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In den französischen „Überseebezirken” (Départements
doutre-mer, DOM) herrscht seit Wochen sozialer Aufruhr. Den Anfang machte die Karibikinsel Guadeloupe mit
einem Generalstreik, der vom 20.Januar bis zum 5.März dauerte. Die französische Staatsanwaltschaft
will nun am „Rädelsführer” des „Kollektivs gegen Ausbeutung” (LKP) Rache
nehmen.
Liannay kont pwofitasyon heißt auf
Kreolisch „Zusammen gegen Ausbeutung” Dem Kollektiv gehören 49 Organisationen an, darunter alle
Gewerkschaften auf der Insel. Es konnte durch den Generalstreik seine Ziele weitgehend erreichen. Allerdings
steht noch ein zäher Kampf in den einzelnen Betrieben um die Durchsetzung des Abkommens bevor, das am Abend
des 4.März unterzeichnet wurde; nicht alle Arbeitgeber wollen es anerkennen.
Auf der Insel La Martinique, die ebenfalls zu
den französischen Antillen (Karibikinseln) gehört, fing der Generalstreik etwas später an, am
5.Februar, und ging in der Nacht vom 10. zum 11.März mit einem Abkommen zu Ende, das eine Anhebung aller
niedrigen Löhne vorsieht. Auch hier konnten die Forderungen der Protestbewegung im Wesentlichen
erfüllt werden.
Am selben Tag, als Guadeloupe zur Ruhe kam, ging
der Streik, auf La Réunion im Indischen Ozean los, einem weiteren französischen
„Überseebezirk” (die Insel liegt zwischen Madagaskar und Mauritius). Am 5. und 10.März
fanden erstmals generalstreiksähnliche Arbeitsniederlegungen statt. Am 11.März — nach einer
Nacht heftiger Unruhen, in der mutmaßlich 20 Polizisten verletzt und mit scharfer Munition auf einen
Gendarmen geschossen wurde — wurden in einem „sozialen Brennpunkt” der Hauptstadt Saint-Denis-
La-Réunion Verhandlungen über die Anhebung der Löhne und Senkung der Preise aufgenommen.
In allen drei Fällen wechselten sich Phasen
breiter sozialer Mobilisierung und — gemessen an der Einwohnerzahl — riesigen Demonstrationen mit
Phasen militanter Auseinandersetzungen ab. Vom 16.Februar an wurden auf Guadeloupe Barrikaden errichtet,
Straßen abgesperrt, jugendliche „Aufrührer” schossen mit scharfer Munition. Nach dem Tod
eines 48-jährigen Gewerkschafters — Jacques Bino, den wahrscheinlich junge
„Hitzköpfe” irrtümlich für einen Zivilpolizisten gehalten haben — in der Nacht
zum 18.Februar, kühlte sich die Lage zeitweilig wieder ab.
Heftige Zusammenstöße zwischen Polizei
und „Aufrührern” gab es am 6.März auch auf La Martinique — hier laufen soziale
Konflikte normalerweise „moderater” ab als auf Guadeloupe, wo radikalere politische Traditionen
bestehen. Und auf La Réunion erschütterten Riots bereits in der ersten Woche nach der Ausrufung des
Generalstreiks das Quartier Le Chaudron (Der Kessel), ein Armenviertel der Inselhauptstadt.
Das Aufflammen von Gewalt war jeweils eine Reaktion auf eine „blockierte Situation": Die
Verhandlungen schienen festgefahren und die Staatsmacht zu keinen substanziellen Zugeständnissen bereit.
