SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2009, Seite 11

Der Streik bei

AEG/Electrolux in Nürnberg 2005—07

von Jochen Gester

"Wir bleiben hier. Dafür kämpfen wir!” Akteure berichten über den Arbeitskampf bei AEG/Electrolux in Nürnberg 2005—07, Die Buchmacherei, 293 S., 12 Euro

In den nächsten Monaten werden Dutzende von Betrieben vor Problemen stehen wie denen der AEG-Belegschaft in Nürnberg, die sich von 2005 bis 2007 gegen die Schließung des Werkes durch den Electrolux-Konzern zur Wehr setzte. Die Boomjahre sind vorbei, und der Verlust des Arbeitsplatzes bedeutete schon damals für die meisten Betroffenen den sozialen Absturz. Dies erklärt die Sprengkraft und die Verbissenheit, mit der hier gekämpft wurde.
Der Arbeitskampf überwand damals mühelos die Betriebsgrenzen und versetzte eine ganze Region in Aufruhr. Die üblichen politischen Abgrenzungen und Denkverbote wurden außer Kraft gesetzt. Linksradikale und konservative kleine Geschäftsinhaber fanden sich nebeneinander auf Listen, die zum Boykott der Weißen Ware des Konzerns aufriefen. Eine zentrale Rolle spielte — wie bereits in den vorausgehenden Kämpfen um Werksschließungen — die IG Metall, die hier in einem traditionell gut organisierten Betrieb über Einfluss und Ressourcen verfügte.
Doch waren der Vorstand und das von ihm abhängige Personal nicht bereit, dieses Guthaben voll für das Überleben der Belegschaft in die Waagschale zu werfen. Das verzweifelte Festhalten an einer wirkungslos gewordenen sozialpartnerschaftlichen Orientierung und die Angst vor den unkalkulierbaren Folgen eines nur noch politisch begründbaren Streiks, der sich über die Grenzen des Arbeitskampfrechts hinwegsetzt, führten dazu, dass die IG Metall mehr auf den Bremsen stand, als ein Hebel zu sein, der die Kraft der Lohnabhängigen entfesselt. Wie dies im Einzelnen funktionierte, zeigt das Buch, das von der Redaktion Druckwächter herausgegeben wurde.
Der Name ist Programm. Die Druckwächter, eine Gruppe von AEG-Kollegen und externen Unterstützern, warfen sich mächtig ins Zeug, um Druck auf den Konzern zu machen. Wie die Kolleginnen und Kollegen das gemacht haben, und wie sie es geschafft haben, die Auseinandersetzung über die Grenzen des gewerkschaftlich Vorgesehenen hinaus zu treiben, ist zentraler Gegenstand des Buchinhalts. Erstes sichtbares Ergebnis war der Beginn einer spontanen Arbeitsniederlegung, die sich so konsolidieren konnte, dass die IG Metall zu einer Urabstimmung über einen gewerkschaftlichen Streik für einen Sozialtarifvertrag gezwungen war.
Das Buch besteht zu mehr als der Hälfte aus Interviews. Leserin und Leser können sich so ein eigenes Bild vom Konflikt und seinen Akteuren machen. Eine zentrale Figur des basisorientierten Widerstands war Hans Patzelt, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender von AEG-Kanis. Er konnte Schlüsselerfahrungen in einem elfmonatigen Streik sammeln, bei dem die Belegschaft von AEG-Kanis in den 80er Jahren erfolgreich die schrittweise Abwicklung des Betriebs verhinderte. Der langjährig in der IG Metall aktive Kollege betätigt sich als Grenzgänger und Bindeglied zwischen so unterschiedlichen sozialen und politischen Milieus wie den sozialdemokratisch geprägten deutschen Gewerkschaften und der linksradikalen Szene. Auch nutzte er seine Position wirkungsvoll aus, die Rathausparteien und öffentlichen Gremien im Sinne der AEG-Belegschaft so zu instrumentalisieren, dass der politische Spielraum des Streiks erweitert wurde. Obwohl Patzelt bewusst die Strategie der IG Metall unterlief, hält er eine Debatte mit den dort Verantwortlichen immer noch für eine lohnende Aufgabe.
Des Weiteren kommen organisierte Erwerbslose zu Wort, die gewerkschaftliche Verwurzelung mit dem Geist der sozialen Bewegung kombinieren, und Mitglieder des Nürnberger Sozialforums, die vor allem eine erfolgreiche Boykottkampagne ins Leben riefen, die Electrolux einen Einbruch der Bestellungen um 25% brachte. Sehr interessant ist auch das Interview mit Aktivisten der Organisierten Autonomie, eine Organisation der Interventionistischen Linken, die in Nürnberg eine mobilisierungsfähige Kraft ist. Ihre Reflexionen über die politische Praxis linksradikaler Organisationen verdienen diskutiert zu werden. Das trifft auch auf ihre Position zu den Gewerkschaften zu, die sich wohltuend von den oft sehr schlichten Verratsdiskussionen abheben.
Dass jedoch die Praxis des IGM-Apparats in diesem Konflikt durchaus mit diesem Etikett belegt werden kann, wird an den Interviews mehrerer Kollegen deutlich. Übereinstimmend berichten sie von ihren Beobachtungen darüber, wie die Belegschaft getäuscht und instrumentalisiert wurde, einem Sozialplan zuzustimmen. Ob sie ihn allerdings ohne diese Einflussnahme der IGM deutlich abgelehnt hätte, ist allerdings fraglich. Den verantwortlichen IG-Metall- Funktionären reichte die Zustimmung von 81%. Von einer offenen und ehrlichen Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Politik, die auch nicht vor einer chauvinistischen Aufladung des Konflikts mit Parolen wie „AEG ist Deutschland” zurückschreckte, ist nichts bekannt. Eine vom IG-Metall-Bezirk Bayern hergestellte Broschüre „Der AEG-Streik in Nürnberg” feiert im Stil schlechten Marketings den eigenen Erfolg und lässt Bertold Huber im Vorwort erklären, für einen Sozialplan zu streiken sei kein Zukunftsmodell. Dabei denkt er aber nicht an den Übergang zu einer offenen politischen Auseinandersetzung mit dem repressiven deutschen Arbeitsrecht, sondern daran, wie sich das Risiko solcher Arbeitskämpfe überhaupt vermeiden lässt.
Breiten Raum nimmt am Schluss ein Workshop ein, bei dem auf den Pfaden von Clausewitz versucht wird, eine alternative Strategie zu entwickeln, mit der es in Zukunft vielleicht möglich sein könnte, den Gegner in die Knie zu zwingen. Neben der zweifellos richtigen Beobachtung, dass eine erfolgreiche betriebliche Arbeit einen Vorlauf von Jahren hat und einen weiten Blick auch auf die außerbetrieblichen Kampfressourcen haben muss, landen die teilnehmenden Akteure jedoch auch bei sehr zweifelhaften Konzepten. So sieht sich die Mehrheit in der Rolle des Generalstabs, der aus der Befürchtung heraus, „Agenten des Feindes” könnten in eine eigenständige Streikleitung gewählt werden, dagegen ist, diese offen durch die Belegschaft wählen zu lassen. Hier vollzieht sich dann unter der Hand der Übergang zu Konzepten, die so ziemlich auf das Gegenteil von dem hinauslaufen, was dem ganzen Buch seinen sympathischen Stempel aufdrückt: die Vorstellung, dass die Menschen selber über ihr Schicksal entscheiden und sich selber in Bewegung setzen müssen.


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