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Der Widerstand gegen die US-Raketenbasis ist die erste,
möglicherweise erfolgreiche, Volksbewegung in Tschechien seit der Wende.
Nicht heimische, tschechische
Quellen starteten die Lawine. Erst als Ende Mai 2006 die New York Times kurz erwähnte,
das US-Verteidigungsministerium erwäge, in der Tschechischen Republik und in Polen eine
Raketenbasis zu bauen, fand die Nachricht ihren Weg in die tschechischen Medien. Die
meistgelesene Tageszeitung, Mladá fronta Dnes, berichtete Ende Juni, binnen weniger
Wochen sollte entschieden werden, ob der Stützpunkt gebaut wird oder nicht.
Erst nach und nach bekam die
Öffentlichkeit die Vorgeschichte mit. Im Januar 2007 sprach das Informationsbulletin des
tschechischen Verteidigungsministeriums davon, dass erste amerikanisch-tschechische Beratungen
schon im Juli 2002 begonnen hatten.
Zwei Monate später hatte
der tschechische Verteidigungsminister Tvrdík (ein Sozialdemokrat) in Washington geweilt.
Er hatte Verständnis für das Vorgehen der USA geäußert und gesagt, sein
Land erwäge einen Einstieg in das Projekt. Entscheiden müssten jedoch laut
Verfassung die gewählten Volksvertreter.
Eine weitere Konsultation
einer tschechischen Militärdelegation mit amerikanischen Vertretern fand im November 2004
in Washington statt. Danach war über ein Jahr lang Pause. Die Beratungen wurden erst im
Februar 2006 wieder aufgenommen. Man verhandelte über die Besichtigung der angebotenen
Orte, sie fand Ende Juli 2006 statt.
Einen Tag nach der
Besichtigung nahm die tschechische Regierung eine Information des Außenministeriums zur
Kenntnis und beauftragte es, einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen zu unterbreiten. Mitte
August 2006 reiste eine tschechische Delegation von Vertretern des Außen- und des
Verteidigungsministeriums nach Washington. Man beriet dort über das vorläufige
Ergebnis der Expertenbesichtigung sowie über politische, technische und rechtliche
Aspekte der Errichtung einer amerikanischen Raketenbasis in der Tschechischen Republik.
Zwei Punkte sind bei diesen Zeitangaben bemerkenswert: Erstens: alle Verhandlungen wurden
von sozialdemokratischen Regierungen geführt. Erst ab Sommer 2006 begann die Partei in
dieser Frage zu schwanken — zum Teil wohl auch deshalb, weil einer innerparteilichen
Umfrage zufolge die Mehrheit der Mitglieder gegen die Basis war.
Zweitens: keine Regierung,
weder die sozialdemokratischen noch die seit August 2006 bis heute amtierende bürgerliche
Koalitionsregierung (bestehend aus der rechtsliberalen ODS, den Christdemokraten und den
Grünen), dachte je daran, die Öffentlichkeit über diese wichtige und auch
sensible Frage rechtzeitig und gründlich zu informieren.
Die Öffentlichkeit konnte
das US-amerikanische Anliegen erst nach den Parlamentswahlen vom 2. und 3.Juni 2006 zur
Kenntnis nehmen. Im Wahlkampf wurde es von keiner einzigen Partei auch nur erwähnt. Dabei
erklärte Mirek Topolánek, der Vorsitzende der ODS und designierte
Ministerpräsident, gleich nach den Wahlen: „Persönlich sage ich Ja zur
amerikanischen Basis, weil sie eine Stärkung unseres Bündnisses im Rahmen der NATO
bedeuten würde. Darüber hinaus ist es auch vom Standpunkt der Sicherheit eine
wichtige Angelegenheit."
Der Vorsitzende der
Sozialdemokraten, Jirí Paroubek, damals noch amtierender Regierungschef,
äußerte sich zurückhaltend: „Militärbasen sind ein großer
Eingriff in die Psyche des Landes, in seine innere Kompaktheit.” Zugleich behauptete er,
die Basis könnte Tausende von neuen Arbeitsplätzen schaffen — ein Argument,
das sich dann als sehr zweifelhaft erwies.
