Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems, der einen Zusammenbruch der Warenzirkulation nach sich gezogen hätte, allerdings verhindert werden. Der totale Absturz der Investitionsneigung konnte aufgehalten werden und ist seither nervöser Anspannung gewichen. Deutlich ablesen lässt sich dies am Absturz der Börsenkurse im September 2008, auf den seit Oktober ein wildes Auf und Ab auf deutlich niedrigerem Niveau folgte. Seither heißt es für Finanzhändler, Konzernstrategen und Politiker erst mal Durchatmen, die eigene Position konsolidieren und die nächsten Schritte bestimmen.
Bislang hat diese Atempause zur Wiederbelebung alter, liebgewonnener liberaler Reflexe geführt. Die staatlichen Ausgabenprogramme, die im Herbst letzten Jahres Hals über Kopf in vielen Ländern aufgelegt wurden, wurden soweit mit Steuersenkungen verwässert, dass von ihnen kaum ein Nachfrage- oder gar Beschäftigungsimpuls erwartet werden kann.
Unternehmen und einkommensstarke Haushalte halten ebenso wie Haushalte aus der Arbeiterklasse, die von Arbeitslosigkeit betroffen oder bedroht sind — allerdings aus sehr unterschiedlichen Gründen — ihr Geld lieber fest, als es schnell in Umlauf zu bringen. Selbst im konsumfreudigen Amerika ist die Sparquote der privaten Haushalte — die Arm und Reich statistisch gleichsetzt — von 0% im April 2008 auf 3,6% gestiegen — ein Wert der zuletzt im September 2001 erreicht wurde.
Nur die US-Regierung zeigt sich ausgabenfreudig und kombiniert ohne übertriebene Rücksicht auf steigende Budgetdefizite Steuergeschenke mit erheblichen zusätzlichen Staatsausgaben — auch dies entspricht dem wirtschaftspolitischen Muster der neoliberalen Jahrzehnte.
Die Europäer, die sich trotz Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds nicht zu einem gemeinsamen Konjunkturprogramm haben durchringen können, hoffen, einen tüchtigen Bissen vom amerikanischen Nachfragekuchen abzubekommen. Die Regierungen in Berlin, London und Paris springen Finanz- und Industrieunternehmen bei, um „ihre” Wirtschaft im Kampf um Anteile auf einem schrumpfenden Weltmarkt in Position zu bringen, warnen die USA aber vor protektionistischen Maßnahmen.
Die Subventionen dienen, ähnlich wie in den Kohle- und Stahlkrisen der 70er und frühen 80er Jahre, nicht der Vermeidung von Firmenpleiten und Massenentlassungen, sondern der politisch geförderten Zentralisation des Kapitals. Nähere Auskünfte erteilen die Conti- bzw. Postbank- Übernehmer Schaeffler und Ackermann.
Hier vermischt sich das Bemühen, an neoliberalen Rezepten festzuhalten, mit Interventionen, die eingefleischten Liberalen normalerweise als Teufelszeug gelten. Vom Einheitsdenken, das den Neoliberalismus noch vor wenigen Jahren als monolithischen Block erschienen ließ, ist nichts mehr übrig geblieben.
Neben das gemeinsame Bestreben aller Kapitalisten, die Lasten der Krise auf die Arbeiterklasse der Welt abzuwälzen, sind massive Konflikte zwischen den verschiedenen Kapitalfraktionen getreten, insbesondere zwischen Industrie- und Finanzkapital, sowie Spannungen zwischen den Regierungen der kapitalistischen Hauptländer.


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