Auf La Martinique stellten die Unruhen und Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht zudem eine Reaktion auf eine
Provokation der „Béké” dar, das ist die Gutsbesitzerkaste, Nachfahrin der früheren
weißen Sklavenhalter, in deren Händen wesentliche Teile der Inselökonomie liegen. Deren Vertreter
hatten an jenem Freitag zu einer Kundgebung gegen die Streikenden aufgerufen, was viel böses Blut
hervorgerufen und selbst die französische Zentralregierung nicht begeistert hat. Der neue Chef der
Regierungspartei UMP und frühere Pariser Sozialminister, Xavier Bertrand, bezeichnete es in einer ersten
Stellungnahme dennoch als skandalös, dass man „das Demonstrationsrecht” dieser elitären
Kaste „nicht respektiere”
In Wirklichkeit ist die politische Klasse in
Paris jedoch gespalten: Der französische Staatssekretär für Überseeangelegenheiten, Yves
Jégo, hält die politische Linie der ultrareaktionären Béké-Kreise für nicht
durchsetzbar und zeigte sich in seinen öffentlichen Stellungnahmen entsetzt von einem „archaischen
Unternehmertum” — einem nicht zeitgemäß auftretenden Arbeitgeberlager. Aus seiner Sicht
kann der französische Zentralstaat es nicht einfach unterstützen.
Dagegen setzte ein anderer Teil des
Regierungslagers zeitweise auf eine repressive „Lösung” bzw. darauf, dass der Ausstand auf den
Inseln sich entweder im Laufe der Wochen „totlaufen” oder aber in Gewalt umschlagen würde
— letzteres hätte erlaubt, die Protestierenden zu isolieren oder niederzuschlagen. Diese Position
scheint wochenlang auch die von Staaspräsident Nicolas Sarkozy gewesen zu sein; am Ende aber schwenkte die
Regierung doch noch auf eine moderate Linie ein.
Ein sehr schlechtes Zeichen ist allerdings, dass die Staatsanwaltschaft der Inselhauptstadt von Guadeloupe,
Pointe-à-Pitre, am 6./7.März ein Strafverfahren gegen den (schwarzen) Sprecher des Kollektivs LKP,
Elie Domota, einleitete. Dem 42-Jährigen wird „Aufstachelung zum Rassenhass” vorgeworfen
— so lautet das Delikt im französischen Strafgesetzbuch; es ist vergleichbar dem deutschen
Volksverhetzungsparagrafen. Rassenhass gegen Weiße.
Was hat er verbrochen? Elie Domota hat
Arbeitgebern, die nicht bereit sind, das Abkommen vom 4.März umzusetzen, damit gedroht, sie der Insel zu
verweisen: „Wir werden nicht zulassen, dass eine Bande von Béké wieder die Sklaverei
einführen möchte.” Dies wurde als Rassenhatz gegen Weiße ausgelegt. In Wirklichkeit
bezeichnet der Begriff „Béké” aber nicht eine Hautfarbe, sondern die Zugehörigkeit zu
einer definierten sozialen Gruppe. Ein Eintrag im französischen Wikipedia erklärt, als Béké
bezeichne man auf den französischen Antillen „die Nachfahren der frühen, Sklaven haltenden
Siedler” Im Übrigen auch nicht alle ihre Nachfahren. Denn wer in diesen Kreisen eine
„Mischehe” mit Dunkelhäutigen eingeht, wird — auch heute noch — aus seiner Klasse
oder Kaste verbannt und ausgeschlossen. (Die Staatsanwaltschaften in Frankreich sind an die Weisungen des
Justizministeriums gebunden, nicht jedoch die Richter, somit ist klar, dass die politischen Machthaber in Point-
à-Pitre und in Paris das Ermittlungsverfahren unterstützen.)
Das LKP, das die Tageszeitung Libération
vor kurzem als „unidentifiziertes politisches Objekt” bezeichnete, setzt sich aus einem Geflecht von
Gewerkschaften, kulturellen Vereinigungen (etwa karibikfranzösischen Karnevalsgruppen), Stadtteilgruppen
und ähnlichen Initiativen zusammen. Insgesamt 49 an der Zahl — es hätten auch an die 100 werden
können, aber die Leiter des Kollektivs zogen es vor, die Breite nicht zu weit auszudehnen, um eine gewisse
Homogenität bei den Forderungen und im Vorgehen zu wahren.
Unterdessen formierte sich auch auf La
Martinique eine ähnliche, nicht ganz so breite, Allianz unter der Führung der örtlichen
Gewerkschaften: das „Kollektiv vom 5.Februar"; es organisierte den Ausstand, der an jenem Tag begann.