Ein Großteil der Öffentlichkeit sah die Frage von Anfang an anders. Gegen die
etablierte Politik bildete sich nach und nach eine klare Mehrheit in der Bevölkerung
gegen die Raketenbasis heraus — im Dezember vorigen Jahres stieg sie auf 65%. Doch diese
Mehrheit fand keinen Niederschlag im Parlament: Die Koalitionsparteien hatten im Parlament
zwar keine Mehrheit, waren jedoch stark genug, um Initiativen gegen die Basis abzulehnen.
Die stärkste
Oppositionspartei, die Sozialdemokraten, schwenkte allmählich auf eine völlig
ablehnende Haltung ein, aber erst, seit sie sich in der Opposition befand. Zudem liefen drei
Sozialdemokraten in dieser Frage zur Regierung über, so dass dieser nun die
parlamentarische Mehrheit sicher war. Nur die Kommunistische Partei (KSCM) war von Anfang an
entschieden gegen eine US-amerikanische Militärpräsenz.
Schon die ersten Nachrichten
über die Möglichkeit US-amerikanischer Raketenbasen riefen bei vielen Menschen
heftigen Widerstand hervor. Fast gleichzeitig entstanden zwei Protestbewegungen: Der
(inzwischen verbotene) Kommunistische Jugendverband (KSM) begann, Unterschriften für ein
Nein zu den Basen zu sammeln, zugleich wurde eine breite, an keine politische Partei gebundene
Bewegung ins Leben gerufen.
Obwohl beide Gruppen dasselbe
Ziel hatten, war ihr Weg verschieden. Die Jungkommunisten wollten ganz allgemein
Proteststimmen sammeln. Die neue Bewegung, die sich bald den Namen Initiative NEIN zu den
Basen gab (www.nezakladnam.cz), hatte ein klareres Ziel: Sie wollte die Abgeordnetenkammer
bewegen, per Gesetz eine Volksbefragung zu ermöglichen. Sie war sich einer Mehrheit
für die Ablehnung sicher.
Die tschechische Verfassung
erlaubt Volksabstimmungen zwar, doch bislang gibt es kein ausführendes Gesetz — das
haben die rechten Parteien bis heute verhindert.
Die Initiative nahm ihre
Tätigkeit im Juli 2006 auf. Schon auf der Gründungsversammlung zeigte sich ihre
Breite: Neben Einzelpersonen kamen Vertreter verschiedenster Organisationen und Gruppen, von
der Friedensbewegung bis zu (vereinzelten) Grünen, von der kleinen Humanistenpartei, die
ihre Räume und ihren technischen Apparat zur Verfügung stellte, bis zur
Frauenpartei. Überwiegend engagierte sich die junge Generation, Männer waren
stärker vertreten als Frauen.
Ursprünglich wollten die
Amerikaner eine Entscheidung im September 2006, doch das erwies sich bald als illusorisch. Die
Initiative begann mit der Verfassung einer Petition, unter die sie Unterschriften sammelte.
Ihre Argumente waren einfach und einleuchtend:
Es gibt keinen Grund einen
Raketenschirm zu bauen, denn weder der Iran noch Nordkorea haben ein Interesse, Europa oder
die USA (und schon gar nicht die Tschechische Republik) anzugreifen — der Gegenschlag
würde den Angreifer vernichten.
— Die vorgeschlagene
amerikanische Raketenabwehr ist ohnehin ein noch unbewährtes System.
— Der Bau der Basis
bringt für die Tschechische Republik keine nennenswerten wirtschaftlichen Vorteile, denn
die meisten Arbeiten werden von US-amerikanischen Firmen durchgeführt.
— Potenziell kann die
Sicherheit des Landes gefährdet werden, weil die Basis es zu einem Teil der
amerikanischen Außenpolitik macht.
— Wie immer es auch sei,
die Frage einer fremden Militärbasis auf dem Territorium der Republik ist zu wichtig, als
dass nur das Parlament darüber entscheidet — es sind die Bürgerinnen und
Bürger, die entscheiden müssen.
