SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2009, Seite 04

Das Emmely-Urteil ist barbarisch und asozial

Erklärung ehemaliger DDR-Bürgerrechtler

Richter und Anwälte haben Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse dafür kritisiert, dass er das Urteil des Landesarbeitsgerichtes Berlin gegen die Kassiererin Barbara E. als „barbarisches Urteil von asozialer Qualität” bezeichnet hatte. Leider hat Wolfgang Thierse diesem Druck nicht standgehalten und seine treffende Einschätzung inzwischen abgewertet, in dem er „die Schärfe” seiner Wortwahl bedauerte. Doch nicht die Äußerung Wolfgang Thierses, sondern das Emmely-Urteil war eine Ungeheuerlichkeit. Es ist und bleibt barbarisch und asozial!
Im Vordergrund der öffentlichen Debatte steht zumeist die schreiende Unverhältnismäßigkeit des Urteils, durch das eine Kassiererin, die 31 Jahre lang unbeanstandet ihre Arbeit verrichtete wegen zweier Pfandbons im Wert von 1,30 Euro nicht nur eine Beschäftigung und ihr Arbeitseinkommen, sondern auch ihre bisherige Wohnung verlor.
Die Unverhältnismäßigkeit des Urteils gegen Barbara E. ist jedoch nur eine skandalöse Konsequenz eines skandalösen Rechtsinstitutes — die Verdachtskündigung selbst ist Unrechtsjustiz! Mit der Möglichkeit einer Kündigung auf Verdacht hin wird jeder Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen, die Unschuldsvermutung außer Kraft gesetzt und die Umkehr der Beweislast für abhängig Beschäftigte zu Gunsten der Unternehmensleitungen erzwungen.
Begründet wird dieser Unrechtscharakter der Verdachtskündigung mit der Notwendigkeit einer besonderen Schutzwürdigkeit des Vertrauens der Unternehmensleitungen in abhängig Beschäftigte. Doch diese Begründung enthüllt den Kern des Unrechts der Verdachtskündigung: sie ist ein Institut der krassen und offenen Klassenjustiz gegen abhängig Beschäftigte. Oder hat je der Vertrauensverlust von abhängig Beschäftigten in die Ehrlichkeit des Managements gegenüber den Beschäftigten zu dessen Entlassung geführt? Die Verdachtskündigung kennt wegen dieses Unrechtscharakters auch weder Bagatelldelikte, noch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. So ist das Unrechtsurteil gegen Barbara E. auch kein Einzelfall. Immer öfter wird die Verdachtskündigung von Seiten der Unternehmen gegen unbequeme Beschäftigte angewandt, besonders wenn sie sich gegen Zumutungen der Unternehmen wehren oder, wie Barbara E., Streiks organisieren.
Im Angesicht der heutigen Vernichtung von Abermilliarden Euro durch Manager und Kapitaleigner ohne Bestrafung der dafür Verantwortlichen ist das Unrechtsurteil gegen Barbara E. wegen 1,30 Euro besonders empörend. Mehr denn je muss deshalb gelten: Weg mit dem Arbeitsunrecht, Schluss mit jeder Klassenjustiz gegen abhängig Beschäftigte!
Im zwanzigsten Jahr der demokratischen Revolution in der DDR muss aus diesem Grunde daran erinnert werden, dass die Ziele einer radikal demokratischen und sozialen Gesellschaft noch immer aktuell sind, wie wir sie im Herbst 1989 gegen das seinerzeitige Unrecht der SED-Diktatur durchsetzen wollten. In Forderungsprogrammen der Bürgerbewegungen, in den Gesetzentwürfen des Runden Tisches oder seinem Entwurf einer demokratischen Verfassung wurden sie niedergeschrieben. Ihrer gilt es sich wieder zu erinnern, im Angesicht des Unrechts von heute harren sie noch immer ihrer Verwirklichung!

Berlin, den 12.März 2009
Leonore Ansorg, Malte Daniljuk, Hans-Jürgen Fischbeck, Bernd Gehrke, Joachim Hürtgen, Renate Hürtgen, Werner Jahn, Samirah Kenawi, Thomas Klein, Hans und Ruth Misselwitz, Silvia Müller, Uwe Radloff, Wolfgang Rüddenklau, Hans Scherner, Ingeborg und Ulrich Schröter, Erhart Weinholz


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