Und auch auf La Réunion führt nun ein ähnliches Bündnis aus gewerkschaftlichen, sozialen und
„zivilgesellschaftlichen” Kräften den Ausstand seit den beiden Generalstreiktagen vom 5. und
10.März an.
Die zentrale Forderung auf den Antillen war die Anhebung aller Niedriglöhne um 200 Euro, flankiert von
der nach Senkung vieler Preise — die werden in der Regel vom Präfekten (dem juristischen Vertreter
des Zentralstaats) festgelegt. Hinzu kamen spezifische Forderungen wie die nach einem Entschädigungs- und
Entgiftungsprogramm für die Opfer der Pestizide, die in früheren Jahrzehnten auf den monokulturellen
Bananenplantagen der Großgrundbesitzer eingesetzt wurden.
Das Abkommen, das in der Nacht vom 4. zum
5.März auf Guadeloupe unterzeichnet wurde, beinhaltet, dass die Arbeitgeber 50 Euro aus eigener Tasche auf
die niedrigen Löhne drauflegen (Niedriglöhne sind Löhne unterhalb von 1400 Euro netto, dem
1,4fachen des gesetzlichen Mindestlohns SMIC); dazu nochmals 50 Euro, die ihnen der Staat durch Senkung von
Steuern oder Sozialabgaben erlässt. Weitere 80 Euro würden als Sonderprämie aus staatlichen
Mitteln bezahlt, die allen unteren Lohngruppen bis zum 1,4fachen SMIC — freilich gestaffelt — zugute
kommen soll. Dadurch würden die Lohn- und Gehaltsempfänger zumindest zeitweise 180 Euro pro Monat mehr
in der Tasche haben (was annähernd an die 200 Euro-Forderung herankäme). Finanziert würde die
Forderung jedoch aus unterschiedlichen Quellen.
Zudem wurden verschiedene Preissenkungen
garantiert, außerdem ein Kontingent vergünstigter Flugtickets zwischen Guadeloupe und
Festlandfrankreich zu 340 Euro — denn auch die überhöhten Flugpreise der einzigen die Route
befliegenden Luftfahrtgesellschaft waren kritisiert worden. Nicht zuletzt wurde jungen Inselbewohnern mit
Hochschulabschluss eine bevorzugte Einstellung im öffentlichen Dienst zugesichert, um zu verhindern, dass
diese Arbeitsplätze immer wieder europäischen Franzosen aus der Metropole zufallen, während die
Arbeitslosigkeit auf den Inseln horrend hoch bleibt (derzeit beträgt sie laut offizieller Statistik auf
Guadeloupe 23,5%).
Ein ähnliches Abkommen wurde auf La
Martinique erstritten. Dort hatte die örtliche Führung der Gewerkschaft CGT — die auf La
Martinique der trotzkistischen Partei Lutte Ouvrière (LO) nahe steht — nochmals nachgelegt und eine
Erhöhung um 250 statt 200 Euro gefordert, war damit damit jedoch gescheitert. Neben der Anhebung der
unteren Löhne um 200 Euro sollen auf La Martinique zudem alle Löhne, die zwischen dem 1,4- und dem
1,6fachen SMIC liegen um 4% angehoben werden. Die Löhne knapp oberhalb von 1,6 SMIC werden um 2% angehoben.
Die entscheidende Frage wird sein, welche
Unternehmen das jeweilige Abkommen respektieren. Bislang zeichnet sich ab, dass viele kleine, selbst von den
Inseln stammenden Arbeitgeber bereit sind, es umzusetzen — während vor allem die Großunternehmen
in den Händen von Béké oder Europäern dies zu verweigern scheinen.
Das LKP hat angekündigt, durch die
einzelnen Betriebe zu ziehen und dort massiven sozialen Druck für die Umsetzung des Abkommens
auszuüben. Die damit verbundene Drohung von LKP-Sprecher Elie Domata, Unternehmer, die dazu dauerhaft nicht
bereit seien, hätten keinen Platz auf der Insel, wurde nun zum Anlass genommen, um ein Ermittlungsverfahren
gegen ihn einzuleiten. Ein Teil der regierenden Rechten möchte ganz offenkundig Rache nehmen an einer sehr
erfolgreichen sozialen Bewegung.
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