Bis Ende Januar 2009 sammelte
die Initiative rund 140000 Unterschriften, die sie dem Petitionsausschuss der
Abgeordnetenkammer übergab. Sie versuchte, mit Versammlungen, Protestmärschen,
Happenings und Auftritten an die Öffentlichkeit zu dringen — denn die Medien, die
öffentlich-rechtlichen inbegriffen — haben mit wenigen Ausnahmen die
Regierungspolitik mitgetragen und über die Proteste gegen die Basis falsch oder
überhaupt nicht berichtet.
Am 7.August 2006 versammelten
sich einige Dutzend Aktivisten vor dem Gebäude des Tschechischen Fernsehens und
versuchten, dem Generaldirektor eine symbolische Rakete zu übergeben. Der Auftritt wurde
auf Video aufgenommen und von anderen Fernsehkanälen ausgestrahlt. Eine Woche später
wurde im Prager Stadtzentrum ein „Raketenmarsch” veranstaltet. Vom Wenzelsplatz
zum Friedensplatz — welche Ironie! — nahmen etwa 1000 Menschen daran teil. In den
folgenden Monaten und Jahren wurden diese Protestversammlungen in Prag fast zum Teil des
städtischen Lebens.
Allerdings beschränkten
sich die Aktivitäten bei weitem nicht auf Prag. Als bekannt wurde, die US-amerikanischen
Experten hätten im Militärbezirk Brdy einen geeigneten Ort für die Basis
gefunden, gab es in den umliegenden Dörfern fast einen Aufstand. Das Hügelland von
Brdy, keine 50 Kilometer südwestlich von Prag, ist eine Art Übungsplatz, der
zwischen 1968 und 1990 nicht nur von der tschechoslowakischen, sondern auch von der
sowjetischen Armee genutzt wurde. Schon deshalb wollten die Bewohner keine Erfahrungen mit
Militärs mehr machen.
Der Bürgermeister im
Städtchen Trokavec, Jan Neoral, hatte sogar den kühnen Einfall, ein örtliches
Referendum abzuhalten. Zwar ist so etwas für die Regierung nicht bindend, doch als
Ausdruck des Volkswillens ist es ziemlich bedeutungsvoll. Von den 72 Wahlberechtigten sprachen
sich 71 gegen die Basis aus. Diesem Beispiel folgend gab es danach Volksabstimmungen in
mehreren anderen umliegenden Orten — ohne Ausnahme immer mit einer
überwältigenden Mehrheit gegen die Basis.
Der Bürgermeister von
Trokavec wurde zu einer Berühmtheit, denn seine Überzeugung vertrat er nicht nur auf
Versammlungen in Prag, sondern auch auf verschiedenen internationalen Treffen, u.a. vor dem
Europäischen Parlament in Brüssel, das im Februar eine öffentliche
Anhörung dazu durchführte.
Nach langwierigen Verhandlungen wurde der erste Vertrag am 19.September 2008 von den
Verteidigungsministern der USA und der Tschechischen Republik paraphiert. Der tschechische
Senat billigte ihn am 27.November 2008. Wann ihn die Abgeordnetenkammer beraten wird, ist noch
ungewiss.
Skeptiker könnten
behaupten, die Mühen der Initiative Nein zu den Basen hatten keinen Erfolg, denn das
gewünschte Gesetz über ein Referendum wurde im Parlament nicht verhandelt. Die
Verzögerung und Verschiebung der abgeschlossenen Verträge — auf den
St.Nimmerleinstag, wie es im Moment scheint — sei mehr der politischen Wende in den USA
zuzuschreiben als der politischen Entwicklung in der Tschechischen Republik. Es steht immer
noch nicht fest, ob die Raketenbasis letztendlich gebaut wird oder nicht.
Optimisten und Gegner der
Basis sind hingegen der Meinung, dass ohne den Druck der Öffentlichkeit und die Aktionen
der Initiative die Sozialdemokraten sich kaum so deutlich gegen die Basis gestellt
hätten.
Im Moment scheinen die
Amerikaner die Raketenbasis nur als eine Trumpfkarte in ihren Verhandlungen mit Russland
auszuspielen. Wenn der tschechische Ministerpräsident kleinlaut bemerkt, Tschechien habe
den Vertrag paraphiert, antwortet Hillary Clinton, Tschechien werde auf andere Weise
kompensiert werden. Man könnte annehmen, die Bewegung gegen die Basis sei einem Sieg
ziemlich nah.
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