SoZ - Sozialistische Zeitung |
In Frankreich werden die sozialen Rechte seit einigen Jahren
beschnitten und der öffentliche Dienst zersetzt. Seit Sarkozy im Amt ist, wird die
Gesellschaft jedoch im Eiltempo umgekrempelt.
Alles, worauf die
französische Gesellschaft seit 1945 aufbaute, wird demontiert, vor allem das
solidarbasierte System der Sozialversicherung, das die Schwächeren vor
Existenzunsicherheit schützte — ob im Bereich der Familie, der Gesundheit, der
Rente, bei Arbeit oder Einkommen. Jeden Tag wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben
Nach der Infragestellung der
gesetzlichen Rentenversicherung, geht es nun an die Gesundheitsversorgung. Deren Grundsatz
lautet seit 1945: „Leistung nach den Bedürfnissen, Bezahlung nach dem
Einkommen” Medikamente werden immer weniger erstattet, sie machen nur noch 12% der
Gesamtausgaben im Gesundheitswesen aus. Die Leistungen sinken, es steigen die Karenztage und
die Zuzahlungen. Die Last wird auf den Einzelnen abgewälzt. Niemals wird klar gesagt,
warum es ein Defizit in den Kassen des Gesundheitssystems gibt. Der Staat zahlt seine
Beiträge nicht in vollem Umfang, er leistet nicht seinen Anteil an den Kombilöhnen;
die Geschenke, die er den Unternehmern macht, zahlt er aus den Gehältern und den Renten.
Im Kampf gegen die
Arbeitslosigkeit versucht die Regierung nicht, die Beschäftigung zu fördern und
dauerhafte Arbeitsplätze zu schaffen, sie greift die Arbeitslosen an, die
Arbeitsuchenden. Ihr Kampf gegen die Arbeitslosigkeit besteht in der Manipulation des
statistischen Prozentsatzes der Erwerbslosen und in deren Unterdrückung, um die Quote zu
senken. „Die Regierung nimmt sich nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen
vor."
In Frankreich werden nur die
Arbeitslosen gezählt, die Stütze bekommen, das sind 42% — das heißt fast
60% von ihnen bekommen nichts! Diese Zahl ist der Regierung immer noch zu hoch. Um sie zu
senken, werden die Ansprüche der Arbeitslosen massenhaft zusammengestrichen. Alles kann
als Vorwand dafür dienen, auch eine Verspätung bei einem Termin, sogar wenn die
betroffene Person nicht schuld ist.
Im letzten Gesetzesentwurf,
dem die Nationalversammlung und der Senat zugestimmt haben — er trägt den Titel
„zumutbare Arbeit”, erklärt die Regierung offen ihr Ziel: Sie will die Zahl
der registrierten Arbeitslosen senken. Dabei hat sie besonders qualifizierte Personen mit
höheren Abschlüssen im Visier, also hauptsächlich höhere Angestellte und
viele Jugendliche.
Bei der Eingliederung
vermerken die Arbeitsuchenden ihren Berufswunsch, der möglichst ihrer Qualifikation
entsprechen soll. Doch wird der Berufswunsch nach unten korrigiert, wenn es keine
entsprechende Arbeit gibt; dann werden die Arbeitsuchenden verpflichtet, eine weniger
qualifizierte Arbeit und schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen. Wenn sie zwei Vorschläge
ablehnen, werden sie aus dem Register der ANPE (der Arbeitsvermittlung) gestrichen und
bekommen keine Leistung mehr.
Das ist für jeden, der
Arbeit sucht, schwer, am meisten für diejenigen, die eine geringere Qualifikation haben.
Die Arbeit wird jemandem mit einer höheren Qualifikation angeboten, er wird seinen
beruflichen Ehrgeiz sinken sehen. So wird die Arbeit entqualifiziert. Die ganze Bandbreite der
beruflichen Qualifikation steht auf dem Spiel. Somit sinkt auch der Wert der Ausbildung. Warum
studiert man, wenn man dann eine weniger qualifizierte und schlechter bezahlte Arbeit annimmt?
Das ist entmutigend.
Diese Behandlung des Berufs,
der Qualifikation, kommt einer regelrechten Entwürdigung gleich, einer Verweigerung der
Chance, gute Arbeit zu leisten, Verantwortung zu tragen. Das ist richtig schwerwiegend.
Den Menschen, die über
sinkende Kaufkraft klagen, wird gesagt: „Arbeitet mehr, um mehr zu verdienen.” Das
ist ein beliebter Spruch von Sarkozy. Die Zahl der Arbeitsplätze nimmt jedoch nicht zu,
die Zahl der subventionierten Jobs nimmt ab, die Erwerbsarbeit wird immer stressiger und die
erzwungene Teilzeitarbeit nimmt immer mehr zu. Gleichzeitig wird die 35-Stunden-Woche
zurückgenommen, und die 48-Stunden-Woche steht im Raum. Das Arbeitsgesetzbuch ist
völlig umgeschrieben worden.
Und welche Rolle spielt Europa
in all dem? Das Alltagsleben der Arbeitslosen und Prekären, der „working
poor”, ist so schwer zu bewältigen, dass die meisten nicht sehen, was dieses Europa
ihnen bringen soll, zumal sie gesagt bekommen, es sei Europa, das solches Recht diktiert. Die
Mehrzahl der Bürger glaubt, unsere Regierungen wollen ein nach unten nivelliertes Europa.
Das Gefühl wird noch durch ein anderes verstärkt: Sie fühlen sich als
europäische Bürger zweiter Klasse, denn weder der französische Staat noch die
anderen europäischen Staaten scheinen ihr Anliegen ernst zu nehmen. Das französische
„Nein” wurde nicht gehört — ebensowenig wie das der Niederlande und das
von Irland. Das ist eine Verweigerung von Demokratie.
Für uns, die wir für
ein soziales Europa kämpfen, für ein Europa der Völker, ist es sehr schwierig,
die Arbeitslosen und prekär Beschäftigten davon zu überzeugen, dass ein anderes
Europa möglich ist, weil auch eine andere Welt möglich ist. Vielleicht kann man
etwas ändern, wenn man sich auf örtlicher Ebene organisiert, indem man Widerstand
leistet, die unmenschlichen Maßnahmen entlarvt und solidarisch bleibt.
Wer hätte vorhergesehen,
dass die rumänischen Arbeiter bei Renault/Dacia eine 28%ige Erhöhung ihres Gehalts
erreichen? Man muss daran glauben, dass eine andere Welt möglich ist, man muss es glauben
und wollen, und um es zu wollen, muss man es träumen, es sich vorstellen, um es zu
realisieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns in jedem Land zusammenschließen, und
jedes Land mit den anderen Ländern, damit wir gemeinsam eine andere Zukunft zu schaffen.
Der Kampf der einen kann den anderen helfen. Europa kann nicht ohne seine Bürger
aufgebaut werden. Europa wird es nicht geben, wenn es nicht sozial und demokratisch wird.
Europa wird leben, wenn es sich auf die sozialen Rechten aller Völker Europas
gründet.
Die europäische Dimension
kann für alle europäischen Bürgerinnen und Bürger, die gemeinsam darum
kämpfen, dass der Mensch in den Vordergrund rückt, eine Stärke sein.
Annie Thomas koordiniert die
Arbeitsloseninitiativen in AC! Nord Pas de Calais.
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